Projekat Rastko - Luzica / Project Rastko - Lusatia  

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Ludwig Elle

Territorium, Bevölkerung, demografische Prozesse im deutsch-sorbischen Gebiet

Das Siedlungsgebiet der Sorben liegt im Osten Sachsens und im Süden Brandenburgs. Es bildet keine besondere administrative Einheit, jedoch sind in den Sorbengesetzen Brandenburgs und Sachsens die zum deutsch-sorbischen Territorium gehörenden Gemeinden bzw. Verwaltungsgebiete näher bezeichnet. Geographisch wird die deutsch-sorbische Lausitz im Süden durch das Lausitzer Bergland (höchste Erhebung Èornobóh mit 552 m) und im Norden durch den Spreewald begrenzt. Östlich reicht es teilweise bis an das westliche Neiße–Ufer (bei Weißwasser und Forst), als natürliche westliche geographische Grenzlinie können in der Oberlausitz die Schwarze Elster bis nördlich Hoyerswerda und in der Niederlausitz die Spree angesehen werden. Bis auf den Nordrand des Lausitzer Berglandes ist das Gebiet der deutsch-sorbischen Lausitz Tiefland und weist nur wenige natürliche Erhebungen auf. Der wichtigste Fluss ist die Spree, die die gesamte Lausitz durchquert, sich im Spreewald in Hunderte Ausläufer aufsplittet und sich vor Berlin wieder zu einem Flusslauf vereinigt.

Die Wirtschaftsstruktur der Oberlausitz ist gemischt, unter anderem existieren verschiedene Zweige des Maschinenbaus (Waggonbau, Landmaschinen, Papierverarbeitungsmaschinen, Telekommunikationstechnik). In der mittleren Lausitz und in der Niederlausitz dominieren Braunkohlegewinnung, Elektroenergieerzeugung, Glas- und Textilindustrie sowie spezielle Zweige des Maschinenbaus. Hier ist infolge der extensiven Wirtschaftspolitik der DDR eine einseitige, modernen marktwirtschaftlichen Erfordernissen nur bedingt entsprechende Wirtschaftsstruktur entstanden. Vor allem dies trug dazu bei, dass vor allem der sächsische Teil der Lausitz zu den Regionen in der Bundesrepublik Deutschland mit der höchsten Arbeitslosigkeit gehört. Die Landwirtschaft ist leistungsfähig und zeigt infolge der weitgehend aus der Zeit vor 1989 übernommenen Strukturen einen hohen Konzentrationsgrad (überwiegend in Form von Agrar-GmbH und Agrargenossenschaften) mit mehreren 1000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche und einer differenzierten Produktpalette, teilweise einschließlich der Verarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten. Der Anteil an wiederbegründeten bäuerlichen Einzelbetrieben ist relativ gering, im deutsch-sorbischen Kreis Bautzen bewirtschaften beispielsweise nur etwa ein Fünftel der Landwirtschaftsbetriebe eine landwirtschaftlicher Nutzfläche von weniger als 300 ha. In einigen Gebieten der deutsch-sorbischen Lausitz spielt auch die Binnenfischerei eine gewisse ökonomische Rolle.

Wichtigste Verkehrslinien sind die Bundesstraße 96, die das deutsch-sorbische Gebiet von Großpostwitz bis nördlich Hoyerswerda durchquert, die Bundesstraße 97 von Hoyerswerda bis Guben sowie die Bundesstraße 156, die von Bautzen über Weißwasser bis westlich Sprembergs führt. An regional bedeutsamen Eisenbahnlinien bestehen nur die Verbindungswege von Bautzen nach Hoyerswerda und Cottbus, Cottbus-Lübben-Berlin sowie von Cottbus nach Weißwasser. Die das deutsch-sorbische Gebiet in west-östlicher Richtung durchquerenden Bundesautobahnen A15 (von Lübbenau über Cottbus und Forst an die Grenze zur Republik Polen) und A 4 (Dresden-Bautzen - Görlitz/Grenze zur Republik Polen) haben vor allem überregionalen Charakter. Gleiches gilt für die Eisenbahnlinien Dresden-Bautzen-Görlitz(-Wroc³aw), Ruhland-Hoyerswerda-Görlitz und Calau-Cottbus-Forst. Touristische Zentren von gewisser Bedeutung sind im deutsch-sorbischen Gebiet lediglich die Stadt Bautzen und ihr Umland sowie der Spreewald in der Niederlausitz.

Seit 1989 ist die Wirtschaft der deutsch-sorbischen Lausitz einschneidenden Veränderungen unterworfen, deren Auswirkungen bis zur Gegenwart noch nicht voll erfasst werden können. Traditionelle wirtschaftliche Strukturen zerbrechen, ohne dass in jedem Falle bereits Alternativen entstanden sind. Diese Entwicklung ist mit einer hohen Arbeitslosigkeit verbunden. Zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung sind direkt oder indirekt davon betroffen. Während die Städte Bautzen und Cottbus sich als regionale kulturelle und politische Zentren profilieren (Cottbus ist seit Anfang der 90er Jahre Universitätsstadt), ist vor allem die soziokulturelle Infrastruktur der Stadt Hoyerswerda im Verhältnis zur hohen Einwohnerzahl und zum Status als Stadtkreis völlig unzureichend. Dies führte in den vergangenen Jahren zu erheblichen Abwanderungsverlusten.

Es hat in den letzten ca. 200 Jahren unter den verschiedenen politischen Machtstrukturen keine eigenständigen administrativen Einheiten für die sorbische Region gegeben. Lediglich in der Feudalperiode wurden die ethnischen Besonderheiten der sorbischen Landbevölkerung in der Verwaltungsgliederung in gewisser Weise berücksichtigt. Der sorbische Historiker Frido Mìtšk stellte hierzu fest, dass „sich in mindestens 16 deutschen Feudalterritorien gesonderte Verwaltungs- bzw. Gerichtsinstitutionen der sorbischen bäuerlichen Untertanen ermitteln" ließen. Diese verfielen jedoch vor allem im Zusammenhang mit germanisatorischen Maßnahmen. Die voranschreitende Assimilation und Germanisierung hatte zudem zur Folge, dass sich das Territorium mit sorbischsprachiger Bevölkerung stetig verkleinerte. Im zweisprachigen Gebiet verschoben sich die Bevölkerungsanteile ständig zugunsten der Deutschen. Während dies bis Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Randlagen des deutsch-sorbischen Gebietes, in den Städten und im städtischen Umfeld erfolgte, ging mit der Entstehung von Industriebetrieben im ländlichen Raum, der Erschließung von Verkehrswegen (vor allem Eisenbahnlinien) sowie der Braunkohle- und Energieproduktion eine rasche ethnosoziale Umschichtung von Teilen der vorwiegend bäuerlichen sorbischen Landbevölkerung einher. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten tiefgreifende Verschiebungen der Bevölkerungsstrukturen auch im Ergebnis der Ansiedlung von Deutschen aus den vormals zum Reich gehörenden Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze und aus Böhmen. Dies hatte zur Folge, dass trotz großer Kriegsverluste – die Lausitzen waren noch in den letzten Kriegstagen von schweren Kampfhandlungen betroffen – die Einwohnerzahlen in den Regionen nach 1945 überdurchschnittlich hoch waren, das Verhältnis von einheimischer sorbischer und deutscher Bevölkerung sich jedoch weiter zuungunsten des sorbischen Anteils verschob.

In den darauffolgenden 40 Jahren setzte sich dieser Prozess fort, nun bedingt vor allem durch die Ansiedlung von Arbeitskräften für den extensiven Ausbau der Braunkohle– und Energiewirtschaft und die hohe Mobilität der Bevölkerung aus beruflichen Gründen und in der Zeit der Ausbildung bzw. des Studiums. Vor allem die Einwohnerzahlen der Städte Hoyerswerda, Cottbus, Weißwasser und Spremberg nahmen zwischen 1955 und 1985 erheblich zu. Die Zahl der Bewohner von Cottbus und Weißwasser verdoppelte sich, die von Hoyerswerda verzehnfachte sich. Nach 1990 setzte im Zuge der Transformationsprozesse eine wirtschaftliche Neustrukturierung der Lausitz ein, die noch nicht abgeschlossen ist. Sie ist wiederum mit einer hohen Bevölkerungsdynamik und mit weiteren einschneidenden Veränderungen in den demographischen Gegebenheiten verbunden, diesmal vor allem ausgelöst durch die Abwanderung junger Menschen aus den strukturschwachen Gegenden. Auch dies beeinträchtigt die Reproduktionsbedingungen für die sorbische ethnische Gemeinschaft.

Abb. 1: Entwicklung der sorbischen Bevölkerung von 1858 bis 1999

Seit dem Wegfall der spezifischen sorbischen Verwaltungs- und Gerichtsinstitutionen in den Feudalherrschaften stimmten die Grenzen des sorbischen Sprach- und Kulturgebietes nicht mehr mit den administrativen Grenzen überein. Während die Niederlausitz und die nördliche Oberlausitz seit dem Wiener Kongress von 1815 den preußischen Provinzen Brandenburg bzw. Schlesien zugeordnet waren, verblieb der südliche Teil der Oberlausitz weiterhin beim Königreich Sachsen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die Mittellausitz mit den Kreisen Weißwasser und Hoyerswerda zunächst zum Land Sachsen. 1952, nach der Bildung von Bezirken in der DDR, wurde sie dem Bezirk Cottbus zugeordnet, dem auch die niederlausitzischen Kreise Cottbus-Land und Cottbus-Stadt, Lübben, Spremberg, Forst und Guben mit ihren sorbischen Bevölkerungsanteilen angehörten. Im ehemaligen Bezirk Dresden umfasste das deutsch-sorbische Gebiet Teile der Kreise Bautzen, Kamenz und Niesky. Nach Wiederbegründung der Länder Brandenburg und Sachsen im Jahre 1990 wurden die Grenzen zwischen beiden Lausitzen im wesentlichen wieder auf den Stand von vor 1952 gebracht, nachdem sich die Mehrheit der Einwohner der Kreise Hoyerswerda und Weißwasser in einer Befragung für Sachsen entschieden hatte.

Wiederholte Forderungen der Sorben – zuletzt im Zusammenhang mit der Neubildung der Bundesländer 1990 –, ihr Siedlungsgebiet in einer administrativen Einheit zusammenzufassen, blieben unberücksichtigt. Sowohl die für die Sorben ungünstige Zusammensetzung der Bevölkerung als auch die schwache Wirtschaftsstruktur der betreffenden Lausitzer Gebiete sprachen letztlich gegen eine solche Lösung. Es muss allerdings festgestellt werden, dass selbst bei der Bildung von Landkreisen und Gemeinden der ethnodemographische Aspekt unbeachtet blieb. Dies galt zuletzt für die Gemeinde– und Gebietsreformen Mitte der 90er Jahre, bei der administrative Einheiten mit mindestens 3000 Einwohnern gebildet werden mussten. Da sich – mit Ausnahme des Stadtkreises Hoyerswerda –überdies die Kreise in beiden Lausitzen durch Zusammenlegungen mit weiteren Gebieten vergrößerten, ging der Anteil der sorbischen bzw. sorbischsprachigen Einwohner in allen Landkreisen zurück (vgl. Tabelle).

Nach der Verwirklichung der Kreis- und Gemeindereform umfasst das deutsch-sorbische Gebiet Sachsens derzeit jeweils 16 Gemeinden im Niederschlesischen Oberlausitzkreis und im Kreis Bautzen, 13 Gemeinden im Kreis Kamenz sowie die kreisfreie Stadt Hoyerswerda. Diese Gemeinden sind in einem Anhang zum Sächsischen Sorbengesetz von 1999 amtlich festgelegt.

In deutsch-sorbischen Gebiet, welches nicht den administrativen Kreisgrenzen folgt, leben derzeit ca. 273.000 Einwohner. Da für das gesamte Land Sachsen von einer Zahl der Sorben von ca. 35.000 ausgegangen werden kann (inkl. der Sorben in Sachsen, die außerhalb der Lausitz leben), beträgt der Anteil der Sorben in der als deutsch-sorbisches Gebiet ausgewiesenen Region durchschnittlich höchstens 12 %, ihr Anteil an der Einwohnerzahl in den Kreisen der Region etwa 7 % und an der Bevölkerung im Freistaat Sachsen lediglich 0,9 %.

Tab. Einwohnerzahlen und geschätzte Anteile sorbischer Bevölkerung in Sachsen

Kreis

Einwohner gesamt

Einwohner der Gemeinden im deutsch-sorb. Gebiet

Anteil Sorben an der Gesamteinwohnerzahl (geschätzt)

Anteil Sorben im deutsch-sorbischen Teil des Kreises (geschätzt)

Bautzen

163198

98964

6

10

Kamenz

159000

41737

9

36

Hoyerswerda

65700

65700

5

5

Niederschlesischer Oberlausitzkreis

111900

68560

4

7

Gesamtgebiet

470798

274961

7

12

 

Verteilung der sorbischen Bevölkerung auf die Kreise im Freistaat Sachsen

Im Land Brandenburg gehören gemäß § 3 des Sorben/Wenden-Gesetzes von 1994 alle Gemeinden, in denen eine kontinuierliche sprachliche und kulturelle Tradition bis zur Gegenwart nachweisbar ist, zum deutsch-sorbischen Siedlungsgebiet. „Es liegt im Landkreis Spree-Neiße, in der kreisfreien Stadt Cottbus, in den Ämtern Märkisch Heide, Lieberose und Straupitz des Landkreises Dahme-Spreewald sowie in den Ämtern Lübbenau, Vetschau, Altdöbern, Großräschen und Am Senftenberger See des Landkreises Oberspreewald-Lausitz." (Sorben/Wenden-Gesetz § 3) In 41 Gemeinden leben hier annähernd 12.000 sorbische Einwohner, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt in diesem Gebiet bei 7 %, in den entsprechenden Landkreisen insgesamt bei 3 % und im Land Brandenburg bei 0,8 %.

Tab. Einwohnerzahlen und geschätzte Anteile sorbischer Bevölkerung in Brandenburg

Kreis

Einwohner gesamt

Gemeinden im deutsch-sorb. Gebiet

Anteil Sorben an Gesamteinwohnerzahl (geschätzt)

Anteil Sorben im deutsch-sorbischen Teil des Kreises (geschätzt)

Cottbus-Stadt

128121

128121

2

2

Spree-Neiße

152241

43704

5

16

Dahme-Spreewald

141701

4861

<1

6

Oberspreewald-Lausitz

159828

12177

<1

8

Gesamtgebiet

581891

180742

2

7

 

Verteilung der sorbischen Bevölkerung auf die Kreise in Brandenburg

Entwicklung nach der politischen Wende in der DDR und dem Beitritt der DDR zur BRD

Im Herbst 1989 bildeten sich unter dem Einfluss des politischen Wandels in der DDR auch in der sorbischen Bevölkerung neue Strömungen und Organisationen heraus. Die vorher das Monopol in allen sorbischen Fragen besitzende zentrale Führung der Domowina war nicht in der Lage, die Proteste und Forderungen vor allem seitens sorbischer Intellektueller nach einer demokratischen, rechtsstaatlichen Minderheitenpolitik zu übernehmen. So entstanden im November 1989 die „Sorbische Volksversammlung" (Serbska narodna zhromadŸizna) und die „Sorbische Linke" (Serbska lìwica). Beide Bewegungen sowie die bis dahin innerkirchliche katholische sorbische „Cyrill-und-Methodius-Vereinigung" (Towarstwo Cyrila a Methoda) sowie die sorbische evangelische Superintendentur forderten eine Umgestaltung der Domowina zur tatsächlichen Repräsentantin des sorbischen Volkes sowie eine Neukonzipierung der Nationalitätenpolitik in der DDR. In verschiedenen, von der Serbska narodna zhromadŸizna initiierten Arbeitsgruppen wurden Vorschläge hierfür entwickelt und in der Zeitung Nowa doba zur Diskussion gestellt. Die sorbischen Strukturen zu verändern war insofern nicht leicht, als die Führung der Domowina noch bis in den Dezember 1989 konservativ-kommunistische Positionen vertrat, auf ihrem Machtanspruch beharrte und zu einem konstruktiven und gleichberechtigten Dialog nicht bereit war. Erst auf Grund massiven Drucks der sorbischen Basisbewegungen wurden im Dezember 1989 erste personelle Konsequenzen in der Führung der Organisation gezogen. Gebildet wurden ein „Sorbischer Runder Tisch" (Serbske kulojte blido) unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Kräfte, der im Januar 1990 – ca. einen Monat später als in anderen politischen Bereichen in der DDR – zusammentrat. Der Runde Tisch fasste die wesentlichen Erwartungen an die Sorbenpolitik zusammen und formulierte u. a. Forderungen nach einem neuen Gesetz zum Schutz der sorbischen Bevölkerung und nach Sicherung einer überparteilichen, unabhängigen politischen Vertretung der Sorben in der Volkskammer der DDR. Des weiteren berief der Sorbische Runde Tisch eine Arbeitsgruppe, die auf Grund massiver Forderungen einen außerordentlichen Kongress der Domowina vorbereitete.

Dieser außerordentliche Bundeskongress der Domowina fand am 17. März 1990 in Bautzen statt. Er leitete einen Umgestaltungsprozess der sorbischen nationalen Organisation ein, der darauf gerichtet war, den verschiedenen politischen und weltanschaulichen Strömungen unter den Sorben Rechnung zu tragen. Der Erste Sekretär des Bundesvorstandes, Jurij Grós, legte in seinem Bericht einige markante Probleme der DDR-Sorbenpolitik offen, vor allem den Dirigismus durch den Apparat des Zentralkomitees der SED. Im Namen der Führung der Domowina entschuldigte er sich bei allen Sorben, denen durch die Organisation Ungerechtigkeiten widerfahren waren. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen Fragen der Verwirklichung der Rechte der Sorben unter den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen. In einer neuen Satzung und einem neuen Programm löste sich die Organisation von ideologischen Abhängigkeiten und erklärte sich zur Interessenvertreterin aller Sorben. Zugleich wurden vereinzelte Forderungen abgewiesen, die Domowina aufzulösen. Die personelle Veränderung in der Führung der Organisation, die im Winter 1989/90 mit den Rücktritten der Sekretäre des Bundesvorstandes und einiger politischer Mitarbeiter eingeleitet worden waren, setzte sich fort, wenn auch mit begrenzten Ergebnissen. So trat an die Stelle des Ersten Sekretärs des Bundesvorstandes – seit 1964 Jurij Grós – nun wieder ein Vorsitzender der Domowina. In diese Funktion wurde der einzige parteilose ehemalige Sekretär im Bundesvorstand, der für Kultur zuständige Bjarnat Cyž, gewählt. Jurij Grós, am 18. März 1990 für die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) in die letzte Volkskammer der DDR eingezogen, wurde zunächst stellvertretender Vorsitzender, trat aber im Mai des gleichen Jahres von seinen Ämtern in der Domowina zurück. Der von der Serbska narodna zhromadŸizna nominierte evangelische Geistliche Jan Malink erreichte nicht die erforderliche Stimmenzahl.

Da am 17. März 1990 bereits feststand, dass bei den am nächsten Tag stattfindenden Volkskammerwahlen die Parteien, die für eine rasche Vereinigung Deutschlands eintraten, die Mehrheit in der DDR erlangen würden, verabschiedete der Bundeskongress u.a. eine von der Serbska lìwica vorbereitete Stellungnahme der Vertreter des sorbischen Volkes zu dieser Frage. Darin wurde zum Ausdruck gebracht:

- das deutsche Volk hat ein Recht auf die Herstellung der staatlichen Einheit;

- der Einigungsprozess darf jedoch nicht zum Schaden der sorbischen Minderheit, ihrer Sprache oder Kultur erfolgen;

- da das sorbische Volk außerhalb Deutschlands kein „Mutterland“ besitzt, sind Deutschland und die Länder Sachsen und Brandenburg verpflichtet, alles zur Wahrung der Interessen und Rechte des sorbischen Volkes zu tun;

- Grundlage für die Minderheitenpolitik sollen die von der Stockholmer Folgekonferenz der KSZE beschlossenen Grundsätze sein.

 

In den folgenden Monaten des Jahres 1990 waren die Bestrebungen der sorbischen Interessenvertreter darauf gerichtet, die sorbische Problematik in den Einigungsprozess beider Staaten in Deutschland einzubringen. Darüber hinaus ergriffen die Domowina und weitere Vereine die Initiative und verabschiedeten ein Memorandum an den Bundestag mit der Forderung, im Zusammenhang mit der durch die Vereinigung notwendigen Verfassungsreform auch den Schutz und die Förderung nationaler Minderheiten aufzunehmen. Im Oktober 1990, kurz nach der Vereinigung der DDR und der BRD, fanden Landtagswahlen statt, im Dezember des gleichen Jahres Bundestagswahlen. Sorbische Kandidaten erhielten mit den Mandaten verschiedener politischer Parteien Sitze im Deutschen Bundestag (Marja Micha³kowa für die CDU (Christlich Demokratische Union) und Angela Stachowa für die PDS) und im Parlament von Sachsen (jeweils 2 Landtagsabgeordnete der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und CDU sowie ein PDS-Mandat). Da in Brandenburg sorbische Kandidaten durch die Parteien nicht nominiert wurden, beteiligte sich der Regionalverband der Domowina in der Niederlausitz mit eigenen Kandidaten an den Wahlen, wohl wissend, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Mandat zu erringen, schon wegen der 5 %-Sperrklausel gering war. Dennoch trug die Teilnahme am Wahlkampf wesentlich dazu bei, dass auch die Politiker in Brandenburg auf die sorbischen Belange aufmerksam wurden, was sich in der ersten Legislaturperiode höchst positiv auswirkte. Besonders zu erwähnen ist hierbei der Erlass des Sorbengesetzes im Jahre 1994.

Die vielfältigen sorbischen Aktivitäten bewirkten in ihrer Gesamtheit, dass die Politik sensibilisiert wurde, dass die sorbischen Interessen sowohl in verschiedenen Deklarationen (u. a. im ersten Bericht zur Lage der Nation des im Dezember 1990 wiedergewählten Bundeskanzlers Helmut Kohl) als auch in konkreten Festlegungen beim Einigungsprozess sowie bei der Konstituierung der Länder Sachsen und Brandenburg beachtet wurden. Seitens des deutschen Staates wurde gewährleistet, dass sich die Rahmenbedingungen hinsichtlich der Pflege sorbischer Sprache, Kultur und Identität für die Angehörigen der slawischen Minderheit nicht grundsätzlich verschlechterten. In der Domowina und weiteren, 1990/91 geschaffenen sorbischen Vereinigungen setzte sich die Suche nach angemessenen Formen der Interessenvertretung der Sorben fort. Es bestand Einigkeit darin, dass einerseits eine sorbische „Einheitsorganisation nicht erwünscht war, andererseits eine Zersplitterung der sorbischen Bewegung verhindert werden sollte. Aus diesem Grunde konstituierte sich die Domowina auf ihrer 1. und 2. Hauptversammlung im Jahre 1991 – wie bei ihrer Gründung im Jahre 1912 – als Dachverband sorbischer Vereine, dem neben den bisherigen Domowina-Kreis- und Regionalverbänden in den Jahren 1991/92 alle wichtigen sorbischen Vereine (siehe Tabelle) beitraten. Als assoziierte Mitglieder gehören der Domowina Freundeskreise der Sorben aus Polen und Tschechien, Traditionsvereine von Nachkommen sorbischer Auswanderer in Australien und den vereinigten Staaten, der Verein zur Schaffung einer Sorbischen Kulturinformation Berlin sowie ein Verein von Sorben außerhalb der Lausitz an.

Sorbische Vereine, die dem Dachverband Domowina angehören (Stand 2002):

Name des Vereins

Jahr der

Gründung

Mitglieder

Maæica Serbska

1847

120

Towarstwo Cyrila a Metoda

1862

555

Zwjazk serbskich wumì³cow (hervorgegangen aus den Arbeitskreisen sorbischer Künstler, steht in der Tradition des 1900 gegründeten Ko³o serbskich spisowaæelow)

1900

85

Zwjazk serbskich studowacych

1919

95

Župa „Jan Arnošt Smoler“, Kreis Bautzen

1921

753

Župa „Micha³ Hórnik“, Kreis Kamenz

1921

720

Župa „Handrij Zejler“, Kreis Kamenz / Hoyerswerda

1921

921

Regionalne towarstwo (župa) Delnja £užica, Land Brandenburg

1921

2276

Serbski Soko³ z. t. (Sportverein)

1922

188

Zwjazk serbskich spìwarskich towarstwow

1923

708

Župa Bì³a Woda/Niska, Niederschlesische Oberlausitzkreis

1948

431

Serbske šulske towarstwo

1990

329

Serbska kulturna informacija Berlin z. t.

1990

50

Pawk (Jugendverein „Pawk“ (= die Spinne)

1993

30

Zwjazk za serbski kulturny turizm (Sorbischer Tourismusverein)

1995

120

Spìchowanski kruh za serbsku ludowu kulturu z. t.

1995

26

Zwjazk serbskich rjemjeslnikow a pøedewzaæelow z. t.

1996

60

Gesamtmitgliederzahl

-

 

 

Neben diesen wirken in der Lausitz noch einige weitere Vereine von Sorben, die sich in ihrer Tätigkeit auf spezifische Fragen ausrichten und nur über sehr geringe Mitgliederzahlen verfügen. Es sind dies ein Verein sorbischer evangelischer Christen, der Verein Serbska namša (zur Förderung niedersorbischer Gottesdienste) in der Niederlausitz, der Verband sorbischer Gymnasiasten und der Verein „Po našemu“ in der Niederlausitz. Da außerhalb der Domowina keiner der genannten Vereine regional oder überregional nationalitätenpolitische Aktivitäten ausübt, nimmt die Domowina heute das Recht in Anspruch, Sprecherin des sorbischen Volkes zu sein. Diese Stellung in der Gesellschaft wird seitens der deutschen Politik weitgehend anerkannt.

1994/95 sah sich die Domowina vor das Problem gestellt, dass im Zusammenhang mit der Konsolidierung der 1991 gegründeten Stiftung für das sorbische Volk Neustrukturierungen der nationalen und kulturellen Arbeit gefordert wurden, damit – so die Begründung – staatliche Förderung effektiver eingesetzt werden konnte. Die Stiftung nahm für sich in Anspruch, vor allem die kulturellen Aktivitäten der Sorben direkt zu betreuen. Die Domowina sollte sich auf nationalitätenpolitische Aktivitäten sowie die Koordinierung der sorbischen Vereine konzentrieren. Diese neuen Strukturen, die seit 1996 eingeführt sind, stießen bei der sorbischen Basis nicht immer auf Zustimmung. Kulturarbeit und nationalitätenpolitische Aktivitäten bildeten in der Tradition der Domowina stets eine Einheit, die nun gefährdet schien. Manche befürchteten, dies könnte sich negativ auf das nationale Engagement der Menschen auswirken. In den Jahren 1999 und 2000 wurden umfassende Diskussionen über ein Neustrukturierung der sorbischen Institutionen und der Förderung des sorbischen Vereinslebens eingeleitet. Sie standen auch unter dem Zwang drohender Reduzierungen staatlicher Fördermittel und traten ab 2001 in Kraft. Hervorzuheben ist die Bildung des Zentrums für sorbische Sprache „Witaj“. Mit dieser neuen Institution sollen Kräfte und Mittel für die Erhaltung und Förderung der sorbischen Sprache gebündelt werden.

Die Domowina trat 1990 der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen, einer Solidargemeinschaft von europäischen Minderheitenverbänden bei. Im Rahmen der Förderung der sorbischen Sprache sind die Sorben seit 1990 auch im Büro für wenig gesprochene Sprachen der Europäischen Union vertreten.

Im Bereich der sorbischen kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen setzten erste Strukturveränderungen 1991 ein. Das Sorbische Institut für Lehrerbildung, im Januar 1946 als erste sorbische Institution nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, wurde aufgelöst. Grund dafür war die Tatsache, dass die Ausbildung von Pädagogen nunmehr generell an Universitäten und Hochschulen erfolgte. Daher wurde die Ausbildung von Sorbischlehrern ganz vom Institut für Sorabistik der Universität Leipzig übernommen. In Bautzen blieb nur die Fachschulausbildung von sorbischen Sozialpädagogen, darunter Kindergärtnerinnen. Das Institut für sorbische Volksforschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde, wie alle Akademieinstitute, gemäß den Festlegungen des Einigungsvertrages zum Ende des Jahres 1991 aufgelöst. Eine Evaluierungskommission, bestehend aus Wissenschaftlern mehrerer europäischer Staaten, empfahl den Ländern Sachsen und Brandenburg eine Neugründung auf privatrechtlicher Grundlage. Am 1. Januar 1992 nahm das Sorbische Institut als eingetragener Verein seine Tätigkeit auf. Es ist gegliedert in die Abteilungen Kultur- und Sozialgeschichte, Empirische Kulturforschung/Volkskunde, Sprachwissenschaft sowie eine Arbeitsstelle für niedersorbische Forschungen. In Anknüpfung an die Traditionen der Maæica Serbska beherbergt das Sorbische Institut die Sorbische Zentralbibliothek (gleichsam die Nationalbibliothek der Sorben) sowie das Sorbische Kulturarchiv, die beide der öffentlichen Nutzung zugänglich sind.

Der sorbische Domowina-Verlag wurde 1992 zu einer GmbH umgewandelt. Alle bis 1989 in der DDR erschienen sorbischen Zeitungen (die „Nowa doba" erhielt 1991 den traditionellen Namen „Serbske Nowiny" zurück) und Zeitschriften blieben trotz steigender Subventionsaufwendungen erhalten. Die erforderliche Schulbuchproduktion konnte ebenfalls gewährleistet werden. Im Bereich der sorbischen schönen Literatur ging die Zahl der Neuerscheinungen zurück, was seine Ursache allerdings weniger im Verlag als vielmehr in den veränderten Entstehungsbedingungen für sorbische Lyrik und Prosa hat. Seit 2001 sind der Bereich Schulbuchproduktion dem sorbischen Sprachzentrum „Witaj“ zugeordnet worden.

Das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen behielt sein Profil als zweisprachiges Berufstheater in der Trägerschaft des Kreises Bautzen. Aufgegeben werden musste die – für den Bereich der sorbischen Theaterkultur weniger relevante – Sparte des Musiktheaters. Das Sorbische National-Ensemble (bis 1989 Staatliches Ensemble für sorbische Volkskultur) war ebenfalls von Personalreduzierungen betroffen, das künstlerische Profil konnte jedoch beibehalten und im Bereich der Musikkultur sogar erweitert werden. Das Orchester des Ensembles konstituierte sich mit den Musikern des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters zur Lausitzer Philharmonie (heut Neue Lausitzer Philharmonie) ist. 1996 wurde das Nationalensemble zu einer GmbH umgestaltet.

1997 kündigte die Bundesregierung unter Helmut Kohl an, dass die staatliche Fördermittel seitens des Bundes drastisch reduziert werden sollen. Dies löste unter den Sorben und mit ihnen verbundenen Deutschen Proteste aus, die sich 1998 in einer Unterschriftensammlung niederschlugen. In der dreimonatigen Aktion brachten mehr als 10Tausend Menschen ihren Protest über die beabsichtigten Kürzungen zum Ausdruck. Diese Pläne wurden von der 1998 neugewählten Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder durch moderatere Kürzungsvorhaben ersetzt, auch diese gefährdeten jedoch den Bestand der sorbischen Institutionen und Projekte. Dagegen protestierte die Domowina sowie die sorbische Öffentlichkeit wiederholt, unter anderem im Frühjahr 2000 anlässlich eines Besuchs des Bundeskanzlers in Dresden. Dies hat dazu beigetragen, dass sowohl 2000 als auch 2001 keine Kürzungen vorgenommen wurden. Schließlich kündige die Regierung 2002 an, die finanzielle Unterstützung für die Sorben bis zum Jahre 2006 stabil zu halten.

Eine erhebliche Verbesserung in der kulturellen und informellen Grundversorgung brachte die Neugliederung des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens. Der Mitteldeutsche Rundfunk – Anstalt der Länder Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt – überträgt täglich ein dreistündiges Hörfunkprogramm in obersorbischer Sprache und wöchentlich ein zweistündiges Rundfunkprogramm für Jugendliche. Das Fernsehen sendet zweiwöchentlich den sonntäglichen Abendgruß für die Kinder in sorbischer Synchronisation und seit Herbst 2001 monatlich ein 30-minütiges sorbisches Magazin. Der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg sendet täglich eine Stunde in Niedersorbisch sowie wöchentlich ein einstündiges Jugendprogramm im Hörfunk. Außerdem bietet er seit 1992 eine monatliche niedersorbische Fernsehsendung von 30 Minuten an, was angesichts des dramatischen Rückgangs in der Beherrschung des Niedersorbischen von großem Wert ist. Private Rundfunkanstalten haben bisher in ihren Programmangeboten die Sorben kaum berücksichtigt.

Die rechtliche Stellung der Sorben in der Bundesrepublik Deutschland

Obgleich bereits die Paulskirchen-Verfassung von 1849 einen Artikel über die Rechte „fremdsprachiger Volksteile" vorsah und die Verfassung von Weimar 1919 einen Minderheitenartikel enthielt, kann für die Zeit vor 1945 nicht von einem rechtlichen Schutz und von Förderung des sorbischen Volkes in Deutschland gesprochen werden. Die bescheidenen Möglichkeiten für Minderheiten in der Weimarer Republik – Artikel 113 der Verfassung – lassen sich bestenfalls als „duldendes Nationalitätenrecht" charakterisieren, welches nicht zuletzt durch außenpolitische Erwägungen – Lage deutscher Minderheiten im Ausland – bestimmt war.

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wurden den nationalen Minderheiten ab 1937/38 jegliche besonderen Rechte abgesprochen.

In der Deutschen Demokratischen Republik waren, beginnend bereits mit dem „Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung" aus dem Jahre 1948, Minderheitenrechte formell anerkannt. Artikel 11 der Verfassung von 1949 lautete:

Die fremdsprachigen Volksteile der Republik sind durch Gesetzgebung und Verfassung in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung zu fördern, sie dürfen insbesondere am Gebrauch ihrer Muttersprache im Unterricht, in der inneren Verwaltung und in der Rechtspflege nicht gehindert werden.

Auch die erneuerten Verfassungen der DDR aus den Jahren 1968 bzw. 1974 garantierten die Förderung der Sorben, obgleich eine ausdrückliche Bestätigung des Rechtes der Sorben auf den „Gebrauch ihrer Muttersprache im Unterricht, in der inneren Verwaltung und in der Rechtspflege" nicht mehr gegeben wurde. Im Artikel 40 hieß es:

Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität haben das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. Dieses Recht wird vom Staat gefördert.

Zur Sicherung der Gleichstellung der sorbischen Bevölkerung wurde ein System von juristischen Regelungen geschaffen, welches der Förderung der sorbischen Kultur dienen sollte. Zu erwähnen sind hier trotz aller Widersprüchlichkeit die gesetzliche Sicherung des sorbischen Unterrichts, die Möglichkeit der Anwendung der sorbischen Sprache in Ämtern, Verwaltungen und vor Gericht sowie Festlegungen zur zweisprachigen Beschriftung öffentlicher Einrichtungen im deutsch-sorbischen Gebiet. Die Bedeutung dieser Regelungen für die sorbische Kulturentwicklung ist unbestritten, für die Erhaltung und Reproduktion des sorbischen Volkstums waren sie freilich nur eingeschränkt wirksam, da sie in ihrer praktischen Umsetzung von ideologischen Ansprüchen überlagert waren. Die Domowina als einzige sorbische Organisation konnte zu keinem Zeitpunkt parteiunabhängig wirken.

Der Einigungsvertrag regelte den Schutz und die Förderung des sorbischen Volkstums in der Protokollnotiz zum Artikel 35. Diese Festlegungen garantierten in der Phase des Übergangs zu neuen politischen Strukturen in Ostdeutschland, dass die Rechte der Sorben juristisch gesichert blieben und im Anschlussprozess der DDR an die BRD keine größeren rechtlichen Verluste eintraten.

Protokollnotiz zum Einigungsvertrag

Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären im Zusammenhang mit Artikel 35 des Vertrages:

1. Das Bekenntnis zum sorbischen Volkstum und zur sorbischen Kultur ist frei.

2. Die Bewahrung und Fortentwicklung der sorbischen Kultur und der sorbischen Traditionen werden gewährleistet.

3. Angehörige des sorbischen Volkes und ihre Organisationen haben die Freiheit zur Pflege und zur Bewahrung der sorbischen Sprache im öffentlichen Leben.

4. Die grundsätzliche Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern bleibt unberührt.

 

In Verwirklichung der Grundsätze der Protokollnotiz bildeten der Bund sowie die beiden betroffenen Bundesländer im Oktober 1991 die „Stiftung für das sorbische Volk". In Anerkennung des Willens des sorbischen Volkes, seine Sprache, Kultur und Identität zu bewahren, sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Sorben nur in der Bundesrepublik Deutschland beheimatet sind und nicht auf Unterstützung von außen rechnen können, soll diese Stiftung die Förderung der Sorben finanziell sichern. Aus Mitteln der Stiftung für das sorbische Volk werden kulturelle und wissenschaftliche Institutionen finanziert, die Tätigkeit der Domowina ermöglicht sowie verschiedenste Projekte auf dem Gebiet der Kultur, Sprache, Traditionspflege etc. gefördert. Die Mittel der Stiftung werden zu 50 Prozent durch die Bundesregierung bereitgestellt, ein Drittel steuert der Freistaat Sachsen bei, ein Sechstel das Land Brandenburg.

Mit der Bildung des Bundesländer Brandenburg und Sachsen erfolgte die schrittweise Ersetzung des zeitweilig weitergeltenden DDR-Rechts durch neue, landesrechtliche Bestimmungen. Grundlagen dafür waren die in der Bundesrepublik bereits gegenüber der dänischen Volksgruppe realisierte Politik, im Rahmen des KSZE-Prozesses formulierte Prinzipien bezüglich nationaler Minderheiten sowie die bereits in der DDR praktizierte Förderung der Sorben. Für Sachsen erklärte das Justizministerium zunächst die weitere Gültigkeit des Gesetzes zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung aus dem Jahre 1948.

1992 verabschiedeten sowohl Brandenburg als auch Sachsen ihre Landesverfassungen. In der Verfassung des Landes Brandenburg, die vom Parlament vorgelegt und durch eine Volksabstimmung verabschiedet wurde, heißt es:

Art. 25 Rechte der Sorben (Wenden)

(1) Das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes wird gewährleistet. Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände fördern die Verwirklichung dieses Rechtes, insbesondere die kulturelle Eigenständigkeit und die wirksame politische Mitgestaltung des sorbischen Volkes.

2) Das Land wirkt auf die Sicherung einer die Landesgrenzen übergreifenden kulturellen Autonomie hin.

(3) Die Sorben haben das Recht auf Bewahrung und Förderung der sorbischen Sprache und Kultur im öffentlichen Leben und ihre Vermittlung in Schulen und Kindertagesstätten.

(4) Im Siedlungsgebiet der Sorben ist die sorbische Sprache in die öffentliche Beschriftung einzubeziehen. Die sorbische Fahne hat die Farben Blau, Rot, Weiß.

(5) Die Ausgestaltung der Rechte der Sorben regelt ein Gesetz. Dies hat sicherzustellen, dass in Angelegenheiten der Sorben, insbesondere bei der Gesetzgebung, sorbische Vertreter mitwirken.

Im Juli 1994 beschloss der Landtag in Potsdam das in der Verfassung gebotene Gesetz über die Ausgestaltung der Rechte der Sorben. Wesentliche Inhalte des Gesetzes sind Verpflichtungen des Landes sowie der Kreise und Gemeinden, die Ausübung der verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Sorben zu gewährleisten. Im Gesetz wird erklärt, dass das Bekenntnis zum sorbischen Volk frei sei, d.h. es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden und dem Bürger dürfen aus diesem Bekenntnis keine Nachteile entstehen. Außerdem stellt das Gesetz das Siedlungsgebiet der Sorben fest. In den Gemeinden dieses Territoriums sind Beauftragte für Angelegenheiten der Sorben tätig, auf der Landesebene wirkt ein Rat für sorbische Angelegenheiten bei allen Beratungsgegenständen des Landtages mit, die die Rechte der sorbischen Bevölkerung berühren. Dieser Rat hat den Rang eines beratenden parlamentarischen Ausschusses und ist in der Minderheitenpolitik Deutschlands bisher ohne Beispiel. In den weiteren Artikeln des Brandenburgischen Sorbengesetzes sind die Förderung der Kultur, Sprache und der sorbischen Schulbildung verankert.

Die Rechte der sorbischen Bevölkerung werden auch in anderen Gesetzen und Verordnungen des Landes berücksichtigt. Dies sind das „Erste Schulreformgesetz für das Land Brandenburg" vom Mai 1991 sowie die dazu erlassene Verwaltungsvorschrift über die Arbeit an sorbischen und anderen Schulen im deutsch-sorbischen Gebiet, das Gesetz über den „Rundfunk Brandenburg", das Wahlgesetz, die Verwaltungsverfahrensvorschrift für das Land Brandenburg die den Status der sorbischen Sprache als faktische Teilamtssprache im Land regelt sowie die Landkreis- und Gemeindeordnungen. So kann für das Land Brandenburg festgestellt werden, dass die Rechte der sorbischen Bevölkerungsgruppe inzwischen umfassend formuliert sind.

In Sachsen regeln die Artikel 2, 5 und 6 der Verfassung des Freistaates die Stellung der Sorben:

Artikel 2

(4) Im Siedlungsgebiet der Sorben können neben den Landesfarben und dem Landeswappen Farben und Wappen der Sorben ... gleichberechtigt geführt werden.

Artikel 5

(1) Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an. Das Land erkennt das Recht auf Heimat an.

(2) Das Land gewährleistet und schützt das Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege ihrer Sprache, Religion, Kultur und Überlieferung.

(3) Das Land achtet die Interessen ausländischer Minderheiten, die sich rechtmäßig im Land aufhalten.

Artikel 6

(1) Die im Land lebenden Bürger sorbischer Volkszugehörigkeit sind gleichberechtigter Teil des Staatsvolkes. Das Land gewährleistet und schützt das Recht auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege und Entwicklung ihrer angestammten Sprache, Kultur und Überlieferung, insbesondere durch Schulen, vorschulische und kulturelle Einrichtungen.

(2) In der Landes- und Kommunalplanung sind die Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen. Der deutsch-sorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volksgruppe ist zu erhalten.

(3) Die landesübergreifende Zusammenarbeit der Sorben, insbesondere in der Ober- und Niederlausitz, liegt im Interesse des Landes.

Die Realisierung dieser Verfassungsgebote ist auch in Sachsen durch eine Reihe von Verordnungen festgelegt, darunter für das Schulwesen, für die Anwendung der sorbischen Sprache in Ämtern und vor Gericht sowie für die Beschriftung von öffentlichen Einrichtungen, für Straßenbezeichnungen und Ortstafeln. 1999 trat an die Stelle des Gesetzes zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung aus dem Jahre 1948 ein neues Sächsisches Sorbengesetz. Sowohl das brandenburgische wie das sächsische Gesetz legen die Bildung von Räten für sorbische Angelegenheiten als beratende Gremien der Landtage fest. Deren Mitglieder werden von den sorbischen (in Sachsen auch kommunalen) Vertretungen nominiert und vom jeweiligen Landtag gewählt. Dies gewährt den Sorben, die über reguläre Wahlmechanismen ohne realer Chance wären, den Zugang zum Landesparlament und zur Landesregierung und gewisse Mitspracherechte in grundsätzlichen politischen Fragen. So können parteiunabhängig minderheitenpolitische Interessen artikuliert werden, da sorbische Landtagsabgeordnete in erster Linie Träger des Mandats ihrer Partei sind. Das Wahlgesetz in Sachsen sieht im Gegensatz zum brandenburgischen Gesetz (und auch zur Regelung in Schleswig-Holstein für die dänische Volksgruppe sowie im Bundeswahlgesetz für Minderheitenparteien allgemein) keine Aufhebung der 5-%-Sperrklausel für Wählerverbände nationaler Minderheiten vor.

Gemeinsam mit den anderen autochthonen nationalen Minderheiten und Volksgruppen streben die Sorben danach, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Achtung, den Schutz und die Förderung ethnischer Minderheiten deutscher Staatszugehörigkeit zu verankern. Diesbezügliche Initiativen scheiterten 1994 und stießen auch später auf Ablehnung. Dennoch sind auch auf Bundesebene eine Reihe von Rechten festgelegt, die für die nationalen Minderheiten von Bedeutung sind. Das Grundgesetz verbietet im Artikel 3 jegliche Diskriminierung aus Gründen der Sprache, Herkunft und nationalen Zugehörigkeit. Im Wahlgesetz und im Parteiengesetz sind für Parteien bzw. Wählerverbände nationaler Minderheiten bestimmte Vergünstigungen gewährt. Die Bedeutung dieser Festlegungen für den politischen Alltag der Sorben, Dänen, Friesen sowie Sinti und Roma ist allerdings eher symbolisch. Seit 1992 sind auf europäischer Ebene neben verschiedenen Deklarationen der KSZE/OSZE, des Europarates sowie der Europäischen Union zwei wichtige Verträge zum Minderheitenschutz vereinbart worden, denen die Bundesrepublik Deutschland beitrat und die sie 1999 in Kraft setzte. Es handelt sich hierbei um die Charta zum Schutz und Förderung von Regional- und Minderheitensprachen aus dem Jahre 1992 sowie das Rahmenabkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten aus dem Jahre 1994.

In den regionalen und kommunalen Verwaltungen bestehen allerdings für die Sorben in Brandenburg und Sachsen durchaus noch zahlreiche praktische Probleme bei der Verwirklichung von Gesetzesvorschriften. So sind beispielsweise in vielen Gemeinden zweisprachige Beschriftungen nicht oder nur unvollständig vorhanden, die Möglichkeit der Nutzung der sorbischen Sprache ist auf Grund des Fehlens sorbischsprachiger Angestellter nicht gewährleistet, und in einigen Gemeinden wird von kommunalen Abgeordneten auch die Notwendigkeit der Beachtung spezifischer Rechte für die sorbische Bevölkerung angezweifelt. Die Domowina versucht mit ihren Ortsgruppen, Kreisverbänden sowie den Regionalsprechern darauf hinzuwirken, dass die Rechte der Sorben noch umfassender realisiert werden.

Gegenwärtige Sprachsituation und sorbisches Schulwesen

Zur Sprachsituation der Lausitzer Sorben

Das deutsch-sorbische Gebiet in der Ober- und Niederlausitz ist eine zweisprachige Region, auch wenn festgehalten werden muss, dass der überwiegende Anteil der Bevölkerung nur die deutsche Sprache beherrscht bzw. nutzt. Von den sich selbst als Sorben definierenden Bewohnern besitzen ca. 90 % sorbische Sprachkenntnisse, alle beherrschen darüber hinaus auch die deutsche Sprache. Unter Deutschen liegt der prozentuale Anteil derer mit Sorbischkenntnissen bei unter 2 %, in den Dörfern ist er etwas höher. Die Qualität des Sorbischen ist sowohl bei den Sorben als auch bei den Deutschen sehr differenziert und reicht von muttersprachlichen Kenntnissen bis zu lediglich elementaren Sprachkenntnissen, die nur für den passiven Gebrauch geeignet sind.

Territorial lässt sich die Verbreitung der sorbischen Sprache in zwei große regionale Gruppen gliedern. Den überwiegenden Teil der deutsch-sorbischen Lausitz bilden Gemeinden mit deutscher und sorbischer Bevölkerung, in denen die Sorben sowohl sprachlich als auch kulturell in der Minderheit sind und das Deutsche jeweils dominiert. Sorbisch wird an den Schulen als Unterrichtsfach – didaktisch-methodisch einem Fremdsprachenunterricht vergleichbar – gelehrt. Dieser von der deutschen Sprache bestimmte Teil der zweisprachigen Lausitz umfasst drei Teilregionen:

Erstens die gesamte Niederlausitz in Brandenburg. Hier werden in den Dörfern niedersorbische Dialekte gesprochen, an den Schulen wird die niedersorbische Schriftsprache vermittelt. Zweitens die Mittellausitz, das Gebiet zwischen Hoyerswerda und Weißwasser in Sachsen. In der Mittellausitz werden verschiedene Übergangsdialekte gesprochen, an den Grund- und Mittelschulen wird die obersorbische Schriftsprache vermittelt, Schüler aus dieser Region besuchen zum Teil das obersorbische Gymnasium in Bautzen, zum Teil – vor allem aus der Region um Schleife – aber auch das niedersorbische Gymnasium in Cottbus. Drittens gehört der überwiegende, evangelische Teil der Oberlausitz zum deutschsprachig dominierten Gebiet.

In der gesamten deutschsprachig dominierten Region leben ca. 45000 bis 50000 Menschen mit sehr unterschiedlichen sorbischen Sprachkenntnissen, die sie nur zu einem geringen Teil in der alltäglichen Kommunikation nutzen. Von ihnen bekennen sich ca. 25000 zur sorbischen Nationalität. Die Reproduktion der sorbischen Sprache durch familiäre Sozialisation ist hier nicht mehr gewährleistet, weil einerseits der Anteil sorbischer Familien mit Kindern stark rückläufig ist, andererseits in gemischten Familien nur in Einzelfällen die sorbische Sprache gebraucht und an die Kinder weitergegeben wird. Daher erwerben heute die meisten Einwohner ihre sorbischen Sprachkenntnisse primär in der Schule, allerdings nur auf elementarem Niveau. In der Niederlausitz und in der Mittellausitz wird die sorbische Identität auch durch die Pflege – meist bei Mitwirkung der Domowina – sorbischer dörflicher Bräuche und Traditionen beeinflusst, ohne jedoch signifikant spracherhaltend zu wirken.

Das sorbischsprachig dominierte Gebiet entspricht weitgehend der katholischen Diaspora in der Region. Es umfasst einige Gemeinden im Dreieck Bautzen–Kamenz–Wittichenau. Die Region ist zugleich Einzugsbereich der zehn ländlichen sorbischen Schulen. In diesem Territorium leben ca. 15.000 sorbischsprachige Einwohner, die sich zu über 85 % auch als Angehörige des sorbischen Ethnikums verstehen. Die Weitergabe der sorbischen Sprache erfolgt sowohl über die Erziehung im Elternhaus als auch über Kindergarten und Schule.

Abb.: Ersterwerb sorbischer Sprachkenntnisse in der Familie in beiden Regionen (in Prozent)

(Region A = sorbischsprachig dominiert; Region B = deutschsprachig dominiert)

Die Abbildung verdeutlicht den qualitativen Unterschied zwischen den Regionen: In der sorbischsprachig dominierten Region fungiert in allen drei Altersgruppen die sorbischsprachige Sozialisation in den Familien als primäre Quelle der sorbischen Sprachkenntnisse. Dagegen ist der Verlust der Rolle der sorbischen Sprache in der Familie in den übrigen Gemeinden deutlich sichtbar. Damit schwindet auch ein wichtiges Element der Begründung einer sorbischen Identität. Dies ist aber nicht allein mit einem höheren Anteil national gemischter Familien zu erklären. Selbst Personen, die die sorbische Sprache primär im Elternhaus erlernt haben und damit als Muttersprachler anzusehen sind, weisen nur etwa 50 % sich als Sorben aus. Assimilatorische Tendenzen außerhalb des familiären Umfelds wirken also außerordentlich stark. Ursachen dieser Tendenzen sind einerseits die Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie und Politik – Kinder und Jugendliche, die in der Zeit der Hitlerdiktatur aufgewachsen sind, bildeten die Elterngeneration der Jahre bis ca. 1970. Andererseits hatte auch die Nationalitätenpolitik der DDR eine Reihe von negativen Auswirkungen auf die Reproduktionsbedingungen des sorbischen Sprachpotentials. Vor allem schulpolitische Aspekte wären dabei zu nennen. So sind 1964 die Rahmenbedingungen für den Sorbischunterricht in der deutschsprachig dominierten Region erheblich verschlechtert worden (Veränderung der Modalitäten für die Teilnahme und Senkung der Stundenzahl). Viele Eltern wurden verunsichert, in der Öffentlichkeit bildete sich die Meinung heraus, Sorbischunterricht sei wohl geduldet, aber eigentlich unerwünscht. Die Zahl der Schüler sank von ca. 12.000 auf ca. 3.000, wobei vor allem die deutschsprachig dominierten Regionen betroffen waren. Nationalitätenpolitisch lag diesem undemokratischen Vorgehen die in der SED-Parteiführung vertretene Auffassung zugrunde, das Sorbische sei allmählich ausklingen zu lassen.

Eine weitere Ursache für den raschen Rückgang der sorbischen Sprachkenntnisse im 20. Jahrhundert ist in der Umsiedlungen Deutscher aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die deutsch-sorbische Region zu sehen. In ihrem Ergebnis wurde die ethnodemographische Struktur des deutsch-sorbischen Gebietes wiederum signifikant beeinflusst. Beispielsweise wurden in den Dörfern der heutigen Gemeinde Kubschütz 835 Vertriebene angesiedelt, das waren ca. 15 % der Gesamtbevölkerung. Langfristig führte dies zu einer Zunahme gemischter Familien und zur weiteren Verstärkung der Dominanz der deutschen Sprache. Dieser Prozess wurde durch die psychologischen Nachwirkungen der nationalsozialistischen antisorbischen Politik befördert. Im sorbischsprachig dominierten Gebiet wirkten dem die noch weitgehend kompakten sorbischen Kommunikationsstrukturen und das mit hohem öffentlichen Prestige ausgestattete sorbischsprachige Kirchenleben entgegen, so dass es in Einzelfällen auch zur Assimilation Deutscher in das sorbische Ethnikum kam.

Eine weitere tiefgreifende Veränderung der bilingualen Strukturen im deutsch-sorbischen Gebiet setzte in der zweiten Hälfte der 50er Jahre mit dem beschleunigten Ausbau der Lausitz zum Braunkohle- und Energiezentrum der DDR ein. Die Erschließung zahlreicher Braunkohletagebaue, die Errichtung von Brikettfabriken und Kraftwerken sowie des Gaskombinates „Schwarze Pumpe" führten zu einem noch bis in die jüngste Vergangenheit reichenden Zustrom von Arbeitern aus dem gesamten Land, vornehmlich in den Bezirk Cottbus. In den Jahren 1971 bis 1981 nahm die Einwohnerzahl dieses Gebietes um ca. 55.000 zu. Hinzu kam, dass seit Mitte der 50er Jahre mindestens 13 weitere Orte bzw. Ortsteile im zweisprachigen Gebiet der Erschließung neuer Braunkohletagebaue zum Opfer fielen und devastiert wurden. Damit wurden die historisch gewachsenen Lebensbedingungen und zweisprachigen Kommunikationsstrukturen für ca. 2.500 Bewohner zerstört, die zumeist in städtische Neubaugebieten umgesiedelt wurden. Dort waren sie in besonderem Maße dem Assimilationsdruck ausgesetzt.

Auch die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft seit Anfang der 60er Jahre und der Aufbau immer größerer Agrarkooperativen hatte langfristig negative Auswirkungen auf die sorbische Sprache in der Lausitz.

Die gleichberechtigte Anerkennung der sorbischen Sprache in der Lausitz wird entscheidend von ihrer realen Rolle als Mittel der Kommunikation in den verschiedensten Lebensbereichen und der Rezeption von Literatur und Kunst bestimmt. Gemessen am vorhandenen Vermögen der sorbischen und deutschen Bürger, Sorbisch zu verstehen und zu sprechen, werden weder in der individuellen Kommunikation noch im öffentlichen Leben die derzeit gegebenen Potenzen ausgeschöpft.

Für die deutsch dominierten Teile der Niederlausitz und der Oberlausitz ist festzustellen, dass von einer aktiven sorbischen „Sprachöffentlichkeit" nicht mehr gesprochen werden kann. Vielmehr ist die Nutzung des Sorbischen mit einzelnen sorbischen Bekannten oder Kollegen häufig zufällig und kann damit nicht wirksam zur Hebung des Prestiges der Sprache beitragen. Die meist älteren Nutzer des Sorbischen nehmen – auch bedingt durch die politischen Veränderungen nach 1989 – in der Dorfgemeinschaft keine dominanten Positionen mehr ein. Untersuchungen aus den 90er Jahren zeigten, dass die sorbische Sprache – abgesehen von Einzelfällen – als Kommunikationsmittel in Familien mit Vorschul- oder Schulkindern faktisch nicht mehr stattfindet. Da das an den Schulen vermittelte Niveau diesen Kompetenzverlust nicht ausgleichen kann, muss gesagt werden, dass die Reproduktion des Sorbischen als lebendige Sprache heute in weiten Teilen der Lausitz nicht mehr gewährleistet ist. Als aktive Anwender der sorbischen Sprache können hier derzeit angesehen werden:

– einige sorbische Familien der Alterstufe 60 Jahre und darüber;

– einzelne jüngere sorbische Familien mit ausgeprägter Bindung an das Sorbische (soweit möglich, besuchen deren Kinder jedoch anstatt der örtlichen die sorbischen Schulen;

– einzelne jüngere sorbische Familien, die aus der sorbisch dominierten Region stammen (auch deren Kinder besuchen oft Schulen mit sorbischer Unterrichtssprache);

– einige Familienangehörige der mittleren Generation, die untereinander, weniger aber mit den erwachsenen Kindern oder den Enkelkindern Sorbisch reden;

– einige Freundes- und Verwandtschaftskreise mit besonders engagierten sorbischen Angehörigen;

– ein Teil Sorbischsprachiger im Umgang mit bestimmten, für ihr sorbisches Engagement bekannten „Prestige"–Personen wie sorbischen Lehrern, Domowina-Vertretern o. ä.;

– Angestellte sorbischer Institutionen aus der deutschsprachig dominierten Region im Arbeitsprozess.

Die weitere Nutzung der sorbischen Sprachkenntnisse erstreckt sich neben der durchaus häufigen Rezeption sorbischer Rundfunk- und Fernsehsendungen (letztere von Frühjahr 1992 bis Herbst 1996 nur in der Niederlausitz) vor allem auf die Besuche sorbischer Kulturveranstaltungen, auf die Mitwirkung in Kulturensembles, den Besuch von Veranstaltungen der Domowina-Gruppen oder sorbischer Vereine sowie – für ältere evangelische Christen – die Besuche sorbischer Gottesdienste, Gemeindezusammenkünfte oder des sorbischen evangelischen Kirchentages.

In der DDR-Nationalitätenpolitik hatte die symbolhafte Verwendung der sorbischen Sprache stark zugenommen. So wurden zweisprachige Beschriftungen der staatlichen Einrichtungen und Betriebe eingeführt, Ortschaften, Wegweiser, Straßen und Plätze zweisprachig beschildert. Überdies kamen in der politischen Agitation sorbische Plakate und Transparente zum Einsatz. Diese – in ihrer Bedeutung für die sorbische Identität durchaus zu begrüßende -- Nutzung des Sorbischen ist auch nach der Wende beibehalten worden, wobei sich ihr Umfang allerdings deutlich reduziert hat. So verschwanden zweisprachige Aufschriften oft im Zuge der Privatisierung von Betrieben und Handelseinrichtungen. Für öffentliche Institutionen ist die Zweisprachigkeit gesetzlich festgelegt und wird in der Regel eingehalten. In Werbung und politischer Agitation findet Sorbisch in der deutschsprachig dominierten Region nur punktuelle Verwendung, beispielsweise in der Wahlpropaganda.

Im sorbischsprachig dominierten Teil der Oberlausitz stellt sich die Sprachsituation deutlich günstiger dar. Gewisse Veränderungen in der Anwendung der sorbischen Sprache, wie sie sich vor allem in der jüngeren Generation abzuzeichnen beginnen, schlagen sich noch nicht in qualitativen Einschnitten nieder. Sorbische Grund- und Mittelschulen sowie das Sorbische Gymnasium in Bautzen besuchen ca. 1.500 Schüler. In den meisten Kindergärten erfolgt die Betreuung der Kinder in sorbischer Sprache. Für mehr als zwei Drittel der ca. 15.000 sorbischsprachigen Einwohner ist die sorbische Sprache sowohl Alltagssprache in den Familien als auch in außerfamiliären Bereichen, darunter auch regelmäßig im Gottesdienst der katholischen Kirche. Sorbisch wird nicht nur in den sorbischen Vereinen, sondern auch in herkömmlichen dörflichen Gemeinschaften (Feuerwehr, Sportverein, Skatrunde in der Gaststätte usw.) gesprochen.

Sowohl durch die Familie, durch die Ausbildung an sorbischen Schulen als auch durch die Verknüpfung von sorbischer nationaler Identität und Religion in der Diaspora gelangen im sorbisch-katholischen Gebiet spezifische Mechanismen des Spracherhalts zur Wirkung. Dazu gehört vor allem die generell gesicherte Sprachkompetenz, d. h. die Bewohner sind in der Lage, zu allen Lebensbereichen in sorbischer Sprache zu kommunizieren. Das Sorbische ist in diesem Gebiet normale Umgangssprache und wird als solche traditionell akzeptiert. Bestimmte informelle Normsetzungen und Kontrollmechanismen in den Dorfgemeinschaften wirken einer Abkehr vom Sorbischen entgegen. Von Bedeutung ist auch die von den kirchlichen Autoritäten ausgehende Wertschätzung für die sorbische Sprache. Darüber hinaus beeinflussen „Partnerzwang" (mit dem sorbischen Pfarrer, Lehrer usw. gehört es sich, sorbisch zu reden) und „Situationszwang" (es gehört sich, den sorbischen Gottesdienst zu besuchen, in Versammlungen wird sorbisch gesprochen etc.) die breite Anwendung der sorbischen Sprache. Allerdings sind gewisse Tendenzen der „Aufweichung" in der Sprachanwendung – vor allem bei Jugendlichen, die nicht mehr in der Lausitz beruflich tätig sein können, sowie in ethnisch gemischten Familien – zu beobachten. In einzelnen Fällen werden Kinder aus diesen Familien nicht an den örtlichen sorbischen Schulen angemeldet bzw. besuchen deutsche Gymnasien.

Das öffentliche Leben ist in dieser Region generell deutlicher bilingual als in der deutsch dominierten Region. Festlegungen zur Zweisprachigkeit werden weitgehend eingehalten, die sorbische Sprache wird in den Gemeindeverwaltungen und Gemeinderäten als mündliches, in einigen Gemeinden auch als schriftliches (Aushänge, Bekanntmachungen, Gemeindezeitung) Kommunikationsmittel genutzt. Zweisprachigkeit in der Beschriftung ist überall vorhanden, auch die meisten private Betriebe und Handelseinrichtungen verwenden die sorbische Sprache bei der Kennzeichnung, in der Werbung, im Verkehr mit Kunden sowie in der Kommunikation mit Mitarbeitern. Zahlreiche sorbische Kulturgruppen fördern das bikulturelle und bilinguale Bild der Region. Die politischen Parteien und Wählervereinigungen nutzen die sorbische Sprache in ihrer politischen Arbeit. In Panschwitz-Kuckau, Crostwitz, Ralbitz-Rosenthal und Puschwitz bestehen sorbische Wählervereinigungen, die in den Gemeindeparlamenten vertreten sind. Ein Sorbe ist im Kreistag in Kamenz Abgeordneter eines Sorbischen Wählervereins.

Sorbische Schulen und sorbischer Unterricht in der Lausitz

Zur Förderung der Sorben in der DDR gehörte die Einrichtung eines sorbischen Schulwesens. Sie ging zurück auf einige elementare Möglichkeiten zur Vermittlung sorbischer Sprachkenntnisse, die vor allem in Sachsen bis 1937 bestanden. Unmittelbar nach Kriegsende setzten sich u. a. Pawo³ Nedo, Dr. Jan Cyž, Jan Meškank, Micha³ Nawka und Pawo³ Nowotny dafür ein, die sorbischen Kinder in ihrer Muttersprache zu bilden. Bald begannen zahlreiche Lehrer in den Kreisen Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda mit dem Sorbischunterricht. Das im Januar 1946 zur Ausbildung von Neulehrern gegründete Lehrerbildungsinstitut in Radibor profilierte sich als Ausbildungsstätte vor allem sorbischer Lehrer, im gleichen Jahr nahm die Sorbische Oberschule in Bautzen den Schulbetrieb auf. Alle diese Neuerungen, die sich zunächst auf den Kreis Bautzenkonzentrierten, wo Dr. Jan Cyž als Landrat fungierte, besaßen zunächst keine bzw. nur unzureichende gesetzlichen Grundlagen. Mit dem Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung fand der Sorbischunterricht seine juristische Absicherung. Dem auf Grundlage des Gesetzes gebildeten Sorbischen Volksbildungsamt kam u. a. die Aufgabe zu, das sorbische Schulwesen zu entwickeln.

1952 erließ der Minister für Volksbildung der DDR eine Direktive für das sorbische Schulwesen, die für die kommenden zwölf Jahre die Grundsätze der Schulpolitik in der Lausitz festlegte. Danach war der Sorbischunterricht für sorbische Kinder obligatorisch, deutsche Kinder konnten sich fakultativ daran beteiligen. Die sorbische Sprache wurde in allen Schulen des deutschsprachig dominierten Gebietes (als B-Schulen bezeichnet) als Zweitsprache mit wöchentlich bis zu sechs Stunden gelehrt. Für die Schulen der sorbisch dominierten Region wurde der Status einer sorbischen Schule (als A-Schule bezeichnet) eingeführt; hier wurde zunächst in allen Fächern auf Sorbisch unterrichtet. Den Status der A-Schule hatte darüber hinaus die sorbische Oberschule in Bautzen. Vor allem in der Niederlausitz und um Weißwasser waren beträchtliche Anstrengungen erforderlich, um das sorbische Schulwesen aufzubauen. 1952 wurde die Sorbische erweiterte Oberschule in Cottbus eröffnet, die zunächst neben niedersorbischen Schülern auch solche aus der Oberlausitz unterrichtete.

Die Einführung und Erhaltung der sorbischen Schulen und des Sorbischunterrichts war stets von ideologischen und organisatorischen Schwierigkeiten begleitet. So gab es bei Eltern die verschiedensten Bedenken, aber auch Aversionen und offene Ablehnung des Sorbischunterrichts, von einigen Lehrern und Schulleitern wurden die bestehenden Vorschriften nicht eingehalten. Andererseits forderten sorbische Pädagogen, Wissenschaftler und Nationalitätenpolitiker wiederholt effektivere Strukturen, um dem Anspruch, die Kinder zweisprachig auszubilden, tatsächlich gerecht zu werden. Seitens der SED-Führung und des Staates war man bestrebt, möglichst keine weitreichenden Zugeständnisse an die Sorben zu machen und zu vermeiden, dass sorbische Vertreter einen zu großen Einfluss auf Schulfragen erhielten.

Bei der Einführung der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule kam es 1962 zur folgenreichsten Demontage des sorbischen Schulwesens in der DDR, nämlich zur Beseitigung der sorbischen Sprache als Unterrichtssprache in den naturwissenschaftlichen Fächern auch an den sorbischen Schulen. Inwieweit diese Maßnahme pädagogisch gerechtfertigt war, ist noch nicht wissenschaftlich untersucht. Tatsache ist, dass dieser Neuregelung keine veröffentlichte Analyse von Lernergebnissen der sorbischen Schüler und von möglichen Problemen in der späteren Berufsbildung voranging und dass die Maßnahme nicht mit den betroffenen Lehrern vorbereitet wurde. Den offiziellen Begründungen stand entgegen, dass bis dahin auch Schüler, die eine naturwissenschaftliche Ausbildung in Sorbisch erhielten (wobei stets die entsprechende deutsche Terminologie vermittelt wurde), in allen Bildungsgängen (Berufsausbildung, Fachschule, Hochschule) naturwissenschaftliche Disziplinen erfolgreich belegten. Von den sorbischen Lehrern wurde die Neuregelung sehr differenziert aufgenommen. An einigen Schulen wurde sie begrüßt, anderswo, wie beispielsweise in Ralbitz, als eklatante Verletzung des Sorbengesetzes empfunden. Die nationalitätenpolitische Auswirkung bestand darin, dass die Stellung der sorbischen Sprache gerade im noch relativ intakten sorbischsprachigen Einzugsgebiet der A-Schulen erheblich beeinträchtigt wurde. Daher verwundert es nicht, dass in einigen Dörfern nun Forderungen auftraten, die sorbischen Schulen aufzugeben und die sorbische Sprache – wie in der übrigen Lausitz – nur noch als Unterrichtsfach zu erteilen. Solchen Forderungen wurde aber weder seitens der staatlichen Behörden noch seitens der Domowina entsprochen.

Zwei Jahre darauf, 1964, folgte ein weiterer gravierender Einschnitt in den Status der sorbischen Sprache an den Schulen im zweisprachigen Gebiet. Es wurde eine Verordnung erlassen, die faktisch zur Abschaffung der sorbischen Sprache als Zweitsprache in allen B-Schulen führte. Obgleich die Teilnahme am Sorbischunterricht in der ganzen Lausitz stabil war bzw. anstieg, konnten dennoch an einigen Schulen, vor allem in der Niederlausitz, die gesetzlichen Bestimmungen nicht eingehalten werden. In einigen Gemeinden, beispielsweise in Königswartha und Neschwitz in der Oberlausitz, kam es zu antisorbischen Emotionen: deutsche Eltern und regionale Funktionäre traten vehement dagegen auf, dass praktisch alle Kinder Sorbischunterricht erhielten, deren Eltern dies nicht ausdrücklich ablehnten.

Die Befürworter des Sorbischunterrichts wurden zunehmend in die Defensive gedrängt. Ihnen blieben nur „moralische" Argumente, da immer deutlicher wurde, dass das tatsächliche gesellschaftliche Interesse am Sorbischunterricht und an Zweisprachigkeit beständig abnahm. Fehlende Konzeptionen für ein reales zweisprachiges Leben in der Lausitz wirkten sich demotivierend aus.

Die neue Durchführungsbestimmung legte fest, dass bis zum 30. Juni 1964 durch einfache Befragung der Eltern zu ermitteln sei, welche Kinder weiterhin am Sorbischunterricht teilnehmen wollten. Die bisherigen Anmeldungen, denen zumeist eine ausführliche Beratung der Eltern vorausgegangen war, wurden faktisch per Dekret für ungültig erklärt. Eine sachkundige Information der Eltern über den Sorbischunterricht fand nicht statt und war auf Grund der Zeitvorgabe auch nicht möglich; der Domowina wurde untersagt, über diese Angelegenheit mit den Eltern zu sprechen. Der Sorbischunterricht wurde im Umfang auf durchschnittlich zwei bis drei Wochenstunden – zuvor fünf bis sechs – reduziert, als Gruppenunterricht und nicht mehr in Klassenverbänden erteilt. In Zahlen wirkte sich die Durchführungsbestimmung entsprechend drastisch aus: 1962 erhielten 12.000 Schüler sorbischen Sprachunterricht, 1964 3.200 Schüler. In den folgenden Jahren sank die Teilnehmerzahl auf unter 2.800. Die verminderte Stundenzahl führte zu einem deutlichen Absinken des Ausbildungsniveaus. Die Schüler, die nicht bereits mit Vorkenntnissen aus dem Elternhaus ausgestattet waren, beendeten den Unterricht ohne reale kommunikative Fähigkeiten. Die Festlegung von 1964 wurde weder von der Domowina noch von sorbischen Lehrern und Intellektuellen widerspruchslos hingenommen. In Kreisen der Eltern gab es dagegen verhaltene Reaktionen, nur besonders engagierte Sorben traten gegen die neue Bestimmung auf.

1968 trat an die Stelle jener Durchführungsbestimmung eine neue Regelung. Sie modifizierte einiges, doch in den grundsätzlichen Fragen (Teilnahmeprinzip, Lehrziel, Stundenvolumen und Gruppenunterricht) gab es keine Veränderungen. Tatsächlich wurde lediglich das Umfeld für den Sorbischunterricht etwas günstiger, und die Gewinnung von Teilnehmern wurde nun zu einer Zielgröße in der Zusammenarbeit von Schule und Domowina. Die Schulen wurden zur Beratung der Eltern verpflichtet – einer der wesentlichen Diskussionspunkte des Jahres 1964. Bereits auf dem 7. Kongress im Jahre 1967 hatte der 1. Bundessekretär Jurij Grós die Domowina aufgefordert, sich mehr um das Erlernen und die Anwendung der sorbischen Sprache zu bemühen. Die neue Regelung eröffnete hier einige Möglichkeiten. Dazu gehörten die Einrichtung von speziellen Ferienlagern für sorbische Kinder und Teilnehmer am Sorbischunterricht, die Durchführung von Festen und Olympiaden der sorbischen Sprache und die verstärkte Einbeziehung der sorbischen Kultur in die schulische und außerschulische Arbeit. Dies alles wirkte sich positiv auf die Teilnahme und das Ausbildungsniveau im Sorbischunterricht aus. Seit Anfang der 70er Jahre lag die Teilnehmerzahl stets zwischen fünf- und sechstausend. Der Anstieg, faktisch eine Verdoppelung der Daten aus der Zeit der Verordnung von 1964, belegte das Interesse der Eltern an der Vermittlung sorbischer Sprachkenntnisse.

Zusammenfassend kann für die DDR bei aller Widersprüchlichkeit festgestellt werden, dass seit 1952 das grundsätzliche Recht der Sorben, ihre Kinder in Schulen mit Sorbischunterricht zu schicken, gesichert war. Vom Staat wurden die dazu erforderlichen rechtlichen Regelungen erlassen. Alle infrastrukturellen Erfordernisse des Sorbischunterrichts und des Unterrichts in sorbischer Sprache (Schulgebäude, Ausbildung von Fachlehrern, Bereitstellung von Lehrbüchern und Unterrichtsmitteln) wurden seitens der zuständigen staatlichen Stellen gewährleistet. Zunächst im Verlag Volk und Wissen, dem Schulbuchverlag der DDR, ab 1958 im Domowina-Verlag wurden die erforderlichen sorbischen Lehrbücher entwickelt und herausgegeben. Als ergänzende Lektüre erschienen die sorbischen Kinderzeitschriften „P³omjo" und „P³omje" und die Fachzeitschrift „Serbska šula". Im Einzugsbereich der sorbischen Schulen wurden Kindergärten mit zweisprachigem Personal und seit Beginn der 80er Jahre auch sorbische Kinderkrippen eingerichtet.

Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurden die in der DDR bestehenden schulpolitischen Regelungen für den Sorbischunterricht beibehalten und 1991/92 durch gesetzliche Bestimmungen der Länder Sachsen und Brandenburg aktualisiert. Entsprechend der föderalen Kompetenzverteilung sind in der Bundesrepublik Deutschland die Länder für das Schulwesen verantwortlich.

Abb.: Entwicklung der Teilnahme am Sorbischunterricht 1955 bis 1995

Die Schulgesetze Brandenburgs und Sachsens legen fest, dass im deutsch-sorbischen Gebiet allen Schülern deren Eltern dies wünschen die Möglichkeit zu gewähren ist, die sorbische Sprache zu erlernen bzw. in bestimmten Fächern in sorbischer Sprache unterrichtet zu werden. Es wird vom Status des Sorbischen als Muttersprache bzw. Zweitsprache (sorbischer Spracherwerb erfolgte im Vorschulalter und ist Voraussetzung für den Besuch einer sorbischen Klasse) oder als Fremdsprache (keine oder geringe Sorbischkenntnisse bei Schuleintritt) ausgegangen. Derzeit gibt es je sechs sorbische Grund- und Mittelschulen in Sachsen. An je vier von ihnen und am Sorbischen Gymnasium in Bautzen bestehen – geschuldet den sprachlichen Ausgangsbedingungen und Interessen der Eltern bzw. Schüler – sowohl Klassen mit sorbischer Unterrichtssprache als auch Klassen mit Sorbisch als Fremdsprachenunterricht. Lehrinhalte (z. B. für Literatur, Geschichte, Heimat- bzw. Gesellschaftskunde) und Stundentafeln sind entsprechend modifiziert. Sorbische Schulen oder Klassen besuchen gegenwärtig ca. 1400 Schüler.

In sorbischen Grundschulklassen kommt dem Sorbischunterricht eine Schlüsselstellung zu, da der gesamte Unterricht in allen Fächern in sorbischer Sprache erteilt wird. Deutsch wird als "zweite Muttersprache" unterrichtet wobei auch an Grundkenntnisse und Fertigkeiten aus dem Sorbischunterricht angeknüpft wird. Die Wochenstundenzahlen im Fach Sorbisch betragen je nach Klassenstufe vier bzw. fünf Stunden und im Fach Deutsch zwischen zwei und fünf Stunden. Um im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht ab der Mittelstufe in deutsch unterrichten zu können, werden Fachtermini auch in deutscher Sprache vermittelt.

Der Lehrplan für die sorbischen Mittelschulen in Sachsen misst der sorbischen Sprache besondere Bedeutung als Träger religiöser und kultureller Werte, Schlüssel des ethnischen Selbstverständnisses der Sorben sowie als Mittel der alltäglichen Kommunikation im sorbischsprachigen Umfeld bei. Neben sorbischem Sprachunterricht – wöchentlich zwei bzw. drei Stunden – werden die musischen und geisteswissenschaftlichen Fächer und in Klasse 5 bis 7 Biologie sorbisch unterrichtet.

In der Sekundarstufe 1 des Sorbischen Gymnasiums in Bautzen gelten die gleichen Vorgaben. Im Interesse der Entwicklung der sorbischsprachigen Fertigkeiten der Schüler ist jedoch Flexibilität in der Wahl der Unterrichtssprache möglich. In der gymnasialen Oberstufe werden die sorbischsprachigen Kenntnisse und Fertigkeiten umfassend ausgebaut und durch eine schriftliche Arbeit belegt. Es besteht die Möglichkeit, Abiturprüfungen in sorbischer Sprache abzulegen.

In Brandenburg gelten als „sorbische Schulen“ Bildungseinrichtungen, die obligatorischen niedersorbischen Unterricht anbieten. Derzeit ist dies nur am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbus der Fall.

An weiteren Schulen im deutsch-sorbischen Gebiet wird Sorbischunterricht ab Klasse 1 angeboten. Die Teilnahme ist fakultativ, unterrichtet wird in Gruppen. In Sachsen nehmen ca. 2000 Schüler an diesem Unterricht, vornehmlich an den Grundschulen und am Sorbischen Gymnasium in Bautzen, teil. In Brandenburg stieg die Schülerzahl am Sorbischunterricht von 600 (1990) auf 1580 (2000). Der Sorbischunterricht ist als Fremdsprachenunterricht konzipiert und vor allem auf die Entwicklung des Rezeptionsvermögens ausgerichtet. Mit Abschluss des Grundschulkurses sollen gemäß dem sächsischen Lehrplan 500 lexikalische Einheiten produktiv und 350 rezeptiv angeeignet worden sein. In Brandenburg sind quantitative Größen nicht festgelegt, der Lehrplan für die Primarstufe nennt als Ziel dem Alter gemäße einfache sprachliche Kompetenz. In der Mittelschule bzw. am Gymnasium sollen die Schüler in Sachsen 1200 weitere lexikalische Einheiten produktiv und 900 rezeptiv beherrschen und einfache Aussagen schriftlich niederlegen können. Damit sollen sie befähigt werden, einfache sorbischsprachige Alltagssituationen zu bewältigen. Unterrichtet werden je nach Klassenstufe zwischen einer und drei Stunden wöchentlich. In Brandenburg besitzt der Sorbischunterricht in der Sekundarstufe II bzw. in der gymnasialen Oberstufe den Status der 2. Fremdsprachenausbildung. Dementsprechend sind die Ziele des Unterrichts darauf ausgerichtet, „Realsituationen“ bewältigen zu können.

Die Ergebnisse des Sorbischunterrichts an den „weiteren Schulen“ sind, vor allem hinsichtlich aktiven Kommunikationsvermögens, unbefriedigend. In Regionen mit sorbischer Alltagskommunikation befördern sie eher die Abkehr vom Sorbischen, in den übrigen Regionen tragen sie nicht tatsächlich zum Spracherhalt bei.

Um die Möglichkeiten des Besuchs sorbischer Schulen oder Klassen zu erweitern, die Qualität der im Sorbischunterricht erworbenen Sprachkenntnisse zu erhöhen und um nicht zuletzt den wegen permanent sinkender Schülerzahlen gefährdeten Bestand an sorbischen Schulen zu halten, wurden vom Sorbischen Schulverein e. V. Modelle einer auf der Methode der Immersion beruhenden sorbischsprachigen Betreuung der Vorschulkinder entwickelt. Entsprechende Kindergärten gibt es seit 1998, im Jahre 2000 soll auf dieser Grundlage in Brandenburg erstmals eine Schülergruppe gebildet werden, die nach den Prinzipien der sorbischen Schule unterrichtet wird.

1946 wurde das Sorbische Lehrerbildungsinstitut für die Ausbildung von Lehrern an den sorbischen Schulen und sorbischsprachigen Kindergärtnerinnen gegründet. Seit Mitte der 60er Jahre erfolgte die Ausbildung der Lehrer für die Oberstufe – und nach Auflösung des Lehrerbildungsinstituts 1991 auch der Grundschullehrer – am Institut für Sorabistik der Universität Leipzig. Wegen der rasch wachsenden Teilnehmerzahlen am Sorbischunterricht und im Blick auf die Perspektive der Einrichtung sorbischer Klassen bzw. Schulen in Brandenburg, sind 1999 auch an der Universität Potsdam entsprechende Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten eingerichtet worden.

Abb.: Verteilung der Teilnehmer am Sorbischunterricht auf Schultypen

Während in der Vergangenheit der Sorbischunterricht regulärer Gegenstand schulpolitischer und schulorganisatorischer Qualifizierungsarbeit war, lag die Verantwortung für viele Fragen zwischen 1991 und 2000 beim institutionell staatlich geförderten Sorbischen Schulverein e.V. Dieser war allerdings weder personell noch inhaltlich in der Lage, die Einhaltung der Schulgesetze und weiterer Verordnungen effektiv zu beeinflussen. Seit 2001 obliegen diese Aufgaben dem Sorbischen Sprachzentrum „Witaj“.

Die Vermittlung von sorbischen Sprachkenntnissen im Rahmen der Erwachsenenbildung wurde bis 1991 von den Sorbischen Sprachschulen in Milkel (für die Oberlausitz) und in Dissenchen (für das niedersorbische Sprachgebiet) gesichert. Bis 1989 wurde die Teilnahme an Sprachlehrgängen stimuliert, zum Teil war der Besuch dieser Schulen Bestandteil der beruflichen Qualifizierung (z. B. für Angestellte von Behörden oder an sorbischen Institutionen). Darüber hinaus nutzten immer wieder Privatpersonen die Möglichkeit, auf diesem Wege sorbische Sprachkenntnisse zu erwerben oder zu festigen. Nach 1991 ging das Interesse an solchen Lehrgängen stark zurück. Die niedersorbische Sprachschule ging als „Schule für niedersorbische Sprache und Kultur" in die Trägerschaft der Volkshochschule Cottbus über. Durch die Verknüpfung von Sprach- und anderen sorbischkundlichen Kursen gelang es dieser Institution, ein eigenes Profil zu gewinnen und eine ausreichende Interessentenzahl zu erreichen. In der Oberlausitz beendete die Sprachschule Milkel 1992 ihre Tätigkeit, ohne dass ein Äquivalent geschaffen wurde. Sprachkurse werden nach Bedarf von den Volkshochschulen angeboten, ohne dass dafür jedoch effektive Zielgruppenarbeit betrieben wird.

Das sorbische Schulwesen steht in den kommenden Jahren vor erheblichen Problemen. Diese ergeben sich aus unterschiedlichen, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren. Sie kulminieren in beständig sinkenden Schülerzahlen. Damit können künftig selbst bei Beibehaltung von Ausnahmebestimmungen die Mindestschülerzahlen für einige sorbischen Schulen nicht mehr gehalten werden und es droht die Schließung solcher Schulen. Dem steht die allgemein anerkannte identitätsstiftende und –erhaltende Bedeutung dieser Schulen in den Regionen entgegen – kommt es zur Schließung solcher Schulen kann es zu einem weiteren Rückgang der sorbischen Sprache und zur Assimilation auch in anderen Bereichen des regionalen gemeinschaftlichen Lebens führen. Die sorbische Öffentlichkeit protestierte dagegen im Januar 2000 mit Kundgebungen und Demonstrationen in Chrósæicy/Crostwitz, in Budyšin/Bautzen und in der Landeshauptstadt Dresden/DrjezdŸany. Trotz massiver Protestaktionen, darunter die zeitweilige Besetzung der Schule sowie ein Streik an allen sorbischen Schulen in Sachsen konnte im Herbst 2001 jedoch nicht verhindert werden, dass an der sorbische Mittelschule in Crostwitz/Chrosæicy keine neue fünfte Klasse eingeschult und damit das allmähliche Ende dieser Schule eingeleitet wurde.

Auf der Suche nach neuen Wegen zur Erhaltung bzw. Revitalisierung der sorbischen Sprache wurde vom Sorbischen Schulverein die Initiative „Witaj“ (zu deutsch „Willkommen“) ausgelöst. Hierbei wird daran angeknüpft, das Spracherwerb im Vorschulalter nicht durch „erlernen“ erfolgt, sondern durch das „Eintauchen“ (Immersion) in eine bestimmte sprachliche Umwelt. Deshalb richtet sich diese Initiative nicht ausdrücklich an sorbische oder gemischtethnische Familien sondern sie ist allen Interessierten offen. Anknüpfend an moderne Erkenntnisse über den Spracherwerb im Vorschulalter und Erfahrungen der bretonischen Minderheit in Frankreich wurden seit 1998 Kindergartengruppen eingerichtet, die den Kindern dieses „Eintauchen“ in eine sorbische Sprachumwelt ermöglichen sollen, indem alle wichtigen Bezugspersonen ausschließlich die sorbische Sprache nutzen. Da Kinder ein natürliches Verhältnis zu Sprachen besitzen, ist bereits nach kurzer Zeit zu beobachten, dass das sorbischsprachige Umfeld im Kindergarten und die deutsche Umgangssprache in der Familie weitgehend mühelos gemeistert werden. Es wird angestrebt, dass Kinder aus diesen Kindergärten die Voraussetzungen dafür erfüllen, an sorbischen Schulen bzw. in sorbischen Klassen unterrichtet zu werden. Dies soll, falls es gelingt die beachtlichen Anfangserfolge (Anfang 2002 besuchten über 200 Kinder solche Kindergärten).zu stabilisieren, zu einer Zunahme der Schülerzahlen an den bestehenden sorbischen Schulen und zur Errichtung weiterer sorbischer Klassen in Regionen, die bisher lediglich Sorbisch als Fremdsprache angeboten haben, führen.

 


 

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