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TIA Janus

Dragan Stojanović

Ironie und Bedeutung

Verlag Peter Lang.
Bochumer Schriften zur Deutschen Literatur
band 21, 1991.

 

INHALT

 


Einleitung

Die ursprüngliche serbokroatische Fassung dieses Buches (Belgrad 1984) beginnt mit einem einleitenden Kapitel, das hier ausgeblieben ist. Dort sind zahlreiche Formulierungen darüber, was "Ironie" ist, angeführt und vergleichend analysiert - von Aristoteles bis Friedrich Schlegel und von Theophrastos bis Quintillian, Pascal und Hegel, Kiekegaard oder Thiriwall und Thomas Mann -, und zwar nicht so sehr, um eine Klassifikation der "Definitionen" und Meinungen über die Ironie zu versuchen, sondern vor allem mit der Absicht zu zeigen, daß hinter demselben Wort bzw. Terminus verschiedene Begriffsinhalte stehen. Von einer Identität dieser Inhalte kann kaum die Rede sein, und selbst ihre Verwandtschaft kann, wenn sie denn besteht, höchstens durch komplizierte begriffliche Vermittlungen begründet werden. Es kam zu verschiedenen Verwirrungen, wenn man die Ironie als rhetorische Figur (oder Tropus) zusammendachte mit der Ironie als Wahrheitssuche, Lebensstil, Übermachts- oder Schwächezeichen in psychologischer Sicht, ethische Einstellung, als Weltprinzip, als "romantische" Ironie was das auch bedeuten mochte -, als Eros, "Geist", "Bewußtsein" usw. usf. Solches "Zusammendenken" war allerdings oftmals auch anregend und zeitigte neue und interessante Ideen in verschiedenen Gebieten der geistigen Schöpfung. Nur hat - nicht selten - die oft vollkommen unreflektierte Selbstverständlichkeit des jeweiligen Verständnisses der Ironie in einem bestimmten Zusammenhang in eine "Essayistik" geführt, in der man, wenn es darauf überhaupt ankommt, letzten Endes nicht mehr weiß, worüber tatsächlich die Rede war und welchem Phänomen die vorliegenden Behauptungen eigentlich gelten. Ein schon bestehender, im tradierten Wissen schon enthaltener Begriff der Ironie spielt insofern eine Rolle, als ohne ihn ein Verständnis dessen, was sich in einer neuen begrifflichen Artikulation entwickelt, schwer möglich wäre; seine negative Seite besteht im spontanen Übertragen der Elemente des schon vorhandenen (etwa rhetorischen) Verständnisses der Ironie auf ein neues Phänomen (etwa autokritische schöpferische Fähigkeit im Sinne Schlegels, Ironie als "epideixis der Unendlichkeit" usw.). Der Faktor der Negation, der fast immer in verschiedenen "Ironien" auf diese oder jene Weise da ist, genügt nicht, um die Ironie als solche "entdecken" oder bestimmen zu können. Es handelt sich um verschiedene Negationen und folglich um verschiedene Phänomene, die alle "Ironie" heißen. Um daraus stammende Verwirrungen zu vermeiden und zugleich auf die Gefahr hin, auf das Anregende und Allumfassende in der Beschreibung und im gemeinsamen Durchdenken verschiedener Arten von Ironie verzichten zu müssen, wurde hier die Entscheidung getroffen, die Semantik der Ironie, so wie sie im geschriebenen Text oder im Reden erscheint, zu untersuchen, was, wie sich gezeigt hat, auch zu verschiedenen hermeneutischen Fragen oder Problemen führte. Alles andere - Ironie als Mittel der Wahrheitssuche, als Eros, als epideixis der Unendlichkeit, als Freiheit, als "Schamhaftigkeit" des Geistes, als Ironie des Schicksals und was dergleichen mehr ist - bleibt anderen Forschern überlassen, nicht ganz ohne die Hoffnung übrigens, daß gerade eine wissenschaftlich begründete, behutsame semantisch-hermeneutische Analyse ihnen auch etwas anzubieten hat. So dürfte nicht nur mehr Klarheit oder Ordnung, sondern auch mehr Zuversichtlichkeit im Betrachten der Ironie zustande kommen. Aus diesem Grunde auch war sich hier der theoretisch verbindenden, also allgemein geltenden Ausführungen über die Funktionen der Ironie zu enthalten. Eine Analyse der möglichen Funktionen kann nämlich nur dann korrekt sein und zutreffen, wenn sie an ganz konkretem Material vorgenommen wird. Nur weniges kann im allgemeinen darüber gesagt werden. Nicht also alle denkbaren Funktionen der Ironie, wohl aber ihre semantischen Möglichkeiten und Effekte, von denen alle ihre Funktionen direkt abhängen, beschreiben zu wollen, war einer der leitenden Gedanken dieser Arbeit. In deutscher Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger breiten Überblicken über verschiedene Auffassungen der Ironie. Man hat in diesen Schriften manchmal auch versucht, bestimmte mit ihr verbundene theoretische Probleme festzustellen und zu lösen. Hier seien die Arbeiten von Ribbeck[1], Walzel[2], Allemann[3], Strohschneider-Kohrs[4], Pöggeler[5] und Japp[6] erwähnt. Besonders ist auf das nicht sehr umfangreiche aber umso nützlichere Buch von Ernst Behler Klassische Ironie - Romantische Ironie - Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe[1] hinzuweisen. Schließlich sind viele ursprüngliche Texte, die sich mit der Ironie befassen oder denen sie, wie bei Solger, sogar zugrunde liegt, auf deutsch geschrieben. Deshalb wurde auf das erste Kapitel der serbokroatischen Ausgabe verzichtet. Was bei den erwähnten Autoren fehlt oder rudimentär bleibt, genauso wie bei Jankélévitch[8], Knox[9], Boom[10] ..., ist gerade eine Semantik der Ironie. - Warum ist sie wichtig?

Die Untersuchung des Ironie-Phänomens aus der semantischen Sicht wirft ein neues Licht auch auf die Kommunikation, das Verstehen und das Deuten überhaupt als Elemente der menschlichen Kultur. Die Erhellung der Bedingungen für das Verstehen eines ironischen Textes setzt die Erklärung der besonderen Bewegung und Tätigkeit des verstehenden Bewußtseins voraus, die im "gewöhnlichen" Verstehen nicht vorhanden sind. Die Möglichkeit, aus dem Bestehen dieser spezifischen Bewegung und Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins bestimmte prinzipielle Schlüsse zu ziehen, die Untersuchung von prinzipiellen Folgen des Bestehens bzw. der Möglichkeit des Bestehens eines solchen Phänomens in der "Welt der Bedeutung", wie die Ironie es darstellt, ist eine Anregung und ein Grund für die Ausführung einer Semantik der Ironie. Die Erörterung der übrigen Inhalte, die in der Geschichte den Titel Ironie beanspruchten, wenn sie einmal, sei es auch nur in allgemeinen Zügen, gegeneinander abgegrenzt sind, darf man dann auch beiseite lassen, gerade in Anbetracht der Möglichkeit, die allgemeinen Probleme des Verstehens aus einer Perspektive zu erörtern, in der sie nicht nur schärfer zu sehen sind, sondern dank dieser Perspektive sie überhaupt erst irgendwie sichtbar werden: die analytische Arbeit an der Semantik der Ironie entdeckt neue theoretische Aufgaben.

Diese Arbeit richtet sich auf drei Grundfragen: l) wann liegt Ironie im Text vor; 2) welche Folgen hat dies für den Sinn des Textes; 3) was geht aus der Tatsache hervor, daß so etwas wie Ironie überhaupt möglich ist; auf welche allgemeinen Probleme weist das Bestehen des Phänomens der Ironie in der "Welt der Bedeutung" hin?

1 Otto Ribbeck, Über den Begriff des eiron. Rheinisches Museum N. F. 31 (1876), S. 381 ff.

2 Oskar Walzel, Methode? Ironie bei Friedrich Schlegel und bei Solger, in: Helicon I (1938), S. 33 ff.; Deutsche Romantik, Leipzig und Berlin 41918.

3 Beda Allemann, Ironie und Dichtung, Pfullingen 21969.

4 Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 21977.

5 Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, Bonn 1956; Ist Hegel Schlegel? in: "Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde", Stuttgart 1983, S. 325 ff.

6 Uwe Japp, Theorie der Ironie, Frankfurt/M 1983.

7 Darmstadt 1972.

8 Vladimir Jankélévitch, L'Ironie, Paris 1964.

9 Norman Knox, The Word Irony and its Context 1500-1755, Durham, North Carolina 1961.

10 Wayne C. Booth, A Rhetorc of Irony, Chicago and London 1975.

 


Verstehen und Deuten

l. Verstehen der Ironie - Vorausblick

Ironie erscheint sowohl beim Reden als auch im schriftlichen Text. Den alten Rhetorikern schwebte hauptsächlich die Situation vor, daß streitende Parteien einander zu besiegen trachten, so daß sie zu diesem Zweck die rhetorischen Kunst benötigen; sie ist ihre "Waffe". Die Ironie erscheint für sie – wie auch andere Figuren – vor allem im Rede-"Text".

Auch dann, wenn man die Ironie als (dialektisches) Mittel bei der Suche nach der Wahrheit betrachtet, dessen sich Sokrates, nach Erkenntnis strebend, mit so großem Erfolg bediente, handelt es sich um das Gespräch, den Dialog, also um das Reden.

Der modernen Semiologie, Hermeneutik, Literaturwissenschaft, Literaturkritik und auch der Ideologie ist mehr an schriftlichen Texten gelegen und also auch an der Einsicht in die Ironie, die darin erscheint oder erscheinen kann. Eine Analyse, die die semantischen Aspekte der Ironie in diesen beiden Gebieten, dem des Gesprochenen und dem des Geschriebenen, behandelt, muß sich zunächst auf das jeweils Spezifische und auf die gegenseitigen Beziehungen beider konzentrieren. Das soll zur Antwort auf die Frage führen: Was wollte man sagen (mitteilen und manchmal auch tun, im Sinne J. Austins) und was kann (bzw. soll oder muß) man verstehen, wenn es sich um das Reden und wenn es sich um einen Text handelt? Um hierauf eine Antwort zu erhalten, muß man sich auch mit der Beziehung des Autors zum geschriebenen und zum gesprochenen Text beschäftigen. Das Dreieck: der Verfasser, seine geschriebene und seine mündliche Formulierung bestimmt den Boden der vorherigen Erörterung, welche eine Analyse der Ironie ermöglicht. In diesem Dreieck erscheinen mehrere einzelne, miteinander verbundene Themen, die theoretisch zu betrachten sind. Eines der ältesten - wenigstens in der europäischen Tradition - ist das Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit des geschriebenen Textes. Die Befürchtung, daß eine bestimmte Sprachformulierung nur ein "toter Buchstabe" bleibt, das grundsätzliche Mißtrauen gegen die Möglichkeit des Geschriebenen gegenüber dem Vertrauen auf das Gesprochene bedeutet indes nicht nur die Rückkehr zu den alten Auseinandersetzungen, die vorwiegend eine historische und pädagogische Bedeutung haben. Diese Befürchtung und dieses Mißtrauen sind gerade die Antriebe einiger gegenwärtiger philosophischer und wissenschaftlicher Unternehmungen. Der Frage nach einer eigenartigen Unwirksamkeit des Geschriebenen entgegengesetzt, erscheint in unumgänglicher Folge die nicht weniger bedeutende Zwillingsfrage nach der Sicherung der Beständigkeit und Identität des Sinnes einer sprachlichen Formulierung und nach der Rolle der Schrift dabei. Verba volant, scripta manent. Damit ist zwar nicht gesagt, daß es ohne weiteres und in jedem Fall unmöglich ist, dasjenige, was die Bedeutung herstellt oder lenkt, sie von anderen Bedeutungen abgrenzt oder sogar ihre Identität sowohl in der Zeit, als auch für verschiedene Menschen, die sie verstehen, verbürgt, derart zu bestimmen, daß es der mündlichen und der schriftlichen Sprachformulierung gemeinsam wird. Aber selbst dann, wenn eine solche bestimmende, für eine derartige Verbürgung geeignete Grundlage besteht, und wenn es möglich ist, sie zu beschreiben, ist die Rolle der Schrift bei der Sicherung der Beständigkeit und der Identität des Sinnes eine besondere.

Damit im Zusammenhang steht auch die Frage nach der Art und Weise der Anwesenheit des Autors im geschriebenen und im gesprochenen Text, nach der Möglichkeit der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der Intention des Autors mit der Intention des Textes an sich. Was von der intentionalen Quelle, welche der Autor darstellt, im Text anwesend ist, woran diese Anwesenheit erkannt wird und wodurch überhaupt das Bestreben, dies festzustellen, bestimmt ist – für all dies ist es wichtig, gerade bei der Erforschung der Ironie sich im klaren zu sein, daß sie weder begriffen noch erklärt werden kann, wenn der Zusammenhang zwischen dem Text und dem entsprechenden Kontext, gleichviel ob mündlichem oder schriftlichem, nicht begriffen und erklärt wird.

Wenn derjenige, der einen ironischen Text formuliert, nicht nur eine bestimmte Intention in den Text "einbaut", sondern auch das Sinnpotential des Kontextes einbeziehen muß, und dies gerade deshalb, damit der Text jenem, der ihn verstehen soll, als ironisch erscheint, dann ist es von Bedeutung, ob er dabei glaubt, er sei in dem von ihm formulierten Text "anwesend", und ob seine Intention, als die Intention seines Textes, schon alleine die Sinnmöglichkeiten des Kontextes engagieren kann, was zur Entstehung des ironischen Phänomens unumgänglich ist, oder ob dazu eine besondere intentionale Tätigkeit nötig ist. Die Sache ist desto komplizierter, als derjenige, der einen mündlichen oder schriftlichen Text versteht, indem er ihn hört oder liest, auch selbst im eigenen Verstehen ein entsprechendes kontextuelles Sinnpotential engagieren und den Text ironisch verstehen kann, obwohl dies nicht die Intention seines Autors war.

Es ist also klar, warum das Unterscheiden von mündlichem und schriftlichem Text von Bedeutung ist. Der gesprochene Text wird der Regel nach in einem andersartigen Kontext verstanden als der geschriebene, so daß auch die Wechselbeziehungen beider mit den jeweiligen Kontexten entsprechend verschieden sind. Die Ironie in einer ironischen mündlichen Ausführung ist, semantisch gesehen, das gleiche Phänomen wie im geschriebenen Text (wobei sie als solche eine verschiedene Funktion haben kann), aber diese Ausführung entfaltet sich in der Unmittelbarkeit einer Situation und als einmaliges Ereignis, so daß die Intention der Ausführung in Berücksichtigung der Offenheit der Situation und der Unabgeschlossenheit des Ereignisses an Ort und Stelle sich den den Kontext bildenden Umständen anpaßt. Wenn es sich um ein Gespräch handelt, paßt sich die Intention der ironischen Ausführung seinem Verlauf an, kämpft gegen die anderen im Dialog artikulierten Intentionen, setzt sich ihnen entgegen, stimmt zu und ändert die Richtung und den Inhalt, solange die Artikulation andauert. Oft ist die Ironie auch selbst gerade ein Moment dieser Bewegung der Intention, mit der sie sich dem nicht voraussehbaren Gespräch anpaßt, indem sie diese Unberechenbarkeit beeinflußt oder schafft.

In der mündlichen Formulierung wird der Autor eher als Ganzes seiner konkreten Existenz mitverstanden als Quelle der Intention, die den Sinn des Gesprochenen unmittelbar bestimmt, als dies bei dem schreibenden Autor, dessen Artikulationswille den Text gestaltet, der Fall ist. Die Frage des Abstands – oder sogar der Kluft – zwischen der Quelle der Intention und dem Text stellt sich zugespitzt dar, denn der Text als schriftliche Formulierung kann weder einen Dialog führen, noch sich der Situation gemäß ändern. Er ist "fixiert", und eventuelle Änderungen sind nur auf Seiten jener möglich, die den Text verstehen. Die intersubjektive Zugänglichkeit des Textsinnes sollte seine Beständigkeit in der Zeit und bezüglich verschiedener Rezipienten voraussetzen. Die Antwort auf die Frage: was ist Ironie? führt zur Betrachtung eines spezifischen Spiels zwischen Text und Kontext, das also den Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung bildet, bestimmt durch den Fragenkreis nach Beständigkeit und Veränderlichkeit des Textsinnes.

Die Wahrnehmung jener Beziehungen zwischen Text und Kontext, die auch erst das Verständnis der Ironie im Text ermöglicht, ist die Grundlage für das Verstehen der in ihm wirkenden Ironie zu verschiedenen Zeiten. Der geschriebene Text "geht" durch die Zeit, während die Ironie in dem mündlich formulierten Text von der Unwiederholbarkeit der Situation, in der sich die Formulierung einmalig entwickelt, abhängt. (Die Wiederholung bzw. Wiederholbarkeit eines mündlich formulierten Textes – etwa im Gebet, das man flüstert, in den alltäglichen Begrüßungen, in den Militärberichten oder in anderen solchen Syntagmen – führt besondere Elemente in die Erforschung seines Sinnes ein. Grundsätzlich bedeutet auch hier die Wiederholung desselben Textes nicht notwendig, daß er auch denselben Sinn hat; der gewünschte Inhalt wird nicht nur durch die Bewahrung der Identität des Textes gesichert, sondern auch durch die Forderung eines bestimmten Verhältnisses zu ihm. Die Kirche etwa verlangt, daß das Gebet derart ausgesprochen wird, daß in die immer gleichen Worte die Seele des Betenden hineingetragen wird; ein "mechanisches" Aussprechen der bloßen Worte genüge nicht. Mutatis mutandis, auf ähnliche Weise soll man sich auch zum Eid, zu einigen Typen rechtlich relevanter Aussagen usw. verhalten.)

Die Frage ist also, was vom Wesen des Autors, von seinem Artikulationswillen, wirklich im Text gerettet ist. Andererseits jedoch ist es gewiß, daß der Text, seine textuelle Intention bewahrend, überdauert, abgesehen davon, daß die konkrete Autorenexistenz schwer und vielleicht überhaupt nicht in ihm erkannt werden kann, daß der Autor die "Quelle" des Sinnes ist, zu der es keine Rückkehr gibt. Die Individualität des Textes besitzt nicht den Charakter der Unwiederholbarkeit des Ereignisses, der einen Dialog auszeichnet, in dem zwei Stimmen, zwei Wesen in Aktion zusammenstoßen, und nicht nur ein den Sinn artikulierendes und ein anderes ihn verstehendes Bewußtsein. Im geschriebenen Text, in dem, wenigstens vom Standpunkt des Autors, eine solche im Dialog bestehende Intentionsbewegung und -änderung unmöglich ist – der Text ist nämlich stets derselbe, obwohl sein Sinn es nicht ist –, ist die Ironie nur eine Latenz, eine Möglichkeit, ein Vorschlag für den Leser, seinen Sinn auf bestimmte, ironische Weise aufzufassen, die übrigens, wenn das ironische Verstehen realisiert wird, auch von einem Fall zum anderen verschieden sein kann, je nach den Umständen des Lesens und des Lesers. Dies bedeutet dann, daß hier entweder die Anwesenheit des Autors (als Quelle der Intention) im Text anders vorausgesetzt wird als in der mündlichen Ausführung oder,daß sie überhaupt nicht vorausgesetzt wird, sondern man mit der Aktivität des Lesers im Verstehen rechnet, sowohl bezüglich des Textes selbst, als auch bezüglich seines Zusammenhanges mit dem Kontext; die Intention des Autors wird durch die Intention des Textes selbst ersetzt, und der Autor ist mit seiner Intention abwesend und unfaßbar, wenn er auch im Text manchmal zu vermuten ist, so wie der Atem des Redners, von dem die mündliche Ausführung unmittelbar getragen wird, abwesend und unfaßbar ist.

Die unwiderrufliche Abwesenheit des Autors ist sein Tod, der jedoch den Text selbst nicht bedroht. Indem er seinen Autor überlebt, trägt der geschriebene Text seinen Sinn durch die Zeit; jedoch ist seine Übereinstimmung mit der ursprünglichen Intention des Autors dabei immer weniger gewiß, wenn es überhaupt je möglich war, sie festzustellen. Wenn der Autor wünscht, mit Ironie verstanden zu werden, soll er – da er immer mit seiner Abwesenheit im Text rechnen muß, so wie der Mensch mit seinem Tod rechnen muß – den Text selbst derart ausstatten, daß die Ironie trotz dieser Abwesenheit verstanden werden kann, wegen der die wirkliche Intention des Autors sonst im Prinzip ungewiß ist. Welche Mittel ihm zu diesem Zweck zur Verfügung stehen, aber auch, mit welchen Mitteln der Text gegen eine ironische Relativierung gesichert werden kann, ist bei der Erforschung der Ironie eine besonders provokative Frage, da kein Text an sich, vielmehr erst, wie gesagt, immer im Hinblick auf einen Kontext ironisch ist, und da es nicht vorauszusehen und unberechenbar ist, in was für Kontexten sich der Text befinden kann.

Im Falle einer mündlichen Artikulation, etwa im Dialog, kann das Subjekt der Artikulation als ein Wesen betrachtet werden, das durch viel Fäden mit der Situation und dem Augenblick verbunden ist, so daß es mit ihnen vereint ist – es ist anwesend als eingewurzelt in die Situation und eingetaucht in das Geschehen des Augenblicks. Dies bedeutet, daß Artikulationssubjekt, Situation und Augenblick ein Ganzes bilden, eine Einheit, die als solche auch zu analysieren ist, wobei das intentional aktive Bewußtsein des Autors nur als eines der Elemente zu betrachten ist, das an sich eine analytische Abstraktion darstellt; dabei sind die Versuchungen der Entgegensetzung von "Subjekt" und "Objekt" zu vermeiden. Das "Subjekt" ist als ein "verzweigtes" Subjekt aufzufassen, das immer schon in Berührung mit dem "Objekt" steht, erkennbar auch an der Art und Weise der "Verzweigung" unter die Objekte, und nicht nur an sich. Wenn man eine solche Einheit vor Augen hat, zeigt sich die Fähigkeit des Artikulationssubjektes in hellerem Licht, die Situation als Gebiet des Sinnes intentional zu aktivieren, was, wenn es auf entsprechende Weise ausgeführt wird, eine Vorbedingung für das Erscheinen der Ironie ist. Auch den Autor des schriftlichen Textes kann man auf analoge Weise zu betrachten versuchen, d.h. vereint mit dem Ganzen seiner Situation und seiner Zeit. Jedoch ist die derart entstandene Einheit immer gefährdet und bestreitbar, und zwar nicht nur, weil die schriftliche Formulierung mit der Situation und dem Augenblick durch eine andere Art von Fäden verbunden ist als die mündliche – das Schreiben eines Textes kann etwa unterbrochen und in immer neuen und veränderten Situationen fortgesetzt werden, was im Text Spuren hinterlassen kann, aber nicht muß –, sondern auch, weil die schriftliche Vermittlung der Intention des Autors auf die Abwesenheit des Autors verweist, darauf, daß sich Text und Autor auf eine Weise voneinander befreien, die im lebendigen Gespräch unmöglich wäre. Der Punkt, auf den das Verstehen auszurichten ist, ist der Text und nicht das Wesen des Autors (sein Geist, seine Seele), von dem der Text ausgegangen ist. Der Text kann auch als Zeichen für eine Äußerung des Wesens (des Geistes, der Seele) des Autors aufgefaßt werden, aber wenn man wünscht, einen unbeschränkten Relativismus im Verstehen und Deuten zu vermeiden, muß dieses "Zeichen" gemäß den Sprach- und Schriftregeln verstanden werden, die objektiv sind und den Leser an den Text binden, anstatt ihn auf das Wesen des Autors und seine Verbundenheit mit dem Ganzen einer Situation oder eines Augenblicks zu verweisen. Daher kann man von einer eigenartigen Selbständigkeit des Verfassers eines Textes im Verhältnis zur Situation sprechen. In demselben Sinne kann man von der Bestimmung des Autors durch den Text sprechen, anstatt, wie üblicherweise und im Gegensatz hierzu, von der Bestimmung des Textes durch den Autor.[1] Dies führt an die Schwelle zu antipsychologistisch ausgerichteten Betrachtungen über die "Einklammerung" des Autors, also über die phänomenologische Reduktion. Wenn es sich um den Einfluß des Situationskontextes auf den Text handelt, in dem durch diesen Einfluß die Ironie erscheint, dann kann derjenige, der in einer gegebenen Situation den betreffenden Text versteht und deutet, ebenfalls in seiner Einheit mit der Situation betrachtet werden und als rezeptives Bewußtsein nur insofern, als es in diesem Fall als analytische Abstraktion verstanden wird, die jedes Mal erst in der Faktizität der Situation konkret bestimmt ist.

Damit der Situationskontext auf das Verstehen des Textes wirken kann, muß er zunächst selbst in den Sinn "übersetzt" werden, der im rezeptiven Bewußtsein eigentlich wirkt. Diese "Übersetzung" vollzieht sich im rezeptiven Bewußtsein unter dessen aktiver Teilnahme. Es ist sowohl der Ausdruck des Ganzen der Existenz des Verstehenden, als auch der "Führer" dieser Existenz; durch sie wird es gebildet, aber es bildet sie auch selbst, so daß die Konstituierung des Situationskontextes in hohem Maße seine selbständige Aktivität ist und keinesfalls auf eine bloße Ausscheidung der objektiv anwesenden Beziehungen, die in einem bestimmten Sinn der gegebenen Situation resultieren, zurückgeführt werden kann. Die konstitutive Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins ist in dieser Hinsicht auch nicht streng durch die referenzielle Sphäre des zu verstehenden Textes beschränkt. Das den Text verstehende Bewußtsein ist in der Regel freier, da der Mensch sich immer durch das Ganze seiner Existenz in einer Situation befindet, in der sich das Verstehen des Textes, aber auch das Verstehen dieser Situation selbst zu vollziehen hat. Der Verstehende kann sich nicht völlig in die Gesamtheit seiner Beziehungen mit der "Welt" auflösen, er kann jedoch auch nicht als ein fest bestimmtes Subjekt, dessen Identität irgendwo und unabhängig von seiner Lage gesichert ist, aufgefaßt werden. Sein Verstehen des Textes ist immer durch sein Sich-Selbst-Verstehen in der Situation und sein Verstehen der Situation beeinflußt, und beides kann zur Konstituierung eines solchen Sinnes der Situation führen, daß der betreffende Text ironisch aufgefaßt werden muß – sei es deshalb, weil schon in seiner Intention (oder eventuell in der Intention seines Autors) enthalten ist, sich dem Verstehen zusammen mit einem solchen Verständnis der Situation aufzudrängen, sei es spontan durch den Willen des Zufalls, sei es infolge der bewußten Absicht desjenigen, der den Text versteht. Der Text kann sich nämlich einem entsprechenden Situationskontext anbieten oder aufdrängen, um darin ironisch aufgefaßt zu werden, aber er kann auch zufällig in ihn geraten; dann muß das rezeptive Bewußtsein auf bestimmte Weise diesen Kontext deuten, um den Text ironisch auffassen zu können. Die Ironie ist immer das Resultat eines besonderen Spiels der intentionalen Kräfte.

Es ist unberechenbar, was alles auf die Konstituierung des Sinnes der Situation wirken kann, die den Kontext, in dem ein Text verstanden wird, darstellt. Die gesamte Faktizität der Situation ist nicht nur unvorhersehbar, sondern auch prinzipiell unabsehbar in allen ihren Aspekten. Die von Edmund Husserl durchgeführten Analysen der Wahrnehmung zeigen dies am besten.[2 ]Aufgrund welcher Elemente der Situation und welcher ihrer wechselseitigen Beziehungen das rezeptive Bewußtsein ihren Sinn konstituiert, um ihn in Beziehung mit dem Sinn des zu verstehenden Textes zu bringen, ist selbstverständlich unmöglich im voraus theoretisch zu beantworten. Die "Situation" ist keine bedeutungsrelevante Entität, die irgendwie "kodiert" ist, sondern der Sinn wird aus ihr "herausgezogen". Diskutieren kann man nur über die Faktoren, die hierauf wirken.

Was ist zum Beispiel der Sinn der Situation: ein Schiff geht unter? Sie kann den Sinn haben: Gefahr für das Leben der Besatzung. Schon das Verhältnis zu dieser Gefahr kann sowohl positiv als auch negativ sein, abhängig z.B. davon, ob es sich um ein feindliches Schiff im Krieg handelt oder nicht. Für jemanden, der auf andere Art in dieser Situation eingewurzelt ist, der andersartig in dieses Geschehen eingetaucht ist, kann der Sinn ein völlig anderer sein: Schaden (weil die eingeschiffte Fracht untergehen wird); Mut (der Kapitän verläßt als letzter das Schiff); Gewinn (das Schiff ist günstig versichert); Vergnügen wegen der technischen Präzision (der Torpedo hat das seine getan); ästhetischer Genuß (eine erfolgreiche Filmaufnahme) und so weiter. Die Zahl der Gesichtspunkte, unter denen der Sinn aus dieser Situation "herausgezogen" werden kann, ist unendlich. Der Sinn hängt vom Gesichtspunkt ab, von der Art der Wahrnehmung und der Zugänglichkeit dieser oder jener Aspekte der Situation für die Wahrnehmung, vom Interesse, der Befindlichkeit, der Neigung und dem Wissen desjenigen, der die Situation deutet. Die Gesichtspunkte der Mutter des Kapitäns, des Konstrukteurs des Torpedos und des Direktors der Versicherungsanstalt z.B. sind sehr verschieden; jedoch nicht alle Mütter, wie auch nicht alle Konstrukteure oder Direktoren werden im gegebenen Fall die Situation auf dieselbe Weise verstehen und beurteilen, noch gleichartig darauf reagieren, und wie sie dies tun werden, hängt wiederum vom Ganzen der konkreten Umstände in jedem einzelnen Fall ab. Der Sinn, der aus der Situation "herausgezogen" wird, ist also immer auf der Faktizität gegründet, die nie bis zu Ende erforscht, noch durch eine endgültige Zahl von Termini beschrieben werden kann. In bezug auf diese Faktizität ist der Sinn einer Situation immer in hohem Maße "abstrakt". Wenn jemand in einer gegebenen Situation ausruft: "Ein herrlicher Untergang!", dann hängt der Sinn dieses Ausrufs davon ab, wie, simultan mit dem Verstehen des Sinnes dieses Satzes, der Sinn der Situation aufgefaßt wird. Es ist klar, daß diese Simultaneität und diese Abhängigkeit von der Art und Weise, wie aus der Situation ihr Sinn "herausgezogen" wird, auf das Ganze der Existenz desjenigen, der sich in dieser Situation befindet, verweisen und daß sein verstehendes Bewußtsein nur ein Moment seiner verzweigten Berührungen mit der Situation ist, so wie andrerseits sein Verstehen von den Beziehungen zum Ganzen der Situation abhängt. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch, wenn es sich um das Verstehen eines geschriebenen Textes handelt. Die eventuelle "Verbalisierung" einer Situation, die "Übersetzung" aus dem Gebiet der nichtsprachlichen in das Gebiet der sprachlichen Verhältnisse und Beziehungen, setzt voraus, daß der Sinn der betreffenden Situation, als der auf das Verstehen wirkende Kontext, schon konstituiert ist. Dieser Sinn lenkt gerade die "Verbalisierung": er bestimmt die Intention des Diskurses, in dem der Sinn des nicht-textuellen Kontextes ausgesprochen oder in dem wenigstens der gemeinte Sinn eines solchen Kontextes vorausgesetzt wird, der dann nur im rezeptiven Bewußtsein anwesend ist, aber auf die gleiche Art, in der auch die sprachlich vermittelten Intentionen anwesend sind. Daher ist es schwer, Beispiele zu geben, die aufzeigen, welche Beziehungen zwischen dem Situationskontext und dem rezeptiven Bewußtsein bestehen, wenn sich der Sinn des Kontextes in diesem Bewußtsein konstituiert. Um ein solches Beispiel zu geben, muß man die Situation "verbalisieren", d.h. sie schon im voraus deuten, so wie es die Bedürfnisse des Beispiels verlangen. (Dies gilt auch dann, wenn man nicht wünscht, in der Interaktion des Situationssinnes und des Textsinnes das Vorhandensein von Ironie zu zeigen.) Es handelt sich gerade darum, die Möglichkeit einer verschiedenen Konstituierung des Sinnes des Situationskontextes vor und unabhängig von seiner Verbalisierung zu zeigen.

Der Einfluß des Verfahrens der Verbalisierung kann begrenzt werden, wenn es auf möglichst rudimentäre Zeichen reduziert wird - Brand, das Schiff geht unter u.a. - obgleich in einer solchen Reduktion die Situation kärglich und unvollständig vorgestellt wird; dies wirkt auch auf das "Herausziehen" ihres Sinnes zurück. Aber auch bei einer höchst rudimentären Verbalisierung kann die Situation sich nicht "an sich" zeigen. Ein Schiff geht unter verweist nicht auf die völlig gleiche Situation wie das Schiff geht unter, der Ausdruck Brand bedeutet nicht dasselbe wie Brand! Natürlich wird, je verzweigter die Beschreibung der Situation ist, je mehr Angaben über sie gegeben werden, die Rolle des Verfahrens der Verbalisierung immer größer. Eine eingehende Beschreibung der Situation muß aber nicht bedeuten, daß sich schon dadurch die Bestimmung des in ihr verborgenen Sinnes entweder leichter zeigt oder daß er dadurch konkreter ist.

In seiner kurzen Geschichte Die Vorüberlaufenden benutzte Kafka die prinzipielle Ungewißheit über den Sinn irgendeiner, sei es auch der gewöhnlichsten Situation als ein treffendes Bild des Schwankens bei der Bestimmung dieses Sinnes, indem er eine tiefere Erläuterung dieses Schwankens im Bereich der Andeutung ließ und sie einer eventuelle Deutung überließ. Die Geschichte lautet: "Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem schon sichtbar - denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond - uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen. Denn es ist Nacht, und wir können nichts dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts voneinander, und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen. Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken? Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn."

Eine Situation verlangt meistens von dem sich darin befindlichen Menschen, einen Entschluß zu fassen, nicht nur ihren Sinn zu beurteilen. Der Entschluß hängt aber in vielem gerade von dieser Beurteilung ab. Vor den Entschluß gestellt, sieht sich der Mensch mit der Rätselhaftigkeit der Situation konfrontiert. Jede Wahl eines Entschlusses ist nicht nur eine Möglichkeit für eine falsche Beurteilung des Sinnes der Situation – verfolgen beide der Laufenden einen dritten, oder wissen sie nichts voneinander, "und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett", oder...? –, sondern auch für eine Entscheidung, die uns oder einen anderen gefährden oder Unglück bringen kann, jemandem eine Schuld aufhalsen oder eine unvorhersehbare, bei Kafka natürlich immer ungünstige Kette von Ereignissen hervorrufen kann: der falsch aufgefaßte Sinn einer Situation steht, wenn der Mensch sich doch entschließt, das Rätsel ihres Sinnes zu lösen, am Beginn der Entscheidung, etwas zu tun, was nicht gerechtfertigt und auch nicht begründet werden kann, wenn versucht wird, wenigstens die Entstehung einer falschen Entscheidung zu klären; daß es keinen absoluten Maßstab gibt, nach dem der "wahre" Sinn einer Situation zu bestimmen ist, macht im Prinzip sogar jede Entscheidung problematisch, angreifbar, unbegründbar... Es ist kein Wunder, daß Kafka am Ende den Verzicht auf eine Entscheidung, den Rückzug "aus" der Situation und die Einwilligung zur Herrschaft der Rätselhaftigkeit "Glück" nennt. Da das menschliche Leben gerade in der Teilnahme an verschiedenen Situationen besteht, zu denen irgendeine Stellung bezogen werden muß, die also irgendwie gedeutet werden müssen, um in Einklang damit entsprechende Entscheidungen treffen zu können, sind Fehler und Mißverständnisse - gemäß der Parabel Kafkas und schließlich unabhängig davon - Möglichkeiten der Existenz, die durch nichts beseitigt werden können. Wenn es sich um Ironie handelt, ist es im Prinzip also immer möglich, daß die Erwartung, eine Situation werde auf eine bestimmte Weise gedeutet und dann auch eine Aussage oder ein Text dementsprechend ironisch aufgefaßt, nicht erfüllt wird, oder daß umgekehrt der Text "ernsthaft" verstanden wird, während doch die Deutung der Situation gerade in ein ironisches, "nichternsthaftes" Verstehen der betreffenden Aussage (Textes) führt. Die Angst vor Mißverständnissen dieser Art ist nicht unbegründet, umso mehr, als ihre Folgen nicht immer harmlos sind.

Die Bemühung, den Sinn eines Textes gegen alle Einflüsse des Kontextes und mögliche Mißverständnisse in dieser Sphäre völlig zu sichern, ist jedoch, wenn bis zu Ende geführt, nicht weniger gefährlich, wenn der Text zu diesem Zweck aus der normalen, einer kritischen Überprüfung unterziehbaren Rezeption herausgehoben wird und sich in einem bestimmten Gebiet in etwas Unberührbares verwandelt; in einer solchen Sicherung des Textsinnes gegen Mißverständnisse liegt immer der Keim eines spezifischen Dogmatismus und Fanatismus. Auf der semantischen Ebene des Problems ist die Verwandtschaft dieser prinzipiellen Fragen mit jenen, die mit der Ironie verbunden sind, groß – was durch diese Untersuchung, neben anderem, auch zu zeigen ist.

2. Mündlichkeit und Schrift

Das Verhältnis von Sprache und Schrift ist vor allem dank der "Grammatologie" von Jacques Derrida ein herausragendes Thema in den zeitgenössischen Erörterungen geworden. Derrida bemüht sich, uns davon zu überzeugen, daß die Entfaltung einer neuen Theorie der Schrift nicht nur eines unter vielen beschäftigungswürdigen Projekten, sondern vielmehr eine unabwendbare philosophische Aufgabe ist; dabei geht er von demjenigen aus, was er wie viele andere sich von Heidegger angeeignet hat: die abendländische Metaphysik hat sich vollendet, so daß neue Wege des Denkens zu finden sind.[3]

Die gewünschte "Dekonstruktion" sieht Derrida in einem neuen Durchdenken von Schrift und "Spur", wobei keines von beiden in Termini definiert werden kann, die ermöglichen würden zu wissen, womit man es zu tun hat, denn dies würde bedeuten, auch weiterhin in metaphysischen Grenzen eingeschlossen zu bleiben. Um heute "die Erbschaft aufzulassen"[4] ist es unumgänglich, eine Verschiebung in dem bekannten Zusammenhang vorzunehmen, in dem es möglich war, über Sprache, Wahrheit, Sein und Schrift nachzudenken, und neue Zugänge zu den Quellen, die das Denken überhaupt erst ermöglichen, zu eröffnen, indem man seine Worte "innerhalb einer Topik und im Rahmen einer geschichtlichen Strategie"[5] rechtfertigt. Eine gewisse Generalisierung und Verschiebung des Begriffs der Schrift scheint notwendig zu sein: "Dieser wäre nicht mehr unter der Kategorie von Kommunikation zu erfassen, zumindest wenn man sie im beschränkten Sinne als Übermittlung von Sinn versteht. Umgekehrt werden sich auf dem allgemeinen Feld der so definierten Schrift die Effekte semantischer Kommunikation als besondere, sekundäre, eingeschriebene, supplementäre Effekt bestimmen lassen."[6 ]

Derrida möchte das Erbe erschüttern, in dem die Schrift (aufgefaßt im geläufigen, üblichen Sinn) das Gebiet der Kommunikation erweitert, durch welches der Sinn ungestört übertragen wird wie durch ein kontinuierliches, sich selbst gleiches Milieu. Die Voraussetzung, die Derrida zufolge im Zusammenhang damit in Frage gestellt werden soll, ist die Homogenität des Raumes für diese Verbreitung.[7] Hier wird der Zweifel der "Textualisten" an dem Vorhandensein von etwas Fundamentalerem als der "gegebenen" Kommunikation sichtbar, von etwas das Verstehen und Deuten Beschränkendem, das sie wie ein fester Rahmen lenkt und bestimmt. Das Zeitalter der Metaphysik ist, sowohl nach Derridas als auch nach Heideggers Meinung, nötig. Sein bedeutet in ihm gegenwärtig sein, das Sein wird als Gegenwärtigkeit verstanden, die Metaphysik ist, trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Philosophen, nach dieser Ansicht Metaphysik der Präsenz. Dadurch ist auch die Auffassung von Sprache und Zeichen bestimmt.

Aus Derridas Ausführungen ersieht man, daß er der Sprache eine entscheidende Bedeutung beilegt. Das metaphysische Zeitalter zeichnet sich, nach Derrida, durch Phonozentrismus bzw. Logozentrismus aus. Der Laut bzw. der Logos haben eine zentrale Rolle, da die Gegenwärtigkeit des Seins in ihnen am wenigsten vermittelt ist: das Bezeichnende und das Bezeichnete sind eine untrennbare Einheit, und im metaphysischen Rahmen kann darüber auch gar nicht anders gedacht werden. Die Schrift wäre demnach in diesem Rahmen zweifache Vermittlung: sie bezeichnet den Laut, der schon den Status des Bezeichnenden hat. Insofern ist die Schrift nur ein "Abbild" dessen, was im Ausgesprochenen und durch es ist. Der Logos, in dem sich Sinn und Wahrheit[8] konstituieren, geht dem Text voran, er ist für ihn etwas Äußerliches, was ihn als Träger des Sinnes, also als eine Reihe sprachlicher Zeichen des Sinnes, die durch schriftliche Zeichen in einer entsprechenden graphischen Reihe notiert sind, begründet.

Derridas Idee ist es, entgegengesetzt zu einer solchen metaphysischen Auffassung, deren Selbstverständlichkeit gerade aus ihrer Zugehörigkeit zur Metaphysik hervorgeht, die Ursprünglichkeit der Schrift, ihren Primat, zu zeigen. Das Sprengen des Logozentrismus soll zeigen, "daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge".[9] Dazu eignet sich aber der bisherige Begriff der Schrift nicht; Derrida selbst sagt: "Der Phonologismus duldet so lange keinen Einwand, wie man die geläufigen Begriffe von gesprochenem Wort und Schrift, die das feste Gewebe seiner Argumentation bilden, weiter verwendet."[10] Deshalb muß bei der Suche nach dem Weg aus der Metaphysik die Schrift im engeren, alltäglichen Sinn von der Schrift im neuen "grammatologischen" Sinn unterschieden werden. Darauf weist Derrida mehrere Male hin," indem er über den "vulgären, das heißt ethnozentrischen Begriff der Schrift"[12] spricht. Dadurch, daß er den metaphysischen Horizont problematisiert, wünscht Derrida das Vertrauen, das dem Laut, dem Diskurs, der Rede erwiesen wird, zu problematisieren und den Anfang des Mißtrauens gegen den Buchstaben zu finden.

Die Frage dieses Vertrauens (und Mißtrauens) ist sehr alt. In Platons Phaidros äußert sich Sokrates über das geschriebene Wort sehr kritisch. Wie auch in anderen Fällen erzählt Sokrates zunächst die Erzählung aus der Antike vom ägyptischen Gott Theuth, der die Buchstaben erdacht hat, und vom König Thamus, der nicht im mindesten von dieser Erfindung begeistert war. Die Aufzeichnung durch Buchstaben wird, Theuths Meinung zufolge, die Ägypter weiser und ihr Gedächtnis reicher machen.[13] Als Vorzug der Schrift, oder wenigstens als ihre Grundeigenschaft, wird in vielen späteren Erwägungen die Beständigkeit des Aufgezeichneten, seine Konserviertheit für alle Zeiten, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall, so doch jedenfalls im Prinzip, unterstrichen. Die Aufzeichnung rettet vor dem Vergessen; das durch Schrift Aufgezeichnete wird, wie Paul Ricoeur sagt, "ein Archiv, das dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis zur Verfügung steht".[14 ]Thamus aus der Sokratischen Erzählung im Phaidros sieht darin keinen Vorzug. Im Gegenteil, er sieht eine Gefahr in dem leichtfertigen Vertrauen zur Schrift, die nur "von außen vermittels fremder Zeichen"[15] den Menschen erinnert, anstatt daß er sich selbst innerlich unmittelbar an den entsprechenden Inhalt erinnert. Indem sie sich auf das Aufzeichnen verlassen, werden sich die Lernenden keine Mühe geben, etwas im Gedächtnis zu behalten, und dies ist zweifelsohne nicht der Weg zur Weisheit. Aber es wird auf diese Weise der Schein geschaffen, man besitze die Wahrheit, und dann wird es schwierig mit denen, die dieser Einbildung unterliegen. Die Lehrer, die ihre Materie mündlich darlegen, mahnen oft ihre Zuhörer, ihre Darlegung nicht "mechanisch" und "ohne nachzudenken" in der Bemühung, nur jedes Wort zu "fangen", aufzuzeichnen, denn der Zweck des Unterrichts ist, den Inhalt der Vorlesung "im Kopf und nicht in Heften mitzunehmen. Daher ist es wichtig, daß die Zuhörer "aufpassen" und "nachdenken", während sie zuhören, und nicht bloß schreiben. In diesem gebräuchlichen und einfachen Beispiel verbergen sich viele, nach Derrida eigentlich wesentlich metaphysische Voraussetzungen. Die Frage ist, was es bedeutet, in der Tat durch die Schrift jemandens Wort zu "fangen", und was vom Ausgesprochenen überhaupt gefangen werden kann. Durch den Einwand des Thamus gegen Theuth, die Schrift diene im besten Fall als ein Mittel für das Erinnern, aber "nicht für die Erinnerung"[16], ist die wesentliche Möglichkeit des Fixierens und "Archivierens" eines Inhalts nicht widerlegt. Etwas schwarz auf weiß haben, gibt dem Menschen ein ganz anderes Gefühl der Sicherheit, als es die Erinnerung an jemandens Wort tun kann. Das schriftlich Bestehende ist nachprüfbar oder wenigstens auf eine andere Weise nachprüfbar als das bloß Ausgesprochene. Wenn ein gegebenes Wort, ein mündliches Geständnis oder eine Aussage so wie die Bescheinigung, das Protokoll, die Unterschrift verpflichten sollen, dann ist die Art und Weise, festzustellen, ob und was versprochen, gestanden, ausgesagt wurde, in dem einen und dem anderen Bereich gänzlich verschieden, so daß sich ein großer Teil der Rechtssysteme und -Überlegungen von jeher auf diese Frage bezieht, - etwa auf die Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit des (mündlichen) Zeugens und des (schriftlichen) Zeugnisses, auf deren Rolle und Kraft im Beweisprozeß, auf die Möglichkeiten, einer Täuschung vorzubeugen usw. Das Verbinden der Verpflichtung, die aus einer Aussage oder einer Gruppe von Aussagen hervorgegangen ist, mit der Tatsachen, daß diese Aussage bzw. Gruppe von Aussagen aufgezeichnet, aufgeschrieben ist, bestimmt wesentlich die Eigenschaften und die Grundlage ganzer Zivilisationen mit. Der Zweck der Aufzeichnung der verpflichtenden Aussage muß nicht bloß die Ermöglichung der Nachprüfbarkeit, ob die Aussage überhaupt gegeben ist und was sie enthält, dienen, sondern sie kann auch aus dem Wunsch entstehen, ihren Inhalt überall anwesend, weit und in verschiedenen Sprachen zugänglich zu machen, etwa zu Zwecken der Propaganda o.ä. Der mündliche zivilrechtliche Vertrag oder ein mündliches Testament sind gewöhnliche Erscheinungen, die auch relativ häufig vorkommen, aber eine mündliche Form für die Verfassung eines Staates oder für einen von verschiedenen Bedingungen und Finessen ausgefüllten und daher notwendig gegliederten Kodex wie z.B. das Strafgesetzbuch wäre in der politischen und juristischen Praxis kaum denkbar. Quintillian erwähnt auch derart formulierte verpflichtende Aussagen, also Normen, die auch zu gelten haben, obwohl sie nur ausgesagt sind. Symptomatisch ist indes, daß Heinrich Lausberg z.B., indem er in diesem Sinne vox und scriptum im Rahmen eines rhetorischen Handbuches einander gegenüberstellt, ohne dieses Verhältnis näher erforschen zu wollen, vox als "primitiveres Sprachmittel"[17] beurteilt. Es bedarf keiner langen Begründung, um in dem Weltverständnis, das wir haben, zu begreifen, warum er dies tut. Und doch kann die Frage gestellt werden: woher kommt eine solche Selbstverständlichkeit der Übermacht des Geschriebenen über das Gesprochene, sei es auch auf begrenztem Gebiet, wenn dasselbe globale Verständnis der Sache sozusagen in seinen Grundlagen gerade die Verdächtigung gegen die Schrift enthält? An diese Frage knüpft sich auch folgende an: wenn die Aufzeichnung tatsächlich vor dem Vergessen rettet, indem sie dem aufgezeichneten Inhalt Dauer und Transmission sichert, bedeutet dies auch, daß die Gesichertheit des gewünschten Sinnes, die Sicherstellung des entsprechenden Verständnisses, ewige Klarheit und Unzweideutigkeit dieses schwarz auf weiß fixierten Inhalts außer jedem Zweifel stehen? Daß diese Frage nicht voreilig beantwortet werden soll, beweist gerade das Bestehen von Ironie. Einen bestimmten Text versteht ein Leser mit Ironie, während ihn ein anderer wörtlich versteht und ohne irgendwelche Distanz seinen Inhalt so aufnimmt, wie er ihn verstanden hat. Gibt es eine Garantie, daß der eine recht hat und der andere nicht? Und worin würde sie bestehen? Nicht nur in der Empirie der einzelnen Verständnisse und im Chaos der Geschichte, mit allen Kontingenzen von beidem, sondern auch in rein theoretischer Hinsicht ist es nicht an und für sich gewiß, daß ein bestimmtes Verständnis des Textes gesichert, die Klarheit und Unzweideutigkeit verbürgt ist. Dies hängt von der Art und Weise der Formulierung des Textes ab, von der Art des Textes, von der Art des Kontextes, in dem der Text sich finden kann, von der Art des Lesers und des Lesens...

Wenn die Ansicht, daß das Geschriebene besser oder wenigstens sicherer als das Ausgesagte ist, mit folgenden weiter gefaßten Fragen verbunden wird: was bedeutet überhaupt primitiv?, ist denn der entwertende Beiklang, der dieses Epitheton begleitet, unumgänglich immer und in allem? – , dann erscheint diese Ansicht in einem neuen Licht. Diese Fragen führen zu den Grundbeziehungen zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen im geläufigen Verständnis der Dinge zurück. Gestellt wurden sie, was ganz selbstverständlich ist, von einem Ethnologen – Claude Lévi-Strauss. In seiner Strukturellen Anthropologie betont er, daß die negativen Merkmale, durch welche wir gewohnt sind, die Gesellschaften, mit denen sich die Ethnologie befaßt, zu unterscheiden – da wir von ihnen in der Regel sagen: Gesellschaften, die nicht zivilisiert sind, die keine Industrie haben, die keine Schrift haben, die also mit einem Wort "primitiv" sind –, jene positiven Merkmale verschleiern, an denen es der Anthropologie gelegen ist, nämlich die konkreten und unmittelbaren Beziehungen zwischen den Individuen, die dank der geringen Größe dieser Gesellschaften möglich sind. Was hier wichtiger ist, ist der Schluß von Lévi-Strauss, daß ein solcher Charakter der Beziehungen zwischen Einzelnen in den sogenannten primitiven Gesellschaften zu sagen verleitet, daß "eher die Gesellschaften des modernen Menschen durch ein negatives Merkmal definiert werden"[18] müßten. Den modernen Gesellschaften fehlt es nämlich an Authentizität. In ihnen sind "unvollkommene und unvollständige authentische Gruppen innerhalb eines viel weiteren Systems, auf dem der Siegel der Nichtauthentizität liegt, organisiert"[19], und als Hauptbeitrag der Anthropologie zu den Gesellschaftswissenschaften soll sich, Lévi-Strauss zufolge, der Grundunterschied zwischen einer solchen Lebensweise und jener, die "ursprünglich als traditionell und archaisch wahrgenommen" wird[20], und die die authentischen Gesellschaften kennzeichnet, zeigen. Lévi-Strauss sagt auch selbst, er wolle nicht den Wert der revolutionären Erfindung der Schrift bestreiten: "Aber es ist unerläßlich, sich darüber klar zu werden, daß sie der Menschheit etwas Wesentliches entzogen hat in der gleichen Zeit, in der sie ihr so viele Wohltaten brachte."[21] Die Indirektheit (Vermitteltheit) und die dadurch verursachte Nichtlebendigkeit vieler zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich durch geschriebene Gebilde entwickeln, sind Merkmale des Lebens in der modernen Gesellschaft, die Sorgen bereiten, obwohl sie unumgänglich sind. Lohnt es sich, einen solchen Tribut zu zahlen, der nicht vermieden werden kann? – "Unsere Beziehungen zu anderen Menschen", sagt Lévi-Strauss, "sind nur noch sporadisch und fragmentarisch auf diese umfassende Erfahrung, auf das konkrete Verständnis eines Subjekts für ein anderes gegründet. Sie ergeben sich zum großen Teil aus indirekten Rekonstruktionen nach geschriebenen Dokumenten. Wir sind an unsere Vergangenheit nicht mehr durch eine mündliche Tradition gebunden, die einen lebendigen Kontakt mit Personen – Märchenerzähler, Priester, Weisen oder Alten – einschließt, sondern durch Bücher, die in unseren Bibliotheken lagern und durch die hindurch die Kritik – unter großen Schwierigkeiten – das Gesicht ihrer Autoren wiederherzustellen sich bemüht. Und in der Gegenwart haben wir mit der großen Mehrheit unserer Zeitgenossen durch alle möglichen Zwischenstufen – geschriebene Dokumente oder Verwaltungsmechanismen – Verbindungen, die unsere Kontakte zweifellos unendlich erweitrn, ihnen aber gleichzeitig einen nicht-authentischen Charakter geben."[22]

In dieser Kritik der "modernen Zeiten" gibt es jedenfalls viel Annehmbares. Dieselben oder ähnliche Themen sind auch in anderen Termini erörtert worden, von denen einer der bekanntesten die "Entfremdung" ist. Unter einer solchen Beschreibung versteht oder sucht man ein andersartiges Leben oder die Möglichkeit eines andersartigen Lebens, das nicht "unauthentisch" ist. Dabei soll allerdings nicht sogleich an die Rückkehr in die traditionellen und archaischen Gesellschaften gedacht werden. Darf man aber an die Rückkehr zur Mündlichkeit denken, darf man wenigstens von ihr träumen, wenn die eigene Gesellschaft, gegründet auf die durch die Schrift vermittelten Verhältnisse, schon in so hohem Maße an Authentizität verloren hat? Soll man überhaupt darauf bestehen, wenn es denn möglich wäre, daß der überwiegende Teil unserer Kontakte mit anderen Menschen unmittelbar und die Bindung an die Vergangenheit hauptsächlich Ergebnis verschiedener Arten mündlicher Tradition wird?

Lévi-Strauss ist natürlich zu nüchtern und vorsichtig, als daß er der allzu radikale Schlüsse ziehen würde, aber es handelt sich hier auch nicht vor allem um seine konkreten, übrigens schriftlichen Ausführungen (wie auch die Platons im Phaidros und anderswo), sondern um die Logik einer Position und um die tieferen Gründe, die daraus sprechen. Zweifellos besteht, wenn das Bild der Vergangenheit durch eine mündliche Tradition geschaffen wird, z.B. durch das Zuhören bei Erzählungen oder bei Erinnerungen der Alten, der Faktor der Unmittelbarkeit. Jedoch auch Lévi-Strauss selbst hat die entscheidende Rolle der Schrift nicht negiert, wenn auch zwar mit Vorbehalten für den Ethnologen[23], eindeutig aber für den "reinen Historiker".[24 ]Die "Geschichte" als Geschehen besteht selbstverständlich ganz unabhängig davon, ob über das Geschehene ein Bericht erstattet wird und ob dieser Bericht schriftlich ist. Aber die Historie als Berichterstattung über das früher Geschehene und als Beurteilung dieses Geschehens trägt nicht umsonst den anderen Namen Geschichte; diese Historie ist ganz anders, wenn sie nicht nur auf die Erzählung reduziert wird, sondern wenn "von Tagen der Lieb, und Taten, welche geschehen" schriftliche Denkmäler bestehen. Die verbreitete Auffassung, derzufolge die sogenannten schriftlicher Denkmäler ein "Kulturschatz" sind, der es ermöglicht, die Tradition und verschiedene "Identitäten" darin (nationale, politische, kulturelle, ideologische) zu erkennen, ist auch der Kritik zu unterwerfen. Wie die Vielheit ungelöster Probleme und offener Fragen in der Hermeneutik bezeugt, ist das Vorhandensein von schriftlichen Denkmälern an und für sich noch keine Garantie dafür, daß verschiedene Arten von Texten aus der Vergangenheit – im Moment des Lesens – in Wissenschaft, Geschichte, Kunstkritik, Philosophie oder Politik verstanden und benutzt werden können, ohne Zweifeln und Einwänden zu unterliegen. Indem er die Homogenität von Zeit und Raum, durch welche der Sinn des Textes bis zum abwesenden Leser "kommuniziert" werden soll, in Frage stellt, sieht Derrida die Deutung der Hermeneutik, derzufolge der kommunizierte Sinn im wesentlichen unverletzt bleibt oder jeder Schaden, den er erleidet, nur akzidentiell ist, in der ganzen Geschichte der Philosophie.[25] Eine solche Auffassung der Hermeneutik erweist sich indes als unkritisch, so daß das Unternehmen einer Überbrückung von Räumen und Zeiten durch das Verstehen eines Textes in seiner Sinnursprünglichkeit, sowie auch die Bedingungen für den Erfolg eines solchen Unternehmens immer von neuem zu überprüfen sind. Andrerseits wiederum muß man auch vor Augen haben, daß die archäologische Rekonstruktion des uralten Lebens, von dem schriftliche Denkmäler nicht erhalten sind oder in dem die Schrift überhaupt noch nicht vorhanden war, im Prinzip nicht unmöglich ist. Und doch – trotz gewisser Aussichten auf Erfolg und positiver Möglichkeiten der Erkenntnis der Vergangenen auch dann, wenn es keine Schrift gibt und obwohl es sie nicht gibt, trotz aller Bedenken und Schwierigkeiten, wenn (und obwohl) schriftliche Denkmäler vorhanden sind – gibt es keine Rückkehr zur allumfassenden Mündlichkeit, solange man in der geschichtlichen Welt lebt. Unabhängig von den verschiedenen Kritiken der Mittelbarkeit, die notwendig das Geschriebene begleitet, hat dieses für die Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins, des Bewußtseins von der Geschichte, die Schlüsselbedeutung. Die Wahrnehmung einer eventuellen Diskontinuität des raumzeitlichen Milieus, in dem sich die Übertragung des Sinnes vollzieht, durch die seine Integrität gefährdet werden kann, widerlegt diesen Schluß nicht. Die Änderungen im Verstehen des Sinnes, seine Verwandlungen durch das Deuten, sind ebenfalls ein Faktor des historischen Bewußtseins, des Bewußtseins von der Geschichte. Das existentiell Einmalige und das geschichtlich Einmalige verbinden sich in der Interpretation und bestimmen sich wechselseitig in ihr.

Mit der Geburt des Menschen beginnt seine persönliche Zeit an einem Anfang. Aber in der Geschichte findet er immer etwas vor, von dem er ausgeht. Der Mensch lebt eingetaucht in die Zeit, und zwar so, daß seine persönliche Zeit, von der er weiß, daß sie in einem unbestimmten Moment der Zukunft aufhören wird, von der geschichtlichen Zeit umfaßt ist. Diese bestimmt die existentiellen zeitlichen Segmente, die den einzelnen Menschen zugesprochen sind, indem sie in diese mit ungleicher Kraft das epochale Zeichen einprägt; zugleich ist sie ihrerseits durch die Menge dieser Segmente auch selbst bestimmt. Das Eingetauchtsein in die historische Zeit umfaßt auch die Einschaltung des Subjekts in sie nicht nur auf der Ebene der bloßen Unmittelbarkeit, sondern auch auf der Ebene des historisch schon Gewesenen. Dieses letztere wird durch verschiedene Perspektiven des Vergangenen erreicht, die vom Gegebenen als seine Wurzel und mehr oder minder wirkungsvolle Stütze aktuell realisiert werden, also als das, was zum gewordenen Gegenwärtigen führt. Das Vorhandensein, die Arten und die Offenheit dieser Perspektiven in jeder konkreten Gegenwart hängen wesentlich vom Vorhandensein, von den Arten und der Zugänglichkeit der entsprechenden geschriebenen Denkmäler ab. Deren Verständnis bedeutet den Eintritt in eine schon vorhandene Kultur, und deren Bedeutung – die Orientierung in ihr, die auch die Wertung, also die Möglichkeit der Änderung und Entwicklung einbeschließt. Der Augenblick des Eintritts in das schon Vorhandene bestimmt also auch die Art und Weise, wie die Vergangenheit aus der Gegenwart sozusagen konstruiert wird. Abhängig davon, was von dem Gewesenen wahrgenommen und wodurch die gegebene Aktualität als schon Geschehenes wiedererkannt wird, wie auch davon, wie man in der konkreten Wahl zwischen den potentiell offenen Perspektiven, also zwischen vorhandenen Texten, in denen sich diese Perspektiven eröffnen, diese Texte deutet, wird sich das Bild der Vergangenheit in dem Moment, wo man stehenbleibt, um sie zu betrachten, ändern. Das Geschehene existiert, wenigstens für uns, nicht als solches, obwohl wir wissen, daß immer etwas unabhängig von uns "als solches" existiert. Das Geschehene zeigt sich in einer Wahl mittels dessen, wodurch es von sich als schon Geschehenem zu uns spricht, immer mit einer gewissen Ungewißheit. Die Geschichte in diesem Sinn wird nicht einfach von der Menge geschehener Tatsachen, sondern von dem Zusammenhang jedesmal neu geordneter Tatsachen gebildet, die in der Gegenwart auf eine bestimmte Weise gedeutet werden. Durch andere Deutungen und Deutungen anderer Texte (über dieselben oder andere "Tatsachen") wandelt sich dieser Zusammenhang in eine neue Ordnung.

In Verbindung damit sind einige Themen, mit denen sich die moderne Hermeneutik beschäftigt, interessant. So faßt z.B. Ricoeur die Interpretation der Texte derart, daß sie "mit der Selbstinterpretation eines Subjekts endet, das von diesem Augenblick an sich besser versteht, anders versteht, oder erst beginnt, sich zu verstehen".[26] In dem Buch Hermeneutik und Strukturalismus begründet Ricoeur diese Ansicht: zur Existenz kommt man nur auf einem Umweg, der über verschiedene Analysen der Sprache führt. Daher ist die semantische Beleuchtung jenes Begriffs der Interpretation, der allen hermeneutischen Disziplinen gemeinsam ist, unumgänglich. Die Suche nach den ontologischen Wurzeln des Verstehens, charakteristisch für die Heideggersche Analytik des Daseins, billigt Ricoeur als ein Ziel, nach dem man strebt,[27] aber erst dann, wenn dieser Umweg zurückgelegt ist. Auf ihm ergibt sich nämlich, daß eine bloß semantische Analyse "in der Luft schwebend" bleibt, solange das Verstehen nicht als ein Moment des Sich-Selbst-Verstehens erkannt worden ist. Ein Subjekt, das, indem es die Zeichen deutet, sich selbst interpretiert, wird – sagt Ricoeur –"zu einer Existenz, die vermittels der Auslegung ihres Lebens entdeckt, daß sie als ein Seiendes gesetzt ist, noch bevor sie sich selbst setzt und von sich Besitz ergreift".[28] Die Hermeneutik offenbart derart eine neue Art und Weise des Existierens, die Ricoeur als ein "Interpretiert-Sein" bestimmt, als eine immer schon irgendwie interpretierte Existenz.[29] Dies bedeutet, "daß die Welt der Zeichen verstehen ein Mittel ist, um sich zu verstehen; die Welt der Symbole ist der Raum der Selbst-Aufschließung".[30] Die Reflexion führt dabei nicht nur zu einem erweiterten Selbstverständnis, das durch das Verstehen des Anderen erreicht wird, durch das Verstehen und Aneignen von Zeichen, in denen sich das Leben geäußert hat, durch welche sich das Streben nach Existenz, der Wunsch zu sein, offenbart hat – sondern es führt auch zur Kritik des falschen Bewußtseins,[31] wie es in der Prätention des cogito sichtbar wird, das glaubt, sich selbst zu setzen und der Beginn von allem zu sein, während es jetzt durch die Reflexion belehrt wird, daß es eigentlich immer schon irgendwie gesetzt ist, daß es immer schon irgendwie existiert: die Psychoanalyse deutet das Subjekt durch den Wunsch und in einer eigenartigen Archäologie des Subjekts; die Phänomenoiogie des Geistes sieht den Sinn irgendwo vor dem Subjekt, also teleologisch; die Phänomenologie der Religion versteht es im Zeichen des Heiligen, eschatologisch usw. Jede dieser gegeneinander streitenden Interpretationen hat ihr eigenes Gebiet, ihre eigene existentielle Funktion.[32 ]Was geht aus der Verbindung der Betrachtungen über die "persönliche" und die geschichtliche Zeit mit Thesen wie diesen Ricoeurschen hervor? Es zeigt sich, daß die Tätigkeit des Menschen, die seine Existenz definiert, immer auch ein sehr bedeutendes Moment der Deutung desjenigen enthält, was als fixierte Sinnstruktur aus der Zeit herausgenommen ist, um durch seine Resistenz gegen die Vergänglichkeit gerade ein Zeugnis von der Zeit zu geben. Die unmittelbare Reflexion und die Reflexion des Unmittelbaren genügen nicht zur Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Menschen, sondern es ist die Vermittlung des Verhältnisses zu sich selbst durch Verstehen und Deuten der aktuellen Welt und nicht weniger dessen, was die Welt war, unumgänglich. Indem er die Vergangenheit der Welt kennenlernt, wird der Mensch auch selbst ein bestimmtes und der Geschichte gewachsenes Wesen. Möglich ist, daß er dabei das Vergangene nicht nur in der Dimension der "Gewesenheit" kennenlernt, sondern auch auf eine spezifische Weise nur als ein Element, das in das unmittelbar Anwesende eingebaut, mit dem Aktuellen verschmolzen ist.

Es geschieht nicht selten, daß die nähere Vergangenheit in größerer Dunkelheit liegt als die fernere. Die Rolle der Zahl und der Art der erhaltenen schriftlichen Dokumente ist am häufigsten entscheidend für die Erhellung vergangener Zeitalter. Die relative Nähe in der Zeit sichert nicht eo ipso die Einsicht in die vergangenen Geschehnisse; obwohl viel entfernter, können sie – falls sie aufgezeichnet sind – zugänglicher sein, und das Bild, das auf diese Weise von ihnen gewonnen werden kann, ist oft, bei allen Gefahren der Verfälschung, zuverlässiger.

Lévi-Strauss erklärt: "der Ethnologe interessiert sich besonders für das, was nicht geschrieben ist, nicht so sehr weil die von ihm untersuchten Völker nicht schreiben können, sondern weil das, wofür er sich interessiert, sich von allem unterscheidet, was die Menschen gewöhnlich auf Stein oder auf Papier zu fixieren lieben".[33] Selbst abgesehen von dem Gedanken, daß derart aus der Not eine Tugend gemacht wird, ist es eine große Frage – wenn eine solche Wahl überhaupt zulässig ist –, was die Bevorzugung desjenigen rechtfertigt, was die erforschten Völker wohl nicht zu fixieren lieben. Ist es nicht vielleicht besser, zu gestehen, daß die Verluste groß sind, als sich an dem Verlorenen uninteressiert zu geben, wenigstens wenn es sich um die Vergangenheit handelt? Wo ist es übrigens im voraus gegeben oder bestimmt, was den Wissenschaftler interessieren soll und was nicht, insofern er überhaupt über Sinn und Zweck der eigenen Forschungen nachdenkt – in den Gesellschaftswissenschaften müßte dies seine Pflicht sein und untrennbar von der Erforschung selbst – ? Wenn etwa das Kennenlernen des Lebens eines Urmenschen, eines "Nichtschreibers", möglich und für den Ethnologen interessant ist, dann entzieht sich das Selbstverständnis eines solchen Urmenschen in seinem eigenen Leben jedenfalls irgendwelcher Erkenntnis, zumal der wissenschaftlichen Bearbeitung. Auf diese Weise verschließt sich die Vergangenheit in einer ihrer wesentlichen Dimensionen, und zwar gerade die menschliche Vergangenheit. Die hervorragende Position der schriftlichen Denkmäler im Verhältnis zu anderen Materialien, die in dieser Hinsicht dem Forscher zur Verfügung stehen, und die Unersetzbarkeit solcher Denkmäler zeigen sich hier klar.

Was bedingt ein solches Verhältnis zur Schrift? Hat die "Uninteressiertheit" des Ethnologen für jenes, was "die Menschen gewöhnlich zu fixieren lieben", einen tieferen Hintergrund, oder handelt es sich um etwas logisch und notwendig aus der Natur der Sache selbst hervorgehendes? Der Grammatologe Derrida spricht von der Rousseauischen Bereitschaft von Lévi-Strauss, sich selbst, indem er auf die ursprüngliche und natürliche Güte des Volkes, das die Schrift nicht kennt, hinweist, "anzuklagen und zu erniedrigen",[34] um auch das Thema des "Übels und der Ausbeutung"[35] einzuführen, das die Entstehung der Schrift begleitete, und um die wesentliche Koinzidenz von Gewalttätigkeit und Schrift festzustellen.[36] Folgt nun hieraus, daß das Übel und die Ausbeutung mit der Geschichte bzw. dem geschichtlichen Bewußtsein verknüpft sind, für deren Formulierung die Schrift eine so große Bedeutung hat? Noch interessanter ist die Frage, ob das historische Bewußtsein durch den Logozentrismus möglich ist oder ihm zum Trotz, da die Schrift im "gebräuchlichen" und im neueren grammatologischen Sinn nicht dieselbe Rolle hat. Sind die der Interpretation zugrundeliegenden Entscheidungen und Beurteilungen, die – Derrida zufolge – im Falle Lévi-Strauss diesen "Rousseauischen Geist" bezeichnen, notwendig durch den metaphysischen Ausgangspunkt, also durch die Autorität des Logos, bestimmt?

All diese Fragen sind als Hintergrund für einige andere Fragen von Bedeutung, die für die Erforschung der Ironie nützlich und nötig sind: kann nämlich der Sinn im Verstehen und Deuten, obwohl nicht explizit bestritten, erschüttert oder gefährdet werden, und wie sieht dies in diachronischer und wie in synchronischer Perspektive aus? Bewahrt und schützt die Schrift den Sinn, oder ist ihre Wirkung umgekehrt? Diese Fragen im Lichte der früher angeführten zu betrachten, heißt, sie in ein weites Netz von verschiedenen untereinander verbundenen theoretischen Problemen einzuweben. Innerhalb eines solchen Netzes gewinnt die denkerische Arbeit am Problem der Ironie nicht nur an Vielseitigkeit, sondern vor allem an Konkretheit. Die Ironie untergräbt, erschüttert den Textsinn. Wie ist indes die Natur dieses Sinnes unabhängig von einer solchen Untergrabung aufzufassen? Um das Spezifische eines ironischen Textes zu verstehen, muß man erkennen, wie und auf welchen Voraussetzungen der Textsinn gebildet wird, wenn er sich nicht unter dem Zepter der Ironie befindet. Der ironische Sinn ist natürlich nicht unabhängig vom "nichtironischen" Sinn. Es wird also die Grundfrage nach der Stabilität des Textsinnes gestellt, vor und unabhängig von dem Effekt des ironischen Bedeutungsfaktors. Dieser Faktor selbst ist seinerseits ebenfalls erst dann zu verstehen, wenn ein entsprechendes Verständnis der Fragen nach der Identität bzw. Veränderlichkeit des Textsinnes besteht. Diese Fragen haben ihre semantische und ihre hermeneutische Dimension, was zum erwähnten weiteren Netz verschiedener theoretischer Probleme führt. Aber es ist nicht nur so, daß die einzelnen Gedankengänge, denen man hier begegnet, mehr oder minder die Betrachtung des Ironiephänomens beeinflussen, sondern vielmehr ermöglicht die Einsicht in dieses Phänomen erst eine vollkommenere und konkretere Betrachtung der umfassenderen mit der Natur des Textsinnes verbundenen Fragen.

Wie kann man noch an das Problem des Sinnes herantreten? Was kann helfen, den semantischen und theoretischen Aspekt dieses Problems allseitiger zu beleuchten? – Dort, wo der Standpunkt zur Vermittlung überhaupt negativ ist, wird er auch zur Schrift negativ sein. Die Sehnsucht nach der "Natürlichkeit" der Nichtvermitteltheit kann auch in einem anderen Aspekt als dem von Lévi-Strauss gefunden werden. Sie fügt sich dann auf eine andere Art und Weise in die Betrachtung über die Unumgänglichkeit des Logozentrismus im Zeitalter der Metaphysik ein, durch welche die Wurzeln der Wertung dieser "Natürlichkeit" erklärt werden. Ferdinand de Saussure etwa vertrat die Ansicht, daß die Schrift nur zu dem Zweck besteht, um die Sprache darzustellen.[37] Im geschriebenen Wort sah er das "Bild" des gesprochenen, wobei er betonte, daß die Bedeutung der Schrift überschätzt wird, da die Sprache unabhängig von der Schrift ist, sowohl hinsichtlich der Existenz eines Gleichbleibenden in ihr, als auch hinsichtlich des Veränderlichen. Die Einheit der Sprache sichert im Laufe der Zeit die Beziehung zwischen den Lauten, die seiner Meinung nach die einzige "natürliche" und "allein wirkliche" ist, und keinesfalls das graphische Bild des Wortes, das eine "lediglich künstliche Einheit" schafft.[38] Zu denken, die graphische Darstellung des Lautzeichens sei wichtiger als dieses Zeichen selbst, ist, nach de Saussure, dasselbe, wie wenn man glauben würde, zum Kennenlernen eines Menschen sei es besser, seine Photographie anstatt seines Gesichts zu sehen. In Überschätzung der Schrift zu vergessen, daß der Mensch zuerst sprechen und dann erst schreiben lernt, heißt, "das natürliche Verhältnis ist umgedreht".[39 ]

Aus demselben Geist schreibt André Martinet, wenn er erörtert, wie vom linguistischen Standpunkt das Wort von den übrigen Einheiten zu sondern ist. In diesem Kontext äußert er sich gegen den Glauben, daß "die Einteilungen des geschriebenen Textes eine wesentliche Bedeutung haben", und erinnert daran, "daß man immer von der mündlichen Aussage ausgehen soll, um die wirkliche Natur der menschlichen Sprache zu begreifen".[40 ]Zieht – Derridas Ausführungen gemäß – der offen ausgedrückte "Phonozentrismus" de Saussures den Logozentrismus seiner Konzeption der Sprache nach sich? Jonathan Culler hat auf die Unmöglichkeit einer eindeutigen Antwort auf diese Frage hingewiesen. Er erwähnt zunächst das Streben nach einer "kreativen Interpretation", die die ohnehin unlösbare Aufgabe ablehnt, mittels sprachlicher Zeichen zu den Bewußtseinsinhalten des Autors eines gesprochenen oder geschriebenen Textes vorzudringen; vielmehr strebt sie danach, "aktiv und ungehemmt"[41] Bedeutungen zu bilden, indem sie die Aufmerksamkeit nicht dem Bezeichneten widmet, wie es für den Logozentrismus charakteristisch wäre, sondern dem Bezeichnenden und besonders der materiellen Spur der geschriebenen Sprache. Diese Art der Interpretation bringt er in Zusammenhang mit de Saussures Erforschung des Anagramms, wobei er sich allerdings bewußt ist, wie weit diese von der aktiven und ungehemmten Erzeugung der Bedeutung entfernt ist und in welchem Maße sie von Saussures selbsthemmendem Verfahren abhängig ist, das auf das Wollen und Denken der Verfasser der analysierten Texte ausgerichtet war, das jedoch trotzdem "Reize einer bizarren und kreativen Interpretation"[42] gebracht habe. Viel wichtiger ist der andere Grund, weshalb de Saussures Verhältnis zum Logozentrismus zweideutig ist. Culler bemerkt, daß der klar hervorgehobene Vorzug der gesprochenen Sprache, der, ebenso wie die zweitklassige Rolle der Schrift, den Logozentrismus nachweisen soll, bei de Saussure nicht in Übereinstimmung mit seiner Grundidee steht, daß es in der Sprache eigentlich keine vor-artikulierten Begriffe oder Wesenheiten gibt, die, wie es logozentristisches Denken annimmt, sozusagen nachträglich durch ein System von Signifikanten ausgedrückt oder bezeichnet würden. Es gibt bei ihm auch weder Ideen noch Laute, die als Elemente der Sprache dem Sprachsystem vorausgehen. Weil sich die Signifikanten durch ihre Unterschiede wechselseitig bestimmen, gibt es auch kein selbständig und unabhängig Bezeichnetes, vielmehr besteht auch auf dieser Ebene nur ein Netz von Unterschieden. Die Verbindung eines einzelnen Signifikanten mit demjenigen, was er bezeichnet, ist willkürlich und wird erst innerhalb des Systems einer bestimmten Sprache notwendig, welches sanktioniert, wie etwas in ihr gesagt wird. Von Bedeutung ist hierbei, daß die Signifikate in verschiedenen Sprachen (d.h. dieses "etwas") sich auf verschiedene Weise aufeinander beziehen. Nicht nur, daß in einer Sprache etwas anders gesagt wird als in einer anderen, sondern es besteht auch keine verbindliche Identität bei der Abgrenzung dieses Etwas, auf welches als Bezeichnetes ein Bezeichnendes im Rahmen einer einzelnen Sprache, d.h. eines einzelnen Systems von Unterschieden, hinweisen soll. Die Gegliedertheit des Bezeichneten auf der Begriffsebene hängt von der konkreten Sprache bzw. dem sprachlichen System ab, und auch wenn zwischen Sprachen eine Ähnlichkeit oder eine teilweise Identität in solchen Gliederungen besteht, wird das Prinzip der Differentialität dadurch überhaupt nicht gefährdet. Es ist nicht durch das begriffliche Substrat der Sprache bestimmt; die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten ist arbiträr, so daß also die Signifikate erst innerhalb des Systems und dank ihm identifiziert werden können.

Zu Ende gedacht, würde das Differentialprinzip wirklich jeden Logozentrismus auflösen. Derrida liegt selbstverständlich eine solche Sicht der Unterschiede (auf der Spur de Saussures) nahe, in der, wie bei Hjelmslev, die positiven, substantiell bestimmten Elemente, zwischen denen der Unterschied hergestellt wird, völlig verschwunden sind. Diese Sicht kommentiert er mit folgenden Worten: "Die erste Folgerung wäre, daß die bezeichnete Vorstellung, der Begriff, nie an sich gegenwärtig ist, in hinreichender Präsenz, die nur auf sich selbst verwiese. Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette von Differenzen oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die differance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -Systems überhaupt."[43]

Die Möglichkeit der Begrifflichkeit, die im Spiel der Unterschiede erreicht wird, bedeutet Abwendung von jedem Logozentrismus. Man kommt zu einem Punkt, an dem man behaupten kann, daß unabhängig von Sprache und textueller Produktion nirgendwo eine Grundordnung, eine verborgene Vernunft oder ein zuverlässiger und selbständiger Grund der Sinnhaftigkeit besteht, zu dem man, sei es durch die Sprache oder irgendwie anders als zu dem Ort der Wahrheit durchdringen könnte. Die Annahme irgendeines von der sprachlichen Artikulation unabhängigen Grundes, auf den sich die Erkenntnis gründen würde, als metaphysische Illusion (oder gar als gefährliche Obsession) zu erklären, ist die Devise des grammatologischen Kampfes der "Textualisten" gegen die "Logozentristen". Selbst aber, wenn das differentiale Prinzip angenommen wird, ist es weder ohne weiteres gewiß, daß der Kampf gegen den Logozentrismus gewonnen ist, noch daß es überhaupt möglich ist, ihn zu gewinnen. Schon ein flüchtiger Blick auf die strukturelle Semantik bezeugt dies. Trubeckoj hat in seinem bekannten Buch über die Phonologie hervorgehoben, daß die Anschauung, die sich der distinktiven Oppositionen bedient, nichts spezifisch Phonologisches enthält, und daß die Grundsätze, auf denen sie beruht, auf irgendein anderes System von Oppositionen angewendet werden kann.[44] Verschiedene Versuche, in diesem Geist auf der lexematischen und sublexematischen Ebene eine strukturelle Semantik aufzubauen, bzw. eine Theorie, die das "Wortfeld", "lexical field", beleuchten würde, gab es tatsächlich.[45] Es zeigt sich jedoch, daß die Abgrenzung der Lexeme in einem bestimmten Feld nach dem differentialen Prinzip bzw. eine gleichartige Abgrenzung der Felder gegeneinander nicht die volle Bedeutung des Lexems (bzw. des Inhalts des Feldes) erklären kann. Die Bedeutung eines Lexems bestimmen nicht ausschließlich seine Verhältnisse zu den Nachbarn im entsprechenden Feld. Das ganze Feld hat seine Grundbedeutung, die durch das "Archilexem" ausgedrückt wird – das übrigens nicht auch selbst in jedem Feld die Form eines Lexems haben muß –, und diese Bedeutung des Archilexems bestimmt als eine Art gemeinsamer Nenner die Bedeutung der Lexeme mit, indem es eine Grundlage bildet, auf der die einzelnen Glieder eines Feldes in Opposition gegeneinander treten können. Die Bestimmungen, die in bezug auf die gemeinsame Grundlage etwas Zusätzliches darstellen, bilden einen inhaltlichen Unterschied in der Bedeutung, einen Faktor der Abgrenzung im Zusammenhang des Feldganzen. Das Archilexem ermöglicht das Unterscheiden, aber es geht ihm als ein irgendwie an sich bestimmter Inhalt auch voraus. Selbst wenn es auf einer anderen Ebene eventuell auch selber nach dem differentialen Prinzip von anderen Archilexemen abgegrenzt ist, wirkt es auf "sein" Feld durch seine inhaltliche Bestimmtheit. Ohne Rücksicht auf die Ebene der Betrachtung ist es immer möglich, die Existenz eines solchen Begriffs, der umfassender als die Einheiten ist, die sich wechselseitig erst in der Korrespondenz mit ihm differentiell bestimmen, als unbemerkte Rückkehr des Logozentrismus dort, wo sonst das Spiel der Unterschiede am Werk ist, aufzufassen. Eine vollständigere Erhellung dieser Frage erfordert, von jener grundlegenden Sphäre auszugehen, in der die Bedeutung "entsteht", also von der strukturellen Analyse der sublexematischen Ebene.[46 ]

Die Tatsache, daß das System der Unterschiede in einer Sprache anders ist als in einer anderen, hat ungleiche Folgen auf der Phonem- und der Bedeutungsebene. Auf der Phonemebene ist es möglich, daß gewisse Lautmöglichkeiten in einer Sprache nie benutzt werden, weil diese Sprache bestimmte Phoneme einfach nicht kennt. Dort jedoch, wo aus den Beziehungen der Signifikate die Bedeutung hergestellt wird, gibt es keine unbesetzten Stellen. Obwohl die Gliederung der Begriffsebene in verschiedenen Sprachen nicht die gleiche ist, kann die Nichtübereinstimmung in dieser Hinsicht, etwa das Nichtvorhandensein einer bestimmten Lexemeinheit in einer Sprache, eine Periphrase überbrücken. Es ist möglich, sich standartisierte und gebräuchliche Periphrasen als die einmaligen, einzigartigen, dem konkreten Kontext angepaßten vorzustellen. Damit wird aber die Frage der Beziehung von differentieller und referentieller Betrachtung der Sprache gestellt; während sich im Vokabular einer Sprache einzelne Einheiten im endlosen Kreislauf wechselseitig bestimmen, unabhängig vom konkreten Gebrauch, zeigt die Übersetzung in das System einer anderen Sprache – die immer erst aufgrund des Systems der anderen Sprache möglich ist – dadurch, daß sie manchmal eine Periphrase erfordert, daß es möglich ist, den von einer bestimmten Intention getragenen Sinn zu übersetzen. Um etwas zu übersetzen, muß man wissen, was gesagt werden wollte, und nicht nur, was bei der Aussage dazu diente, diesen Willen zu realisieren. Für "tiefes Alter" im Serbokroatischen sagt man auf Deutsch "hohes Alter" – eine Verkehrung, bei der es natürlich nichts "Ironisches" gibt; beides drückt genau denselben Gedanken aus, bezeichnet genau denselben Sachverhalt: fortgeschrittene Jahre. Der Gebrauch der identischen Sprachelemente bei der Übersetzung – "hohes Alter" bzw. "tiefes Alter" – wäre gerade ein Verrat an diesem Gedanken, ein Entfernen von diesem Sachverhalt, oder würde gar zu völliger Unverständlichkeit führen. Wichtig, aber auch untrennbar sind beide Momente: sowohl dasjenige, was man sagen will, als auch die Mittel, dies im System einer bestimmten Sprache zu erreichen; das eine ohne das andere ist im konkreten Funktionieren der Sprache unmöglich. Dies sieht man am klarsten dort, wo eines der in einer Sprache verwendeten Sprach"mittel" in einer anderen als Analogon fehlt. Erst wenn es möglich ist festzustellen, was durch das in einer Sprache Gesagte intendiert ist, kann "dasselbe" in einer anderen Sprache ausgedrückt werden. Je umfassender und tiefer das Verständnis der Intention dabei ist, desto größer ist die Möglichkeit, daß die Reproduktion in der anderen Sprache sowohl sinnhaft als auch stilistisch treu wird. Dies bedeutet, daß man mit der Berücksichtigung der Intention das System der Unterschiede, langue, verläßt und in die Sphäre des Sprechens, parole, eintritt.

In der Informations- und Kommunikationstheorie können wir das geschlossene System, langue, auch Code nennen, im Gegensatz zur Mitteilung, welcher die konkrete Anwendung des Systems (Code) im Reden oder Sprechen (parole, discours) entspricht.[47] Nach der ursprünglichen Bestimmung bei de Saussure ist langue eine gesellschaftliche Institution, die den Einzelnen zur Verfügung steht und in die sie sich, wenigstens wenn es sich um die Muttersprache handelt, sehr tief eingewöhnen und sie in höchstem Maße als etwas Eigenes empfinden, etwas, wie de Saussure sagt, "das virtuell in jedem Gehirn existiert",[48] das aber trotzdem nichts Subjektives, sondern für jeden einzelnen Redner oder Verfasser etwas Äußerliches, "Objektives" ist. Weder Reden noch Verstehen sind ohne dieses System von Unterschieden (Code) möglich. Verstehen und Deuten bedeutet Verstehen und Deuten ausgehend von einem System; dieses ist sozusagen die Grundlage, von der die Formulierung ausgeht und die ihre Verständlichkeit, die Erkennbarkeit ihres Sinnes, bedingt.

 

3. Semiologie und Semantik

Kann man eigentlich über den Sinn sprechen, wenn man in der Immanenz des Systems verbleibt? Wann kann man tatsächlich über Bedeutungseinheiten zu sprechen beginnen, auf welchem Niveau auch immer, die in der Tat Bedeutungseinheiten sind, die also wirklich etwas bedeuten – Folgerichtig gedacht und bis zu Ende durchgeführt, hebt das Prinzip der Differentialität auf irgendeine Weise die inhaltlich positive Bestimmung der Elemente des Systems an sich auf, indem es die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Beziehungen lenkt als auf jenes, was den sich aufeinander beziehenden Elementen vorausgeht und ihre Bestimmung ermöglicht. Dies bedeutet, daß die Zeichen im Sprachsystem keine Bedeutungseinheiten sind, die an sich etwas bedeuten, auf etwas hinweisen oder irgendwohin weiterführen, sondern nur differentiale Werte, die durch ihre wechselseitige Abgrenzung bestimmt sind. Als Gliedern des Systems kommt ihnen nur semantische Virtualität zu. Erst durch Anwendung, Gebrauch und Aktualisierung werden die Zeichen zu semantisch wirksamen Bedeutungseinheiten im echten Sinne. Damit dies aber geschieht, ist ein Artikulationswille nötig, jemand, der etwas sagen will und zu diesem Zweck dann auch das Sprachsystem bzw. die Sprache als System aktiviert. Es ist also nötig, daß dem unpersönlichen System gegenüber ein Subjekt erscheint.

Die Hjelmslevsche Analyse des Systems, die Benvenistesche Linguistik des Diskurses und die Husserlische Bedeutungstheorie vor Augen, trennte Paul Ricoeur mit Recht die Semiologie von der Semantik und begründete an mehreren Stellen in seinen Schriften die Notwendigkeit dieser Trennung.[49] Als Hauptstützpunkt diente ihm hierbei die Studie von Benveniste "La forme et le sens dans le langage".[50] Das Prinzip der Differenz, welches das System beherrscht, muß durch das Prinzip der Referenz, welches den Diskurs beherrscht, ergänzt werden. Das Wort, ein differentieller Wert im Wörterbuch, bedeutet im wahren Sinne etwas, wenn es gebraucht wird, also erst als Element des Satzes. Der Mensch spricht über etwas. Das, was er spricht oder schreibt, ist von seiner Intention geleitet, die den Willen, etwas zu sagen, die Ausrichtung auf etwas darstellt. Ricoeur fragt sich sogar, "ob die Unterscheidung zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten außerhalb der Funktion der Referenz überhaupt noch einen Sinn hat". "Aber gewährleistet denn nicht gerade die Bedeutungsintention – die den Satz Schritt für Schritt jedem seiner Elemente und zunächst den Wörtern mitteilt – vermöge ihrer Transzendenzbeziehung die innere Einheit des Zeichens? Würden das Bezeichnende und das Bezeichnete wirklich zusammenhalten, wenn nicht die Intention der Bedeutung wie ein Pfeil durch sie hindurchginge in Richtung auf ein mögliches Relatum, das existiert oder nicht existiert?"[51 ]Diese Fragen warnen davor zu vergessen, daß die Sprache als System, in ihrer synchronen Statik, immer ein System für jemanden ist, der sich seiner bedient, also für ein Subjekt, das in der Zeit existiert und einen Willen zur Mitteilung, zur Kommunikation, zum Reden und Schreiben hat, der also auch immer ein Wille in der Zeit ist. Sowohl das Sprachsystem als auch das Subjekt sind einigermaßen analytische Abstraktionen, gesondert und unabhängig; dies aber soll nicht die Tatsache verdecken, daß sie immer zusammen bestehen: sogar die sogenannten toten Sprachen sind die Sprachen derjenigen Subjekte, die sich durch sie ausgedrückt haben; es gibt keine Sprache für niemanden.

Für die Frage nach der Identität der Bedeutung ist Ricoeurs Analyse des Verhältnisses zwischen Wort und Satz besonders interessant. Wenn das Wort erst mit dem Satz zu einer effektiven Bedeutungseinheit wird, ist es genauso wichtig, daß es den Satz, die Aussage, als etwas Momentanes, als Ereignis überlebt, indem es ins System (und in die semantische Virtualität) zurückkehrt und sich für einen neuen Gebrauch zur Verfügung stellt. Bei dieser Rückkehr ist es jedoch bereichert durch einen "neuen Gebrauchswert [...], so gering dieser auch sein mag".[52] Die Mehrdeutigkeit des Wortes im Vokabular kann Ricoeurs Meinung zufolge nicht nur auf der synchronen Ebene erklärt werden. Man muß das dialektische Verhältnis der Struktur und des Prozesses, der Synchronie und der Diachronie, des Systems und des Ereignisses betrachten. Das Wort ist imstande, neue Bedeutungen zu erhalten und dabei die alten nicht zu verlieren; es ist eine "kumulative Entität",[53] die sich durch einzelne Verwendungen erweitert und bereichert und dabei manchmal auch "überladen" wird.

Bei seiner Rückkehr in die Struktur muß das Wort wieder seinen Platz finden; deshalb sind die Erweiterungen seiner Bedeutung durch die wechselseitige Abgrenzung der Zeichen im System Schranken gesetzt. Es besteht also eine "limitative Wirkung des Feldes".[54] Man könnte im Einklang mit der Analyse Ricoeurs sagen, daß das Wort seine Erweiterung im System "erkämpfen" muß, denn das System muß diese Erweiterung erst sanktionieren. Die Mehrdeutigkeit des Wortes, die der Kontext im Gebrauch einengt oder ganz eliminiert – obwohl, fügen wir hinzu, dies von der Art des Textes abhängt; in den poetischen Texten vergrößert er sie auch, was auch bei der Ironie vorkommt –, ist eine "geregelte Polysemie". "Die Worte haben einen mehrfachen, doch keinen unendlich vielfältigen Sinn."[55] Die geregelte Polysemie ist "panchronischer Art",[56] hat also zugleich synchronischen und diachronischen Charakter, "insofern sich hier eine Geschichte auf Systemzustände projiziert, während die Systemzustände in dieser Sicht nur noch zeitlich begrenzte Querschnitte im Sinngeschehen, im Prozeß der Benennung darstellen."[57] Indem es sich zwischen dem Ereignis des Diskurses und dem System bewegt, vermittelt das Wort dem System eine "Kontingenz und eine Labilität, ohne die dieses sich nicht verändern könnte",[58] und gibt so der außerzeitlichen Struktur die "Tradition". In diesen Formulierungen finden sich zahlreiche Berührungspunkte mit den Anschauungen Michail Bachtins, die in seinem Buch Marxismus und Sprachphilosophie dargelegt sind. Entstanden in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts und veröffentlicht 1929 unter dem Namen V.N. Vološinow, blieb dieses Buch lange Zeit, bis zu den siebziger Jahren, im Westen, wo sich in der Linguistik und außerhalb ihrer der sogenannte Strukturalismus entwickelte, meistens unbekannt.[59 ]Bachtin sah zwei Grundrichtungen im philosophisch-linguistischen Denken: den "individualistischen Subjektivismus" – die Theorien im Geiste von W. von Humboldt und Vossler – und den "abstrakten Objektivismus" – die Theorien im Geiste von de Saussure. Nach den Eigenschaften, die er ihm beimißt, deckt sich der "abstrakte Objektivismus" in der Analyse Bachtins in hohem Maße mit dem Strukturalismus. Die scharfe Kritik, der Bachtin den abstrakten Objektivismus unterzog, wird nicht im Namen des individualistischen Subjektivismus geführt; beide Richtungen leiden nach Bachtins Meinung an ernsten Mängeln, so daß der russische Theoretiker sie in einer dialektischen Synthese überwinden wollte.[60 ]Wie erwähnt, sieht auch Ricoeur in der Analyse der Semiologie als der Wissenschaft von den Zeichen innerhalb eines Systems und der Semantik als der Wissenschaft von Gebrauch oder Anwendung dieser Zeichen die Möglichkeit des Verstehens der Mehrdeutigkeit der Wörter erst in der "Dialektik" des Systems und des Sprachereignisses, in dem das Wort seinen Platz im Satz einnimmt. Seine Einstellung zum Strukturalismus ist jedoch nicht wie diejenige Bachtins zum sogenannten abstrakten Objektivismus negativ. Für die Sprachtheorie Bachtins ist es wesentlich, daß er, seinen eigenen Worten nach, bemüht war, sowohl den proton pseudos des abstrakten Objektivismus, als auch den proton pseudos des individualistischen Subjektivismus zu beseitigen. Der Fehler des abstrakten Objektivismus besteht in der Entgegensetzung des Sprachsystems der normativen, selbstidentischen Formen zu der Aussage als etwas Individuellem, wodurch diese, wie Bachtin denkt, als unwesentlich vernachlässigt wird. Der Fehler des individualistischen Subjektivismus liegt hingegen darin, daß dieser, wenn er die Wichtigkeit des Sprachaktes, der Äußerung, hervorhebt, zugleich meint, daß er (bzw. sie) individuell sei, während nach Bachtins Meinung die individuelle Äußerung auch sozial ist. Nicht nur, daß sich die Redner eines gemeinsamen Vorrats an Zeichen bedienen, vielmehr ist auch die individuelle Formung dieser Zeichen in der Äußerung "gänzlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt".[61] Der individualistische Subjektivismus betont mit Recht die schöpferische Bedeutung der Äußerung, aber er begeht einen Fehler, wenn er denkt, daß ihre Sinnfülle aus der individuellen Psyche abgeleitet werden kann. Der gemeinsame Fehler des abstrakten Objektivismus und des individualistischen Subjektivismus besteht Bachtins Meinung nach darin, daß sie die Aussage monologisch auffassen. "Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt",[62] es wird durch den Redner und den Zuhörer, durch Absender und Adressat, bestimmt. Dies wird aus der Analyse der Bedeutung und des Verstehens ganz klar: das wahre Verstehen ist aktiv und enthält immer wenigstens den Keim einer Antwort, wodurch es im wesentlichen dialogisch wird, während das passive Verstehen mehr ein Erkennen des Stabilen in der Bedeutung ist, was dieses dem bloßen Signal annähert; "eigentlich bedeutet die Bedeutung nichts, sie besitzt nur die Potentialität, die Möglichkeit einer Bedeutung innerhalb eines konkreten Themas",[63] also im Ganzen des Sinnes der konkreten Äußerung, die nur in der Unwiederholbarkeit des Augenblicks und des Kontextes, dem sie angehört, verstanden werden kann. Das Thema ist, Bachtins Terminologie zufolge, der Sinn der ganzen Aussage und als solcher unteilbar, und die Bedeutung bilden "alle jene Faktoren der Äußerung, die wiederholbar und selbstidentisch bleiben" und somit den "Apparat der Verwirklichung des Themas" darstellen.[64]

Interessant ist der Vergleich dieser Ideen mit einigen Ansichten von Jan Mukarovsky über die Bedeutungsstatik und -dynamik, die sich in der Studie Über die Dichtersprache aus dem Jahre 1940 finden. Mukarovsky (der in dieser Arbeit auch Vološinov erwähnt[65]) unterscheidet das Wort als statische Bedeutungseinheit mit seinem Bezug auf einen Gegenstand, dessen Bedeutung "auf einmal" und "vollständig" im Moment des Aussagens begriffen wird, und den Satz bzw. größere Bedeutungskomplexe als dynamische Einheiten, die als ein "allmählich realisierter Kontext" gegeben sind. "Die dynamische Einheit", sagt Mukarovsky, "als solche bloße semantische Intention, benötigt statische Einheiten zu ihrer Verkörperung; die statische Einheitb hingegen gewinnt erst im Kontext eine aktuelle Beziehung zur Wirklichkeit."[66 ] Ihr Verhältnis ist wechselseitig aktiv: die dynamische Einheit formt die statischen um, und diese üben ihrerseits einen Druck auf die Bedeutungsintention des Kontextes aus und geben dieser eine andere Richtung, wobei sie sogar nach völliger Verselbständigung streben.

Mukarovsky führt folgende Prinzipien der Satzkonstruktion an: die Einheit des Satzsinnes; die Bedeutungsakkumulation; die Oszillation zwischen der Bedeutungsstatik und der Bedeutungsdynamik. Dieselben Prinzipien gelten auch für höhere Sinneinheiten. So wie der Satz nicht nur eine syntaktische, sondern auch eine Bedeutungskonstruktion ist, so hat auch das Ganze des Textes seine Bedeutungskonstruktion. Die Erforschung seiner "dynamischen" Aspekte ermöglicht es, die bloße Analyse der "Komposition" zu überwinden, indem eine "semantische Geste" erkannt wird, die den Text als eine Bedeutungseinheit von den "einfachsten Elementen bis zu den allgemeinen Umrissen"[67] organisiert und die, obwohl "formal", eine konkrete semantische Tatsache ist, eine "Bedeutungsintention, wenn auch [eine] qualitativ unbestimmte".[68]

Die Einheit des Satzsinnes bei Mukarowsky kann trotz offenkundiger Ähnlichkeit nicht mit dem Thema und seiner Unteilbarkeit bei Bachtin identifiziert werden, da Bachtin nicht über Sätze, sondern über "Äußerungen" spricht, wodurch die Konkretheit der Situation und des geschichtlichen Augenblicks, dem die Äußerung angehört, mitumfaßt wird. Auch der konkrete Redner wird hier mitverstanden, besser gesagt: die immer unumgängliche Frage – wer spricht? Das ganze theoretische Opus Bachtins steht im Zeichen dieser Frage, worüber seine Analyse der "Polyphonie der Stimmen" in der Abhandlung über Dostoevskij[69] beredt zeugen, aber nicht minder auch seine mehr skizzierte als zu Ende geführte Theorie der Sprachgenres,[70] welche die Aufgaben einer Linguistik des Diskurses oder des Textes erfüllen soll. Diese Aufgaben sehen, wie man weiß, aus der de Saussureschen Perspektive nicht leicht lösbar aus.

Es ist auch zu bemerken, daß Roman Ingarden in seinen phänomenologischen Analysen neben der Einheit des Satzsinnes auch einen "Gesamtcharakter"[71 ]hervorhob, den die Schicht der Bedeutungseinheiten als Ganzes in Abhängigkeit von den Kombinationen der einzelnen Eigenschaften des Textes bekommt. Dieser "Gesamtcharakter" der Schicht der Bedeutungseinheiten in einem literarischen Kunstwerk nennt Ingarden auch den Stil des Textes. Unter der Voraussetzung, daß man das Ganze der Ingardenschen Konzeption der Schichten des literarischen Kunstwerks vor Augen hat, wäre es interessant und nützlich, eingehender zu vergleichen und tiefer zu analysieren, wie sich dieser "Gesamtcharakter", das Bachtinsche "Thema" und die in der Theorie von Mukarovsky enthaltene "semantische Geste" zueinander verhalten. Die Bedeutungsakkumulation, auf die Mukarovsky mit Recht hingewiesen hat, entsteht dadurch, daß die Bedeutungseinheiten im Satz allmählich verstanden werden, abhängig von der Folge, in der sie sich "reihen", und zwar folgendermaßen: "jede Einheit, die auf eine andere folgt, wird bereits auf deren Hintergrund und auf dem Hintergrund aller vorausgegangenen Einheiten aufgenommen, so daß bei Beendigung des Satzes der gesamte Komplex der Bedeutungseinheiten, aus denen sich der Satz zusammensetzt, im Sinne des Zuhörers oder Lesers simultan gegenwärtig ist."[72] Das Schema, das Mukarovsky gibt, sieht folgendermaßen aus:

a b c d

a b c

a b

a

Im Augenblick der Aufnahme der Einheit b befindet sich im Bewußtsein des Hörers (Lesers) schon die Einheit a, bei der Aufnahme der Einheit c kennt er schon die Einheiten a und b, wie auch den Komplex a-b, und so weiter. Es besteht kein Zweifel, daß die Reihenfolge, die die Art und Weise der "Akkumulation" der Bedeutung während des Lesens (Hörens) bestimmt, für das Verständnis wichtig ist, zumal wenn dieser Grundsatz auf das Verstehen des Ganzen des Textes angewandt wird. Die Analyse Mukarowskys erweist sich aber als ungenügend, sofern sie nicht durch die Analyse dessen, was Ingarden "Objektivierung"[73] nennt, vervollständigt wird. Diese Analyse ist jedoch nur aus einer phänomenologischen Perspektive möglich. Die Sätze haben, der Ingardenschen Theorie zufolge, ihre intentionalen Korrelate: intentional bestimmte Sachverhalte. Die Verbindung dieser "Sachverhalte" ergibt zunächst einzelne intentional begründete Gegenständlichkeiten und im Endresultat das Ganze der dargestellten "Welt" des Textes (bzw. des literarischen Kunstwerks). Diese "Welt" bildet eine besondere Schicht des Werkes. Die Ordnung dieser "Welt" unterscheidet sich von der Sukzession der Sätze. Die Ordnung, in der die Sätze und ihre intentionalen Korrelate erscheinen, ist jedoch dieselbe. Die Sätze beziehen sich auf verschiedene Aspekte einer Gegenständlichkeit, eines Ereignisses oder des Ganzen des dargestellten Geschehens; eine Vielheit von Sätzen – die auch sehr weit entfernt voneinander stehen können – bezieht sich auf dieselbe Sache, oder die Sätze folgen einander und verweisen auf verschiedene Sachen, die in der dargestellten "Welt" des Werkes nicht unmittelbar verbunden sind. Das Verfahren, durch das man von den einzelnen intentionalen Sachverhalten als den Korrelaten einzelner Sätze zu den dargestellten Gegenständlichkeiten, Ereignissen usw. als den Ganzheiten der "Welt" des literarischen Kunstwerks als Ganzem gelangt, nennt Ingarden "Objektivierung". Sie hat semantischen Charakter, da durch sie verschiedene Einzelheiten, die durch einzelne Sätze intentional projiziert sind, zu einem Ganzen verbunden werden, und zwar nicht additiv, sondern auf eine Weise, die zur Einheit führt.[74] Das Ordnen der dargestellten "Welt", das allererst ihre Wahrnehmung ermöglicht, das Verfolgen der dargestellten Geschehen in dieser "Welt" und das Verstehen ihres Sinnes, ein eventueller ästhetischer Genuß usw. stellen also eine besondere Aktivität des Lesers beim Verstehen der Bedeutungseinheiten verschiedenen Niveaus dar. In dieser Aktivität berücksichtigt der Leser nicht nur die Aufeinanderfolge der Sätze, sondern auch die Logik, welche den durch das auf eine bestimmte Weise geordnete ("komponierte") semantische Material gegebenen Inhalten eine Verbindung aufzwingt. Der Unterschied zwischen dem Verstehen, das durch die Aufeinanderfolge der Bedeutungseinheiten geleitet wird, wobei es zu der Akkumulation kommt, von der Mukarovsky spricht, und dem Verstehen, das durch die Logik der Verbindung einzelner Satzkorrelate zu entsprechenden gegenständlichen Ganzheiten und deren Verbindung zu dem Ganzen der dargestellten "Welt" geleitet wird, in dem also die "Objektivierung", von der Ingarden spricht, vollzogen wird, zu berücksichtigen, ist gerade bei der Erforschung der Ironie sehr wichtig, da diese auch aufgrund der Nichtübereinstimmung der dargestellten "Welt", die durch die Aufeinanderfolge der Sinneinheiten konstituiert wird, mit der "Welt", die zwar auf denselben Bedeutungseinheiten beruht, aber konstituiert wird durch die Logik, die sich in der Objektivierung manifestiert, erscheinen kann.

Die Rolle des Lesers, der mit der Unumgänglichkeit konfrontiert ist, beim Lesen die Objektivirung durchzuführen, ist verhältnismäßig groß, so daß sein Verständnis (und auch sein Verständnis der Ironie) in vielem von der Fähigkeit abhängt, sich von den einzelnen Korrelaten zum Überschauen des Ganzen der "Welt", die sie bilden, zu erheben, indem er dieses Ganze im Objektivierungsvorgang aus dem Bedeutungsmaterial des Textes konstituiert. Der zeitliche Charakter des Lesens, dem Ingarden außerordentlich subtile Analysen gewidmet hat,[75] spielt dabei eine bedeutende Rolle. der Bedeutungskonstruktion des Satzes, das Mukarovsky erwähnt, – Oszillation zwischen der Bedeutungsstatik und der Bedeutungsdynamik – entspricht teilweise der Bachtinschen Unterscheidung zwischen Thema und Bedeutung, weicht aber teilweise auch von ihr ab. Mukarovskys Worten zufolge zielt jede Bedeutungseinheit in der Satzbindung darauf, "einen unmittelbaren Sachbezug zu der Wirklichkeit anzuknüpfen, die sie als solche bedeutet"; "andererseits ist sie durch den Zusammenhang des Satzes als eines Ganzen gebunden und knüpft erst mittels dieses Ganzen eine Beziehung zur Wirklichkeit."[76] Der Strukturalist Mukarovsky gesteht also zu, daß das Wort in seiner Funktion als Benennung auch außerhalb des Diskurses "eine Wirklichkeit bedeutet". Auch für ihn sind die Bedeutungsstatik und die Bedeutungsdynamik Grundlage einer "dialektischen Antinomie jedes Bedeutungsprozesses".[77] Die Oszillation zwischen Statik und Dynamik bestünde also in der "Polarität zwischen Benennung und Kontext, die in verschiedenen Fällen unterschiedlich gelöst werden kann".[78] Darin liegt auch der Unterschied zu Bachtin, der, wie auch Benveniste und Ricoeur, das Semiologische vom Semantischen trennt, wenn auch nicht in diesen Termini. Bei Bachtin bedeutet, wie wir gesehen haben, die Bedeutung an sich nichts, sondern sie "besitzt nur die Potentialität, die Möglichkeit einer Bedeutung innerhalb eines konkreten Themas". Das Thema ist jedoch ein "komplexes dynamisches System von Zeichen, das versucht, einem gegebenen Augenblick des generativen Prozesses adäquat zu sein",[79] eine Reaktion des werdenden Bewußtseins auf das werdende Sein. Die Bedeutung des "Wörterbuch-Wortes" im System der Sprache[80] bekommt erst innerhalb des Themas eine gegenständliche Beziehung zur konkreten Situation und zum konkreten Augenblick. Wesentlich ist, daß die Bachtinsche Auffassung des aktiven Verstehens die Behauptung ermöglicht, daß die Bedeutung eine "Wirkung der Interaktion zwischen Sprechendem und Hörendem im Material des gegebenen Lautkomplexes"[81] ist. Eine Bedeutung ohne diese Wechselseitigkeit in der Kommunikation gibt es überhaupt nicht, also auch nicht in der "Benennung", die Mukarovsky erwähnt, und die vor dem Diskurs nur eine Möglichkeit der Benennung bleiben muß, so wie das "Wörterbuch-Wort" die niedrigste Stufe der Bedeutung darstellt: "nur der Strom der sprachlichen Kommunikation gibt dem Wort Licht und Bedeutung"[82], oder – es gibt keine Bedeutung außerhalb und vor dem Diskurs.

Dasselbe, obwohl ohne Hervorhebung des dialogischen Faktors, behauptet eigentlich auch Ricoeur – erst der "Pfeil der Intention" führt uns, indem er das Wort aus dem Sprachsystem in den Diskurs einführt, aus der semiologischen Ebene (der Ebene des "abstrakten Objektivismus" nach Bachtin, der Sphäre der Virtualität des Sinnes) heraus und, in der Kommunikation, auf die semantische Ebene (die Ebene des konkreten Sinnes, des "Themas", von dem, wie Bachtin sagt, die Bedeutung "verschlungen und von seinen lebendigen Widersprüchen zerrissen" wird, "um dann als neue Bedeutung mit der gleichen flüchtigen Beständigkeit und Selbstidentität wiederzukehren"[83]). Die vom Thema "verschlungene" Bedeutung erinnert also sehr an jene Ricoeursche "kumulative Entität", die die Intention aus dem System in den Diskurs führt und die aus ihm, erweitert und bereichert, in die Virtualität des Systems zurückkehrt.

So wie Bachtin die Einseitigkeiten des abstrakten Objektivismus beseitigen will, wobei er einige seiner wesentlichen Elemente beibehält, so will Ricoeur die semiologische Analyse durch die semantische und letzten Endes hermeneutische überbauen. Er drückt nämlich in der Polemik gegen Merleau-Ponty die Überzeugung aus, daß das semiologische Niveau der Analyse notwendig sei, damit der eigentlich linguistische Charakter der Erforschung erhalten bleibt, und daß sogar "alle Vermittlungen der Semiologie und der Logik " unumgänglich seien, um "die Schwelle zur eigentlichen Semantik zu überschreiten".[84] Der Hauptwert einer solchen Analyse zeigt sich jedoch dann, wenn die Frage nach der Interpretation des Textes gestellt wird. Die linguistische Erklärung eines Textes, die nun die Rolle des naturwissenschaftlichen Verfahrens in der Diltheyschen Einteilung übernimmt, stellt eine notwendige Etappe zwischen der naiven und der kritischen Interpretation dar, während letztere die eigentliche Aufgabe der geistesgeschichtlichen Wissenschaften ist. Die strukturalistische Erklärung, ob z.B. im Geiste der Lévi-Straussschen Erklärung des Mythos, der Proppschen Erklärung des Märchens oder der Barthesschen Erklärung der narrativen Struktur, eröffnet den Weg zur tiefen Semantik des Textes, indem sie, Ricoeurs Meinung zufolge, die psychologistischen und mentalistischen Gefährdungen der Interpretation beseitigt; eine solche Erklärung ersetzt nicht die Interpretation, aber sie verweist auf die Intention des Textes selbst, indem sie diese von derjenigen des Autors trennt; und gerade die Textintention soll zur Interpretation führen und sich mit dem Verstehen in "eine globale Auffassung der Lektüre als Aufnahme des Sinnes"[85] vereinigen. Derart versöhnen sich in gewissem Sinne bei Ricoeur die Erklärung und das Verstehen, die sonst in der psychologistischen Hermeneutik scharf getrennt sind, dank der theoretischen Vorarbeiten der strukturalen Analyse im Verfahren der Interpretation. Ricoeur und Bachtin stehen auf derselben theoretischen Grundlage: erst der Diskurs (Äußerung) und das durch ihn Intendierte (Thema)[86] bringen uns auf die semantische Ebene. Ricoeur besteht dabei auf der Rolle der "Aufnahme der Sinns" im Sich-Selbst-Verstehen des Lesers/Interpreten, während es Bachtin vor allem an der dialogischen Natur des Verstehens gelegen ist, an der Antwort auf das Verstandene und deren Beurteilung. Obwohl verschieden, sind diese Ausgangspunkte nicht weit voneinander entfernt: das Modell Frage-Antwort bildet den Grund der gesamten Hermeneutik.

Es ist von Bedeutung, die Bachtinschen Milderungen und Schwankungen in seiner sonst so scharfen und prinzipiellen Kritik des abstrakten Objektivismus wahrzunehmen. Wovon die Rede ist, sieht man am besten an jenen Stellen, an denen Bachtin die Auffassung der Sprachformen als etwas ständig Selbstidentisches und Erkennbares kritisiert. Die Sprache als System von normativ identischen Formen ist eine "Abstraktion, die man [...] nur mit großer Mühe [...] erlangen kann".[87] Für den Sprechenden jedoch ist im lebendigen Verkehr das wesentlich, was in der Sprachform dem einzelnen Kontext anpassungsfähig ist, und nicht das, was in allen Fällen seiner Anwendung gleich ist. "Für den Sprechenden ist die sprachliche Form nicht als beständiges und sich selbst gleichendes Signal wichtig, sondern als jederzeit veränderliches und flexibles Zeichen."[88] Als er vom Verhältnis zwischen dem Gleichen und dem Veränderlichen in dieser Hinsicht spricht, ist Ricoeur ganz dezidiert: "In der Semantik dagegen resultiert die Differenzierung der Bedeutungen aus dem Gleichgewicht zwischen zwei Prozessen, dem Prozeß der Expansion und dem Prozeß der Begrenzung, welche die Wörter nötigen, sich unter den anderen einen Platz auszugrenzen, ihre Gebrauchswerte in eine Hierarchie zu bringen."[89] Bei Bachtin liegt jedoch der Akzent ganz auf dem Veränderlichen. Einige seiner Formulierungen, mit denen er an die paläontologischen Erörterungen von N. J. Marr anknüpft, gestatten den Gedanken, daß es sich bei ihm eher um die Differenzierung der Bedeutung als Einengung "nach den [...] sich am häufigsten wiederholenden Linien der thematischen Anwendung"[90] eines vieldeutigen bzw. "alldeutigen" Urwortes handelt, und nicht um den Prozeß der Bedeutungsexpansion. Aber ohne Rücksicht darauf, in welche Richtung man die Bedeutung des Wortes sich bewegen sieht, zeigt die Beweglichkeit selbst seine "Elastizität", die im Prinzip seine Identität in Frage stellt. Wenn eine solche Elastizität nicht vorhanden ist, dann handelt es sich nach Bachtin um ein statisches Signal, das wohl immer auf dieselbe Weise erkennbar ist, das aber nicht in den Bereich des "Ideologischen" gehört.[91]

Und doch, trotz beharrlicher Negierung der Theorie des Wiedererkennens und trotz des Einsatzes für das Verständnis des Wortes im Kontext und für jene Neuheit seiner Bedeutung in der konkreten Aussage, die sich an dem Kontext (der Situation) orientiert, muß Bachtin, sozusagen mit halber Stimme, bemerken, daß das Verstehen nicht nur auf das Erkennen der Identität des Wortes zurückgeführt wird und daß es "nicht ganz" "stimmt", daß vom Standpunkt des Verstehenden eine normative Identität in Kraft tritt.[92 ]Das bedeutet jedoch nichts anderes als das Eingeständnis, daß das Verstehen doch zu einem Teil im Erkennen besteht und daß die normative Identität ihre – wenn auch begrenzte – Rolle spielt. Wenn man aber sagt, das Thema müsse sich auch auf etwas Stabiles in der Bedeutung stützen, dann hat man schon einem Sprachverständnis wesentliche Rechte eingeräumt, in dem eben Sprache als System möglich macht zu verstehen, worüber und was gerade gesprochen wird: was von dem Sprachmaterial durch den intentionalen Strom des Diskurses eine Richtung bekommen hat bzw. wohin diese führt. Hier ist es nicht von großer Bedeutung, ob der Akzent auf die Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit der Bedeutung gelegt wird (wie bei Bachtin) oder auf das Gleichgewicht der Expansion und der Begrenzung der Bedeutung innerhalb des Systems (wie bei Ricoeur). Bezeichnend ist, daß man beide Faktoren, sowohl die Elastizität als auch die Stabilität, die Veränderlichkeit (bzw. die Möglichkeit der Veränderung) wie auch die Identität (bzw. die Möglichkeit einer von vornherein hergestellten Regulierung) vor Augen hat, und nicht unwichtig ist selbstverständlich auch die Einsicht, daß beide erwähnten Faktoren zweifach bestimmt sind: durch die Zeichennatur der Sprache und durch den intentionalen Charakter des Sprechens (Schreibens). Durch die Kraft der Intention aus der Ebene des Sprachsystems herausgehoben, erleben die Wörter verschiedene Abenteuer in der Welt der Sätze, Dialoge, Texte, Werke, um dann auf diese Weise bereichert durch immer neue "Erfahrungen", welche das Leben in der Welt bringt, in das Zeichensystem, ins Vokabular wieder zurückzukehren.

Wenn man auch einige spätere Bachtinsche Standpunkte in Betracht zieht, die schon im Buch Marxismus und Sprachphilosophie angedeutet, aber erst Anfang der fünfziger Jahre entwickelt worden sind, ist es möglich, zusätzliche bedeutende Präzisierungen durchzuführen. In dem Text Das Problem der Sprachgenres faßt Bachtin auch den Satz und nicht nur das Wort als Teil des Sprachsystems auf. Erst die Äußerung ist wahrhaft lebendige Sprache, lebendiges Wort, und erst wenn man die Äußerung vor Augen hat, ist ihr völliges Verwachsensein mit dem Kontext, ihre Anpassung an ihn und ihre Wirksamkeit in ihm sichtbar.

Während Wort und Satz als solche keinen Autor haben, ist die Äußerung unabhängig davon, ob sie nur aus einem Ausruf, einem Wort, Satz oder mehreren Sätzen besteht – gerade durch das Vorhandensein eines konkreten individuellen Sprechers in konkreten Umständen bestimmt. Der Satz, sagt Bachtin, hat eine grammatische Natur, grammatische Grenzen, grammatische Vollendetheit und Einheit.[93] Dies gestattet ihm, ihn als Element des Sprachsystems aufzufassen. Die Vollendetheit der Äußerung ist jedoch durch den Wechsel des Sprechers sowohl an ihrem Anfang als auch an ihrem Ende bestimmt. Bachtin widersetzt sich der Grammatikalisation der Äußerung; der Maßstab, nach dem zu bestimmen ist, ob eine Äußerung vollendet ist oder nicht, ist die Möglichkeit, auf sie zu antworten, eine "erwidernde Stellungnahme'[194] zu geben. Dabei spielen, Bachtins Meinung zufolge, drei Momente eine Rolle: die gegenständlich-sinnhafte Ausschöpfung, die Sprachidee oder der Sprachwille des Redenden und die typischen genremäßigen Kompositionsformen des Schlusses der Äußerung. Indem er spricht oder schreibt, wählt der Mensch immer auch das "Genre", in dem er sich ausdrückt, in das er, wie Bachtin sagt, seine Sprache, seinen Sprachwillen "ergießt". "Wenn Sprachgenres nicht bestünden und wir sie nicht beherrschten, wenn wir im Prozeß des Redens sie zum ersten Mal festzustellen gezwungen wären, wenn wir jede Aussage frei und zum ersten Mal bilden müßten, die Sprachkommunikation wäre fast unmöglich."[95] Obwohl die Normativität und Stabilität der Sprachgenres geringer ist als der Zwang und die Stabilität der Sprachformen, ist die Aussage keine völlig freie Kombination der aus dem lexischen Bestand der Sprache und aus den grammatischen Strukturen genommenen Sprachformen; sie ist vielmehr wesentlich auch durch die Genreformen mitbestimmt. Indem er die de Saussuresche Ansicht über die parole verwirft, bemerkt Bachtin, daß "de Saussure die Tatsache ignoriert, daß außer Sprachformen auch die Formen der Kombinationen dieser Formen bestehen".[96] Das Übersehen oder Ignorieren des Bestehens relativ stabiler Muster, durch die sich der Sprachwille verwirklicht, führt nach Bachtin zur Verwechslung von Satz und Aussage. Die Wahl der Sprachmittel einschließlich des entsprechenden Sprachgenres ist durch die "gegenständlich-sinnhaften Aufgaben" des Sprachsubjekts bestimmt, und – was für das Nachdenken über die Ironie von außerordentlicher Wichtigkeit ist – auch durch das "expressive" Moment, welches das "subjektive, emotional bewertende Verhältnis des Sprechenden zu dem gegenständlich-sinnhaften Inhalt der eigenen Aussage" darstellt.[97 ]Eine solche Anschauung ermöglicht es, die Aussage als Faktor einer immer schon bestehenden Redekette zu betrachten, als eine Reaktion auf das vorher Gesagte oder Geschriebene und als eine Provokation zur Erwiderung in nachfolgenden Aussagen anderer Sprecher oder Schreiber. Daher rührt auch der Standpunkt Bachtins, daß sich die individuelle Redeerfahrung auf die Übernahme und Aufnahme fremder Worte stützt, die schon in fremden Aussagen verwendet wurden und durch diese Verwendungen bezeichnet, "gefärbt" sind, und nicht nur auf den Gebrauch der Worte als Elemente des lexischen Sprachsystems, das sonst die Kommunikation ermöglicht. Das Wort erscheint demgemäß zum einen als Niemandes Wort, das als so neutral geeignet ist, jedem, der nach ihm greift, zu dienen; aber dann auch als fremdes Wort, aus fremden Aussagen gekommen, voll des Widerhalls fremder Aussagen und Erwiderungen; schließlich auch als mein eigenes Wort, bestimmt gerade durch meine Intention und meine "Expression", also durch meine eigene kritische Stellungnahme in einer bestimmten Situation.[98 ]Für die Erforschung der Ironie ist auch die Bachtinsche Anschauung über die Adressiertheit jeder Aussage von Bedeutung, also über die Gerichtetheit der Aussage auf bestimmte erwidernde Reaktionen oder wenigstens darauf, welche erwidernden Reaktionen möglich sind. Durch einige seiner Formulierungen erscheint Bachtin in diesem Kontext auch als selbständiger Vorgänger der gegenwärtigen Rezeptionstheorie. Der Zentralbegriff dieser Theorie, der "Erwartungshorizont", ist in anderen Termini schon bei Bachtin definiert." Die These, die er vertritt, ist komplexer als die rezeptionstheoretische, obwohl sie nicht ausgearbeitet ist, da sie auch das Element des übernommenen fremden Wortes umfaßt. "Der Autor (das sprechende Subjekt) hat sein unveräußerliches Recht auf das Wort, aber auch die Zuhörer haben ihre Rechte, ebenso wie diejenigen ihre Rechte haben, deren Stimmen in dem Wort, das der Autor vorgefunden hat (denn es gibt keine niemandem angehörenden Worte), mitklingen. Das Wort ist ein Drama, an dem drei Personen teilnehmen (es ist kein Duett, es ist ein Trio)."[100]

Die Einführung in die theoretische Erörterung dieser Perspektiven und der "Rechte", die sie geben, zeigt sich als unumgängliches Moment in der Erforschung des Phänomens der Ironie aus dem semantischen Blickwinkel. Die Auffassung des Wortes als eines schon bekannten, in einem früheren Gebrauch kennengelernten Wortes bildet den Berührungspunkt der Bachtinschen Theorie mit einer Theorie des Redens wie etwa derjenigen von Merleau-Ponty. Bachtin meint, daß der Gegenstand der Aussage immer schon Gegenstand einer anderen Aussage eines anderen Sprechers (Schreibers) war. "Der Sprechende ist nicht der biblische Adam, der mit noch unberührten, noch unbekannten Gegenständen umgeht und ihnen zum ersten Male Namen gibt."[101] Im Gegenteil, über alles ist schon irgendwo und irgendwie geredet worden, und der Gegenstand des Redens findet sich notwendig in einer "Arena, in der man den Meinungen des unmittelbaren Gesprächspartners begegnet... oder den Standpunkten, Weltanschauungen, Theorien..."[102 ]Es ist ganz unglaublich, daß sich Bachtin und Merleau-Ponty irgendwie wechselseitig beeinflussen konnten. Einzelne Formulierungen Merleau-Pontys gestatten jedoch, über einen gewissen gemeinsamen Geist, der ihre Analysen durchdringt, und eventuell über einen verwandten methodologischen Ausgangspunkt nachzudenken. Die Unterscheidung von parole parlante und parole parlée in der Phänomenologie der Wahrnehmung führt Merleau-Ponty auch zu dem Schluß, daß das gesprochene Wort Bedeutungen, die es in der Sprach- und Kulturwelt erworben hat, wie ein erworbenes Vermögen genießt.[103] Das gesprochene Wort ist "der einzige Ausdrucksvollzug, der der Sedimentierung und der Konstitution intersubjektiver Erwerbe fähig ist."[104 ]Merleau-Ponty spricht auch über "verfügbare Bedeutungen", in Gestalt derer "die sprechenden Subjekte eine gemeinsame Welt [besitzen], zu der das aktuelle Sprechen, das neue Wort, sich verhält wie die Gebärde zur Sinnenwelt".[105] "Die Welt der Sprache und der Intersubjektivität", meint auch dieser französische Philosoph, "erstaunt uns nicht mehr, wir unterscheiden sie kaum von der Welt schlechthin, immer schon reflektieren wir in einer sprechenden und ausgesprochenen Welt."[106] Über das schwierige Problem der Intersubjektivität, das auch Husserl so große Mühe kostete,[107] sagt Merleau-Ponty in der Studie "Sur la phénomenologie du langage": "Wenn ich spreche oder wenn ich verstehe, erfahre ich die Anwesenheit des Anderen in mir oder meiner im Anderen, das ist der Stein des Anstoßes der Theorie der Intersubjektivität, die Präsenz des Repräsentierten, die der Stein des Anstoßes der Theorie der Zeit ist, und ich verstehe endlich, was der rätselhafte Satz Husserls sagen will: »Die transzendentale Subjektivität ist Intersubjektivität«".[108] Im Zusammenhang damit klingt die Behauptung über den Besitz der Sprache (langage), er gleiche den "von ausgesprochenen und gehörten Worte in uns hinterlassen Spuren"[109] ganz ähnlich Bachtin. Davon nicht weit entfernt ist auch die Behauptung der Übernahme fremder Gedanken durch Worte, was als die Möglichkeit, dem Gedanken eines anderen folgend zu denken, unser eigenes Denken bereichert.[110] Merleau-Ponty ist also dem Bachtinschen Gedanken des Widerhalls eines fremden Wortes in dem meinigen, einer fremden Intention im Ganzen meiner Aussage, sehr nahe.

Merleau-Pontys Insistieren auf dem redenden Subjekt schien Ricoeur verfrüht, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Umweg, der durch die strukturalistische Zeichentheorie führt, in der das Subjekt nicht erscheint, noch nicht zurückgelegt ist. Wenn die Bedeutungsintention etwas ist, was durch Sprachmittel, die schon in sich die Bedeutung tragen, erfüllt sein soll, indem diese durch ihre neue Anordnung den Verstehenden auf eine Bedeutung verweisen, oder indem sie die bisher unbekannte Bedeutung unter die schon verfügbaren Bedeutungen einreiht,[111] dann ist es auch für Ricoeur klar, daß der Strukturalismus nicht imstande ist, auf manche wichtige Fragen in einer solchen phänomenologischen Beschäftigung mit der Intentionalität zu antworten, die vor allem die Beziehung zwischen Subjekt und System betreffen, die konkrete Aktivierung des Systems im individuellen Gebrauch, also jene Fragen, die Bachtin so stark anzogen und beschäftigten. Kann der Philosoph jedoch völlig auf die Mitarbeit der Linguistik verzichten? Kann seine Forschung, die das Subjekt in den Mittelpunkt stellt, auf die Analyse des Zeichensystems, die das Problem des Subjekts ausschließt, verzichten? Solche Fragen, wiewohl sie im Falle Merleau-Ponty gerechtfertigt erscheinen, treffen kaum ernsthaft Bachtin. Obwohl ihm vor allem an der Wissenschaft gelegen war, die die Konkretheit der Kommunikation und der Aussagen im ständigen Wechsel der Sprechenden umfassen will, war, wie wir sahen, sein Verhältnis zur de Saussureschen Grundlage der modernen strukturalistischen Theorie, die er "abstrakter Objektivismus" nannte, sehr unmittelbar und innig, wenn auch in Form einer Kritik. Und umgekehrt würden aus der Perspektive der Bachtinschen Theorie einige Stellen bei Ricoeur eine Kritik verdienen, vor allem wegen der fehlenden Unterscheidung von Satz und Aussage.[112]

 

4. Ist die Bedeutung gesichert?

Die Aufmerksamkeit ist nun auch auf jene Versuche zu lenken, bei denen die Hauptbetonung auf der Stabilität der Bedeutung und auf der Sicherung dieser Stabilität liegt. Bei der Suche nach einem verläßlichen Stützpunkt des Sinnes bzw. nach dem letzten bestimmenden Grund der Sinnhaftigkeit, der den Erfolg des Kommunizierens, wie auch das richtige Verstehen der zusammengesetzten Sinngebilde garantieren soll, sind die Phänomenologen hervorgetreten. Auf welche Schwierigkeiten sie dabei stießen, ist aus der Analyse des Verhältnisses der Bedeutungstheorie von Roman Ingarden zur Theorie seines Lehrers Edmund Husserl zu ersehen.

Seine komplexe Konzeption der Bedeutung hat Ingarden in dem Buch Das literarische Kunstwerk dargelegt, und zwar zur gleichen Zeit, als Husserl in der Formalen und transzendentalen Logik gewisse Änderungen in seinen Ansichten über das Problem der Bedeutung, die er früher in den Logischen Untersuchungen vertreten hatte, vorgenommen hat. Ingarden selbst weist darauf hin, daß seine Kritik der Husserlschen Auffassung der Bedeutung auf eine Berichtigung der Ansichten aus den Logischen Untersuchungen gerichtet ist und daß sie sich dem in der Formalen und transzendentalen Logik Gesagten annähert. Das literarische Kunstwerk ist parallel mit diesem Husserlschen Werk und unabhängig von ihm entstanden; Ingarden konnte jedoch im Vorwort zu seinem Buch diese Annäherung der Meinungen erwähnen. Die Zentralfrage in diesem Zusammenhang wäre die Frage der intersubjektiven Zugänglichkeit der Bedeutungsgebilde und ihrer damit verbundenen Identität. Sowohl Husserl als auch Ingarden (als Husserls Jünger) verwarfen völlig jeden psychologistischen Standpunkt, nach dem die Bedeutung etwas Psychisches wäre, ein Faktor oder eine Eigenschaft des Erlebnisses. Wäre die Bedeutung als ein psychischer Inhalt aufzufassen, mit dem das Wort durch eine "Konvention" oder "Assoziation" verbunden wird, dann bedeutete dies, daß jeder Teilnehmer an der Kommunikation einen eigenen psychischen Inhalt mit dem Wort als einem "äußeren", physischen Zeichen verbände, so daß die Gleichheit der psychischen Inhalte eigentlich die Identität der Bedeutungen darstellte. Das Verstehen würde sich in ein Erraten dessen verwandeln, worin der psychischen Inhalt eines anderen Subjekts besteht, was es "gemeint" hat, als es ein bestimmtes Wort gebrauchte. Das hieße aber, daß es in der Bedeutung nichts Objektives gibt und daß das Verstehen als Übereinstimmung der psychischen Inhalte einzelner Menschen nur als ein Wunder realisiert werden kann. Dabei wäre es nie ganz gewiß, ob dieses "Wunder" auch wirklich geschehen ist, da man von der Voraussetzung ausgeht, daß die Erlebnisse erkenntismäßig nur demjenigen zugänglich sind, der sie erlebt. (In welchem Maße eine solche Auffassung der "Psychologie" gerechtfertigt ist, ob nicht unter der Erkenntnis des eigenen Erlebnisses auch ein durch Zeichen zu vollziehendes "kodiertes" Vermitteln verstanden werden kann, genauso wie unter der Erkenntnis fremder Erlebnisse, Gedanken, Willen usw., das ist eine besondere Frage; jedenfalls ist dies der phänomenologische Ausgangspunkt in der Kritik des Psychologismus und des aus dem Psychologismus folgenden skeptischen Relativismus, in dessen konsequenter und unwiderruflicher Widerlegung Husserl seine primäre Aufgabe sah.)

Wo ist ein Ausweg zu finden? Ist es mögüch, der Bedeutung Objektivität, Identität und Zugänglichkeit für alle Menschen auf dieselbe Weise zu sichern? Diese Frage ist von besonderer Wichtigkeit, weil die Sicherung der Identität und der intersubjektiven Zugänglichkeit eines einzelnen Wortes die Möglichkeit eröffnet, dies auf dieselbe Weise auch für höhere, aus Wörtern zusammengesetzte Sinneinheiten zu sichern.

Husserl sah den Ausweg darin, daß er der Bedeutung Idealität zuschrieb. Das Zeichen, das Träger der Bedeutung ist, nennt Husserl Ausdruck. Der Ausdruck kann ein artikulierter Lautkomplex oder ein schriftliches Zeichen sein.[113] Eine Bedeutung geben dem Zeichen die intentionalen Akte des Menschen, die es ermöglichen, hinter diesem Ausdruck etwas zu denken und dies eventuell mit einem ganz allgemein aufgefaßten Gegenstand zu verbinden. Die durch einen Sinn "inspirierten" Akte nennt Husserl Bedeutungsintentionen.[114] Bedeutung ist also immer noch nicht dasjenige, wovon gesprochen wird; damit eine Bedeutung vorhanden ist, ist es sogar überhaupt nicht notwendig, daß ein entsprechender Gegenstand (oder wie Husserl ebenfalls sagt, um Sachverhalt, Bezeichnungen, reale und kategoriale Formen usw. mit einem Wort zusammenzufassen: die Gegenständlichkeit) existiert. "Geschwindigkeit, größer als der Geschwindigkeit des Lichts", "ein Quadrat mit fünf Ecken" oder "Zentaur" sind Ausdrücke, deren Bedeutungen keine "Gegenständlichkeit" entspricht.[115]

Die Ausdrücke "Bedeutung" und "Sinn" gebraucht Husserl synonym.[116 ]Die Verbindung von Ausdrücken (Worten, Sätzen) mit den entsprechenden Gegenständlichkeiten wird durch eine andere Art von Akten hergestellt, die zwar mit der Bedeutungsintention zusammenschmelzen, von dieser jedoch unterschieden werden müssen: dies sind Akte, durch welche die Bedeutungsintention "erfüllt" – "bestätigt, bekräftigt, illustriert" – wird.[117] Die Intention kann also leer oder erfüllt sein – je nachdem, ob die Gegenstandsbeziehung hergestellt wird oder nicht. Die Bedeutung ist eine ideale Einheit oder, wie Husserl ebenfalls sagt, eine Spezies.[118] Obwohl nicht so differenziert wie Husserl, hat auch Gottlob Frege über dieselben Fragen auf ähnliche Weise geschrieben.[119] Auch bei Frege ist der Sinn ideal, er ist nicht etwas in der Natur oder im Geist Bestehendes. Auf der psychischen Ebene gibt es Vorstellungen, die sich von einem Subjekt zum anderen, wie auch in der Zeit ändern. Dasjenige, was in der Masse der psychischen Erlebnisse identisch ist, was weder dem Gebiet des Physischen noch dem des Psychischen angehört, ist der Sinn; dies ist die logische Ebene, an der Frege, wie auch Husserl, am meisten gelegen war. Auf der ontologischen Ebene entspricht bei Frege dem Sinn die Bedeutung. Bei Husserl wird auf der psychologischen Ebene über Erlebnisse gesprochen, auf der logischen über den Sinn (die Bedeutung) und auf der ontologischen über die Gegenständlichkeiten. Das Referentialverhältnis zeigt sich bei Husserl erst in sehr komplexen Analysen der Verhältnisse zwischen den drei erwähnten Ebenen. Hierbei stehen an zentraler Stelle die Untersuchungen der leeren und erfüllten Intention der Wahrnehmung bzw. des Wahrnehmens, in dem die Erfüllung zustande kommt, und die Untersuchungen des Inhalts, der bei dieser Erfüllung in seiner Identität als dasjenige erscheint, was gemeint ist, und über den durch unmittelbare Einsicht Evidenz gewonnen wird. Diese Analysen führen Husserl zur Theorie der Idealität der Bedeutung. Unter Bedeutung ist diejenige zu verstehen, "die als das Identische der Intention dem Ausdruck als solchem wesentlich ist".[120] Die Bedeutung steht in ihrer Idealität außerhalb der Zeit und aller Zufälligkeiten des einzelnen Gebrauchs in der Sprache; sie hängt nicht davon ab, ob sie von jemandem "ausgedrückt" oder aber, indem er den Ausdruck versteht, gedacht wird, wie auch nicht davon, ob es überhaupt jemanden gibt, der sie denken kann. Die Bedeutung, so meint Husserl, soll außerhalb der Bedingtheit der Psychologie und der Grammatik, also der intentionalen Erlebnisse und Ausdrücke, betrachtet werden, im Hinblick auf alle Veränderlichkeiten und Zufälligkeiten, denen diese unterliegen. Husserl ist radikal, und er schließt die ideal-identische Bedeutung nicht nur aus der Bedingtheit und Zufälligkeit des einzelnen menschlichen Geistes aus, sondern auch aus den Bedingtheiten, die mit dem Bestehen des menschlichen Geistes als solchem verbunden sind. Die objektive Geltung der idealen Bedeutung kann im Denken nur entdeckt, eingesehen, aber nicht geschaffen oder annulliert werden, noch kann man auf sie irgendwie einwirken. Im Einklang damit ist die Wissenschaft, nach dem Husserl der Logischen Untersuchungen, in "ihrem objektiven Gehalt" eine "ideale Komplexion von Bedeutungen".[121] Als eine große Aufgabe der Logik und Grammatik sieht Husserl die Ausarbeitung einer "Formenlehre der Bedeutungen", welche das "apriorische System" der formalen Strukturen untersuchen würde,[122] in denen sich die Bedeutung in ihrem formalen und materialen Aspekt zeigt.

Der Wunsch oder das Bedürfnis nach Erkenntnis drängt uns, im Verfahren der Erfüllung der Intention zur Gegenständlichkeit zu gelangen (in der Terminologie Freges: vom – sprachlichen – Sinn zur Bedeutung, also demjenigen, was die Sprache in der außersprachlichen Wirklichkeit bedeutet). Die Identität bzw. Idealität der Bedeutung hängt nicht davon ab, ob die Intention erfüllt ist oder nicht, ob der Ausdruck eine Erkenntnisfunktion hat oder nicht.[123] Nach Husserl haben Bestehen und Art der sprachlichen Artikulation keine Auswirkungen auf das Bestehen der Bedeutung. Die Worte werden als "sinnliche Zeichen" für eine Bedeutung aufgefaßt, die im Prinzip austauschbar sind; die Veränderung der Bedeutung tritt mit der Veränderung der Akte ein, welche eine Bedeutung verleihen, also mit der Veränderung der Intentionen, und verschiedene "sinnliche Zeichen" können "dasselbe" (sowohl in derselben als auch in verschiedenen Sprachen) bedeuten.[124] Die Bedeutungen ermöglichen infolge ihrer Idealität universale Prinzipien der Rationalität, die nicht nur für das menschliche Geschlecht gelten: die Geltung der Logik besteht unabhängig von den sprachlichen Konventionen, von den Objekten, über die man urteilt, und von der denkerischen Arbeit des Menschen. Klar ist, wie stark sich diese Anschauung von jeder Anschauung unterscheidet, die auf dem differentialen Grundsatz basiert, nach dem die Bedeutung aus dem Netz der Verschiedenheiten hervorgeht.

Die idealen Bedeutungen brauchen, Husserls Meinung nach, überhaupt keinen Ausdruck zu haben; es ist gut möglich, daß einige solcher Bedeutungen nie "ausgedrückt" werden. Das Zeichen, durch welches sie ausgedrückt werden, ist nebensächlich, willkürlich und zufällig. Im "menschlichen Seelenleben"[125] können zwar die Bedeutungen einzig durch Vermittlung von spezifischen Zeichen ausgedrückt werden, jedoch ist die Bindung der Bedeutung an einen Ausdruck nicht notwendig. Wie mit den Zahlen, die in ihrem durch die Arithmetik vorausgesetzten idealen Sinn mit dem Akt des Zählens weder entstehen noch vergehen, verhält es sich auch mit den "idealen, rein-logischen Einheiten, Begriffen, Sätzen, Wahrheiten, kurz den logischen Bedeutungen. Sie bilden einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist".[126 ]

Husserl lag vor allem die Logik, also die Wahrheit, am Herzen. Die Frage der Sicherung der Wahrheit, die Frage der Gewißheit und der Möglichkeit der Gewißheit beschäftigte seine Aufmerksamkeit in höchstem Maße. Aber in seinen "logischen Untersuchungen" war es notwendig, zur Sprache und besonders zur Problematik der Bedeutung, die auch an und für sich interessant sein kann, Stellung zu nehmen mittels Überlegungen, in denen die Fragen der Logik nicht im Vordergrund standen. Auf dieselbe Weise, obwohl selbstverständlich auch nicht ohne philosophische Absichten, ist Roman Ingarden von den Husserlschen Untersuchungen ausgegangen in dem Bestreben, eine phänomenologische Theorie des literarischen Kunstwerks auszubauen. In diesem Unterfangen baute er eine eigene Semantik aus, die sich auf den Husserl der Logischen Untersuchungen stützt, jedoch in einigen wesentlichen Punkten dessen Ideen abwandelt.

Husserls Einfluß war groß und ist es auch heute noch, aber freilich wurde seine Theorie aus verschiedenen Richtungen auch in Zweifel gestellt bis zur völligen Negation und Verwerfung ihrer Grundthesen. Theodor Adorno z.B. hat ein ganzes Buch einer gründlichen Kritik der Husserlschen Logik gewidmet. Darin wird aus verschiedenen Perspektiven gegen die Statik und Abwesenheit der Dialektik im Wahrheitsbegriff Husserls polemisiert. Bestritten wird auch die Relevanz von Betrachtungen des individuellen, vom sozialen der Synthesis des Denkens isolierten Bewußtseins.[127] Einer der charakteristischen Sätze der Kritik Adornos lautet: "Husserls Haß gegen die Skepsis wie gegen die von ihm mit dieser verwechselten Dialektik drückt eine Bewußtseinslage aus, in der er die Verzweiflung über den Verlust der statischen Konzeption von Wahrheit alle Theorien brandmarkt, die jenen Verlust bezeugen, anstatt daß darüber reflektiert würde, ob im Verlust selbst nicht ein Defekt des traditionellen Wahrheitsbegriffs zutage kommt."[128 ]

Bei der Besprechung der Bestrebungen Husserls, die philosophischen Grundlagen der Gewißheit in der Erkenntnis zu finden, betont Leszek Kolakowski die Unvereinbarkeit der Aufgaben, die Husserl sich gestellt hat. Die Ausrichtung auf ein Wissen, das vermeintlich die Gewißheit erreicht, dabei aber unabhängig von allem ist, was den Menschen biologisch, historisch und kulturell bestimmt, und das in unmittelbarer, durch die Sprache nicht getrübter Berührung mit den Dingen selbst gewonnen wird, kann wahrhaftig kaum mit der Mitteilbarkeit der philosophischen Ausführung in Einklang gebracht werden. Wenn es außerdem richtig ist (und das zeigt nach Kolakowski die Entwicklung Husserls), daß "eine wahrhaft radikale Suche nach Gewißheit stets mit der Schlußfolgerung endet, daß Gewißheit nur in der Immanenz erreichbar ist, und die vollkommene Transparenz des Objekts nur hergestellt werden kann, wenn Objekt und Subjekt [...] zur Identität gelangen", dann muß fürwahr auch die Folgerung angenommen werden, die der Interpret Husserls daraus zieht, daß nämlich "eine in Worten vermittelte Gewißheit nicht länger Gewißheit ist",[129] da die Erfahrung einer solchen Identität, deren Muster die mystische Erfahrung ist, nicht mitteilbar ist. "Was immer in den Bereich der menschlichen Kommunikation eintritt", sagt Kolakowski an derselben Stelle, "ist zwangsläufig ungewiß, stets fragwürdig, gebrechlich, vorläufig und sterblich." Kolakowski hat nicht die Absicht, den Wert der Husserlschen Bemühungen zu bestreiten, die geleitet sind durch den Wunsch nach einer Welt, in der es keine Zufälligkeit gibt und in der allem ein Sinn und demzufolge auch ein Zweck gegeben ist. Der eigene Standpunkt Kolakowskis in dieser Angelegenheit wird vollständiger und konkreter verstanden, wenn man seine Beurteilung der Husserlschen Philosophie vor Augen hat, die er in dem Buch Die Gegenwärtigkeit des Mythos darlegt. Dort sagt Kolakowski, daß die Logik Husserls sich unter der Herrschaft der Mythologie des Verstandes befinde, die "der verzweifelten Einwilligung des Menschen in seine eigene Zufälligkeit entgegenwirken" soll.[130] Obwohl ontologisch anders interpretiert als der Platonische Mythos, sei das transzendentale Bewußtsein bei Husserl funktional identisch mit der Platonischen Welt der Ideen, diesem gegen die Sophisten geschaffenen Mythos, der die logische Geltung dessen, worüber diskutiert wird, sichern soll. "Der Glaube an die Vernunft ist eine mythische Option, geht somit über die Befugnisse der Vernunft hinaus. [...] Innerhalb des Gefängnisses, das das Wissen errichtet, kann der Ganzheit des Wissens nicht rechtmäßig Sinn verliehen werden; es hießt dieses Gefängnis überschreiten, auch dann, wenn der Sinn, der dieser Ganzheit gegeben werden soll, einen Bruch mit dem Mythos der Vernunft intendiert"[131] – sagt Kolakowski.

In diesem Kontext galt es Husserl besondere Aufmerksamkeit vor allem deshalb zu schenken, weil seine Konzeption der Bedeutung als etwas Ideellem und immer Identischem jenen Punkt darstellt, an dem auf der Stabilität des Sinnes mit höchst möglicher Radikalität insistiert wird, so daß alle Untersuchungen der Beziehungen zwischen Sinn und Sprache (als Zeichensystem) im ersten Teil des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen – dieser Aufgabe untergeordnet sind. Aus dieser Perspektive ist auch jenes in der Konzeption Husserls zu betrachten, was in ihr fragwürdig ist. Für Husserl sind die höchsten Werte Gewißheit und Ungefährdetheit des Logischen, und im Einklang damit entwickelt er seine Anschauungen über Idealität, Zeitlosigkeit und Extramundanität der Bedeutung.

Roman Ingarden hat sich als Denker entwickelt, indem er die Grundmotive und Ideen Husserls übernahm. Jedoch gerade in diesem Punkt sah er Husserls Schwäche. Für uns ist die Kritik Ingardens vor allem deshalb interessant, weil es sich nicht um eine Kritik handelt, welche Husserls Streben nach Identität und Stabilität der Bedeutung zerstören will, sondern, da sie auch selbst gänzlich auf die Problematik der Sprache und des literarischen Werkes ausgerichtet ist, nur die Anschauungen Husserls zu korrigieren bemüht ist. Ingarden ging von folgendem aus: wären die Bedeutungseinheiten ideale Gebilde, so bedeutete dies, daß weder ihr Entstehen noch ihr Vergehen in der Zeit erklärt werden könnten. Dasselbe gelte dann mutatis mutandis auch für das literarische Werk.[132] Eine Theorie des literarischen Werkes, die sich streng an Husserls Auffassung der Idealität der Bedeutungseinheiten hielt, baute Waldemar Conrad aus. Ingarden wandte sich gegen diese Theorie, wobei er manchmal stillschweigend über Husserls Namen hinwegging. Die Aufgabe, die sich Ingarden stellte, war folgende: das Bestimmen der Bedeutungseinheiten als ideale Begriffe sollte vermieden, ihre Sinnidentität jedoch bewahrt werden.

Übrigens empfand auch Husserl selbst in seinen späteren Phasen dies als eine "peinliche Frage". Auch in der Formalen und transzendentalen Logik auf die Ausdrücke "ideales Objekt" und "ideale Bedeutung" nicht verzichtend, formulierte er die "peinliche Frage", "wie die Subjektivität in sich selbst rein aus Quellen ihrer Spontaneität Gebilde schaffen kann, die als ideale Objekte einer idealen »Welt« gelten können. Und dann weiter (als eine Frage neuer Stufe) wie diese Idealitäten in der doch als real anzusprechenden Kulturwelt – als einer im raum-zeitlichen Universum beschlossenen – zeiträumlich gebundenes Dasein annehmen können. Dasein in der Form der historischen Zeitlichkeit, wie eben Theorien und Wissenschaften."[133 ]

Diese Fragen haben auch Ingardens Aufmerksamkeit stark angezogen, und man kann sagen, daß das durch sie bezeichnete Problem eines der wichtigsten im Literarischen Kunstwerk darstellt. In diesem Buch meint Ingarden, dieses Problem dadurch gelöst zu haben, daß er die Entstehung der Bedeutung als intentionalem Gebilde in den Bewußtseinsakten sah, die den Worten eine intentionale Kraft "verleihen". Dabei sei die Bedeutung nicht ein Bestandteil des Denkaktes, der sie schafft, sondern sie sei in bezug auf diesen Akt selbständig und bleibe auch nach Beendigung des Aktes selbst weiter bestehen, und zwar auf besondere, seinsheteronome Weise. Jedes neue Verstehen indes der so entstandenen Bedeutung sei ein Verstehen derselben Bedeutung. Wie ist dies möglich? Die stiftenden Akte des Bewußtseins, welche der Bedeutung die Intentionalität geben, können dies nicht gewährleisten. Hier greift auch Ingarden nach idealen Begriffen, aber auf eigene Weise. Die Bewußtseinsakte ermöglichen das Entstehen und die idealen Begriffe das Bestehen der Bedeutungseinheiten, aber derart, daß sie nicht nur den Bewußtseinsakten transzendent sind, sondern auch diesen Begriffen als ihren Teilaktualisierungen. Die Bedeutung ist zeitlich, aber ihre Identität wird dadurch gesichert, daß sie als Aktualisierung von etwas Außerzeitlichem aufgefaßt wird. Schon in dem Buch Das literarische Kunstwerk scheint Ingarden jedoch die Unzulänglichkeit einer solchen Lösung gefühlt zu haben. Man könne das Bestehen von idealen Begriffen nur als Hypothese betrachten, sagt Ingarden, aber sie sei notwendig, denn im Falle der Annahme, daß es etwas solches wie die idealen Begriffe nicht gäbe, wäre die gesamte Wissenschaft, das gesamte mitteilbare Wissen gefährdet. Auch viel später (1960), als er – im Vorwort zur polnischen Ausgabe des Literarischen Kunstwerks – das Bestehen der idealen Begriffe nicht mehr behauptete, ohne allerdings einen "Ersatz" für sie vorzuschlagen, war bei Ingarden immer noch diese Denkweise festzustellen. Die Angst vor dem Psychologismus verließ ihn nie, so daß er auch in der deutschen Ausgabe des Buches Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1968) sagt, die Infragestellung der Identität der Bedeutungsgebilde oder die Unbeweisbarkeit dieser Identität bedeutete die Reduzierung der Intentionalität der Sinngebilde auf die Aktualität des ihre Intention denkenden Bewußtseinsaktes, und dies hätte sehr schlimme Folgen sowohl für das Erkenntnis- als auch für das Moralleben des Menschen.[134] Die Ausweitung der schädlichen Folgen der Ungesichertheit der Identität von Bedeutungseinheiten von der Wissenschaft auf den moralischen Bereich geht logisch aus der Einsicht hervor, daß das Fehlen eines feststellbaren Sinnes oder sein eventuelles "Ersticken" und die Schaffung eines immer anderen Sinnes mit jedem neuen verstehenden Bewußtseinsakt auch das Fehlen der Verbindlichkeit nach sich zieht, die sonst aus dem feststellbaren und beständigen Sinn einer Norm folgt. Die Entscheidung, aufgrund derer wir eine Verpflichtung übernehmen, zöge keine Folgen nach sich, denn mit dem Vergehen des Aktes, durch den wir uns zu einem Handeln verpflichtet oder entschlossen haben, würde dieses irgendwelchen neuen Sinn bekommen oder wenigstens bekommen können.[135]

Ingarden ist nicht geneigt, so wie Bachtin die "Elastizität" des Wortes und die Neuheit seiner Bedeutung mit jedem veränderten Kontext bzw. einem dem Kontext angepaßten Ausdruck in den Vordergrund zu rücken und zumal nicht so wie Derrida auf der Aufpfropfbarkeit des Zeichens auf verschiedenste Kontexte zu insistieren, die aus seiner Zitierbarkeit hervorgeht, aus der Möglichkeit, jede Aussage, sogar auch jene, die nach Husserls Terminologie ganz agrammatisch ist ("grün ist oder", "Abracadabra" u.ä.), in einem "Kontext" zu zitieren, in dem sie doch einen "Sinn" hat (etwa gerade als Beispiel der Agrammatikalität).[136] Ingarden glaubt im Gegenteil auch dann, wenn er die Auffassung, die idealen Begriffe sicherten Bestehen und Identität der Bedeutungseinheiten, verläßt und damit diesen platonianischen transzendentalen Raum opfert, in dem (oder aus dem) es "trotz" der mangelnden Verläßlichkeit der sprachlichen Vermittlung möglich ist, unmittelbar und verläßlich mit den Begriffen umzugehen, auch weiter an die Möglichkeit eines "richtigen Verstehens" des Textes, des Verstehens seines eigentlichen Sinnes, also desjenigen, was dieser trotz aller Schwankungen, Vervollständigungen und Änderungen bei der Konkretisierung in einzelnen Lesarten[137 ]wirklich bedeutet. Da es eine absolute Garantie, wie sie die idealen Begriffe geben würden, nicht gibt, werden die Formulierungen Ingardens vorsichtiger als im Literarischen Kunstwerk. Wenn er etwa über die Möglichkeit der sogenannten Rekonstruktion des literarischen Werkes beim Lesen spricht, d.h. über die Möglichkeit des Verstehens desjenigen, was das Werk an und für sich bedeutet, ohne irgendwelches Ergänzen oder Hineinlesen von Seiten des Lesers, und wodurch es für jedermann also dasselbe bedeutet, sagt Ingarden, daß die Aussichten auf eine Rekonstruktion dieser Art gut seien, daß es "wenigstens im Prinzip"[138] möglich sei, die Schwierigkeiten zu beseitigen; er verweist jedoch hierbei auch auf die Auffassung der Unmöglichkeit einer Garantie für die absolute Objektivität der empirischen Erkenntnis überhaupt,[139 ]was die Anschauung bekräftigt, daß es auch keine absolute Garantie dafür gibt, daß die Rekonstruktion des erkannten bzw. untersuchten literarischen Werkes diesem absolut treu ist; es genüge, sagt Ingarden, daß die in bezug auf die Rekonstruktion ausgesagten Behauptungen "möglichst gut in dem gegebenen Material [...] gegründet werden".[140 ]

Sofern es sich um Sachen oder Prozesse handelt, die irgendwie erfahren werden können, sieht Ingarden die Möglichkeit, eventuelle Mißverständnisse oder Bedenken über den Sinn eines Sprachgebildes dadurch zu beseitigen, daß die Aufmerksamkeit unmittelbar auf jenes Gebiet gelenkt wird, auf das sich dieses Sprachgebilde bezieht. Gemeinsame unmittelbare Erfahrung derselben Sachen ermögliche jedenfalls eine bessere Verständigung auch auf der sprachlichen Ebene. Aber wenn es sich um Kunstwerke handele, deren "Welten" nicht unmittelbar erfahren werden können, die vielmehr gerade dank der sprachlichen Vermittlung und erst durch sie gegenwärtig sind worüber Ingardens Theorie der Schichten auf interessante und einprägsame Weise spricht -, dann müßten sich diejenigen, die sich über diese Welten verständigen wollen, untereinander gerade durch die gemeinsame Sprache orientieren. Das Bestehen einer zuverlässigen gemeinsamen Sprache nimmt auch Ingarden selbst freilich als eine Voraussetzung an, indem er mehrmals betont, darunter werde verstanden, daß die betreffenden Menschen, etwa in einem Dialog, diese Sprache wirklich beherrschen, sei es als ihre Muttersprache, sei es als nachträglich erlernte.[141] Aber "eine Sprache wirklich beherrschen" oder eine "identische Sprache" haben, "die sozusagen zwischen dem Werk und dem Leser liegt",[142] bedeutet nichts anderes als einen "Code" zu haben bzw. ein System anzunehmen und anzuwenden, auf welches sich das Verstehen spontan ausrichtet.

Ingarden hat die Theorie aus den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft von de Saussure im Ganzen als psychologistisch unannehmbar verworfen.[143] Auch in dem Buch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks verwirft er, ohne de Saussure beim Namen zu nennen, jeden Gedanken darüber, daß das Phänomen des Verstehens und die Funktion der Sprache im Prozeß des Verstehens durch "Konvention" und "Assoziation" erklärt werden könne.[144] Und doch muß auch Ingarden neben der Erfahrung gleicher Gegenstände als zweites Mittel für das Erreichen eines Einvernehmens über identische Bedeutungen der einer Sprache angehörenden Worte das Sprachsystem anführen, "sowohl phonetisch als auch auf dem Gebiet der Bedeutung",[145 ]wobei er ohne Kommentar auf Karl Bühler und Kasimir Ajdukiewicz verweist (der künstliche Sprachen behandelt hat). Die Möglichkeit, die Sprache als System von Verschiedenheiten auf nichtpsychologistische Weise aufzufassen, untersucht Ingarden nicht.[146]

Die Existenz des Systems wird bei Ingarden manchmal erwähnt und manchmal auf verschiedene Weisen nahegelegt. So sagt er z.B., das Begreifen der Lautform eines Wortes sei als erster "Schritt des Verstehens" "das Auffinden gerade derjenigen Bedeutungsintention des Wortes, die ihm in einer Sprache zukommt".[147] Ein solches Auffinden sei indes nur dann möglich, wenn sich der Leser spontan nach einigen Regeln richtet, wenn er die Möglichkeit hat, sich nach einem System zu richten. Ingarden will sich nicht auf eine Diskussion über die Stabilität der Sprache in der Zeit einlassen, aber er geht von der Voraussetzung aus, daß der Leser nicht nur die Sprache, in der das literarische Werk geschrieben ist, beherrscht, sondern auch die Fähigkeit hat, die Sprache auch mit einigen Abweichungen "richtig"[148] zu gebrauchen. Dabei unterscheidet er den Status des Wortes im Satz, also dessen kontextuell bestimmte, angepaßte Bedeutung, und im Wörterbuch, in dem das Wort isoliert und in der Regel als mehrdeutig erscheint. Bei seiner Analyse der Einschaltung des Wortes in den "Fluß des Satzdenkens" bzw. in den "speziellen Denkstrom, in dem der Satz entfaltet wird", in dem Buch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks erwähnt Ingarden ausdrücklich ein "System der syntaktischen Funktionen", welche die Wörter im Satz haben.[149] Als er in dem Buch Das literarische Kunstwerk die Bedeutung noch als Aktualisierung eines entsprechenden idealen Begriffs betrachtete, machte Ingarden einen Unterschied zwischen dem aktuellen und dem potentiellen Bestand der Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes aktualisiere immer nur teilweise den Inhalt des idealen Begriffs. Die Erweiterung des aktualisierten Bestandes durch den nichtaktualisierten könne durch Hinzufügung neuer Ausdrücke vollzogen werden, die mit den schon bestehenden denselben Begriff weiter explizit "ausdrücken" würden. Dies sei jedoch auch ohne Hinzufügung neuer Ausdrücke möglich, nämlich durch jene Lauteinheit, die den Begriff schon aktualisiert hat. In diesem Fall seien die potentiellen Elemente der Bedeutung, die aktuell werden, in der Bedeutung nur implizit enthalten. Da er die Erlebnisse des Lesers des Textes nicht berücksichtigen möchte, fragt sich Ingarden, wodurch festgestellt werden könne, daß die Bedeutung auch implizite Momente enthält. Um dies zu erkennen, könne, sagt Ingarden, "das Bedeutungssystem der betreffenden Sprache"[150] behilflich sein, in dem die einzelnen Wörter ihre "volle Bedeutung" haben, die sie "infolge der verschiedenen Zusammenhänge, die das betreffende Wort mit anderen, ausgewählten Worten besitzt"[151], bekommen; ein anders Mittel, das behilflich sein könne, sei der konkrete Kontext des Wortgebrauchs. Ingarden unterscheidet eine "leere" und eine "parate" Potentialität. Die erstere stelle eine bloße Möglichkeit dar, während die letztere dann bestehe, wenn die potentiellen Bedeutungselemente "suggeriert" seien. Je "aktiver"[152] die Hilfe des Kontextes sei, desto mehr parate potentielle Elemente der Wortbedeutung gäbe es. "Jedenfalls ist es klar, daß man den potentiellen, und insbesondere den parat potentiellen Bestand einer Wortbedeutung nicht bei deren Isolierung von dem Kontext erfassen kann."[153] Diese Auffassung versteht auch Ingarden selbst als einen Übergang zur Untersuchung komplexer Bedeutungseinheiten höherer Ordnung.

Im Unterschied zu Bachtin und Ricoeur stellt Ingarden (wie auch Husserl) das Bestehen der Bedeutung vor dem Gebrauch durch ihren "Träger" in der Aussage, im Diskurs, nicht in Frage. Wie indes ersichtlich ist, zeigt sich auch bei Ingarden die Bedeutung als etwas eigenartig Elastisches, abhängig davon, welche ihrer potentiellen Elemente der Kontext des konkreten Gebrauchs als implizite Bedeutung suggeriert, bzw. was das Bedeutungssystem der betreffenden Sprache als potentielles Bedeutungselement zu vermuten ermöglicht. Die Möglichkeit der Bereicherung des aktuellen Bedeutungsbestandes durch Elemente des potentiellen gestattet es, cum grano salis auch die Bedeutung, so wie sie Ingarden sieht, "kumulative Entität" zu nennen, erkennbar im echten Sinne erst im Gebrauch. Der wesentliche Unterschied zu der Auffassung von Ricoeur und Benveniste besteht darin, daß das Bedeutungssystem bei Ingarden nicht ein System von Unterschieden ist und der potentielle Bedeutungsbestand nicht dasselbe ist wie die Virtualität der Bedeutung auf semiologischer Ebene, auf der das System gerade als System von Unterschieden aufgefaßt wird. Die Bedeutungen im System sind bei Ingarden und Husserl inhaltlich und substantiell "im voraus" bestimmt und nicht nach dem differentialen Prinzip in der Virtualität des Systems.

Analogien der analysierten Konzeptionen bestehen jedoch; sie müssen trotz ganz verschiedener Ausgangspunkte erscheinen, wenn man eine Erklärung bestimmter semantischer Probleme sucht, die, wovon man auch ausgehen mag, in jedem Falle auftreten. So können die bei Ingarden durch den Kontext suggerierten potentiellen Bedeutungselemente in gewisser Analogie mit der Bedeutung im Thema bei Bachtin betrachtet werden, und die aktuellen in Analogie mit dem Thema selbst. Das Moment der Konkretheit eines einzelnen Bedeutungsgebrauchs ist bei Bachtin jedenfalls viel stärker betont, zumal wenn seine Aufmerksamkeit auf die Äußerung konzentriert ist. Die Veränderlichkeit der Bedeutung beim Wortgebrauch in höheren Bedeutungseinheiten drängt sich also auf, trotz der Voraussetzung der Existenz idealer Begriffe, die das Bestehen und die intersubjektive Zugänglichkeit der Bedeutung garantieren sollen. Andrerseits hielt es Ingarden, als er seine Abneigung ausgedrückt hatte, auch weiterhin von der Existenz idealer Begriffe auszugehen, für angebracht zu bemerken: "Ich sehe doch keine andere Konzeption der Grundlagen objektiver Identitäten des Satzsinnes, die diese ersetzen könnte ohne ihrerseits wesentliche Bedenken hervorzurufen."[154] Auch Husserls Schwankungen in der Formalen und transzendentalen Logik haben in dieser Hinsicht nicht weitergeführt.

 

5. Verstehen, Mißverständnis und Wunder der Kommunikation

Streng genommen, kann ein Argumentationsverfahren, in dem gefolgert wird, daß etwas besteht, weil, wenn es nicht bestehen würde, schlimme Folgen einträten, keine Kritik ertragen, obwohl ihm eine gewisse gute Absicht zuerkannt werden kann und auch ein theoretischer und praktischer Nutzen, den die Suche nach einer Art und Weise, die vorausgesetzten negativen Folgen zu vermeiden, mit sich bringt. Aus der Tatsache, daß Wissenschaft oder Moral gefährdet wären, wenn die Identität der Bedeutungseinheiten nicht streng garantiert wäre (oder wenn eventuell das Bestehen der für eine solche Garantie notwendigen idealen Begriffe nicht akzeptiert würde), folgt nicht ohne weiteres der Schluß, daß die Identität der Bedeutungseinheiten besteht, daß es möglich ist, sie zu sichern (oder daß sogar sogenannte ideale Begriffe bestehen). Wenn diese Identität besteht, wenn es möglich ist, wiederholt über dasselbe auf dieselbe Weise zu denken, dann muß man zu dieser Identität bzw. zu einer solchen Möglichkeit durch ein anderes Verfahren gelangen.

Ingardens Besorgnis ist nicht ungerechtfertigt. Die Sehnsucht Husserls nach Gewißheit ist verständlich. Die Wahrheit ist tatsächlich durch den Relativismus gefährdet. Wissenschaft und Moral sind auch aus vielen anderen Gründen gefährdet, aber sie werden in der Tat oft gerade durch inadäquates Verstehen bestimmter Texte oder mündlicher Aussagen, allgemein gesagt: durch Mißverständnisse untergraben. Erinnern wir hier an Phaidros und an die Fragen des Verhältnisses zwischen mündlichen und schriftlichen Ausdrücken und an die Frage, wie Schützenswertes vor Mißverständnissen und falschen Verstehen zu schützen sei. Unsere Überlegungen können wir gleich bis an die Grenze des völligen Relativismus ausdehnen und, bevor wir uns wieder mit Platon beschäftigen, die Frage nach dem Schicksal des "Schutzes" des Sinnes (der Wahrheit, des verbindlichen Logos) stellen, wenn das Mißverständnis nicht nur ein Fehler ist, der aus Unwissen, durch das Nichtbefolgen der Regel eintritt oder aus ungenügender Gewandtheit im Gebrauch der trügerischen Sprache – was indes in seiner empirischen Zufälligkeit dann auch unwesentlich sein könnte –, sondern wenn es schon im Prinzip immer möglich ist, daß es in der Kommunikation und im Verstehen eines Textes zum Mißverständnis kommt. Ist das Mißverständnis ein mitkonstitutiver Faktor der Kommunikation, zusammen mit dem richtigen Verstehen? Dieses wie jenes ihre gleich wesentliche Möglichkeit? Vielleicht ist die Kommunikation wirklich eine Art Wunder?

Die Mißbilligung, die solche Ideen trifft, kann nicht alle Gründe für deren Erscheinen beseitigen, mögen diese Gründe auch vielleicht nur eine begrenzte Tragweite haben oder selbst relativ sein. Auf der empirischen Ebene kann das Leugnen der Möglichkeit einer absoluten Garantie der Identität des Sinnes vielleicht doch durch das Streben nach einer möglichst sorgsam und allseitig durchgeführten Sicherung des Sinnes und der Ausarbeitung von Methoden, durch welche sie erreicht werden kann, ersetzt werden. Aber was für einen Sinn hat ein solcher Ersatz auf der theoretischen Ebene, wenn die Einsicht, auf eine solche Garantie verzichten zu müssen, den Menschen dazu verleitet, sich nicht nur zu fragen, was wirklich (oder am häufigsten) im Verstehen geschieht, sondern was überhaupt möglich ist, wenn das Verstehen in Frage steht.

Dem Kampf gegen den Psychologismus und den skeptischen Relativismus verleiht die Sorge um die Werte, vor allem um die Wahrheit, ein Pathos – man kann ruhig sagen: ein metaphysisches Pathos. Ein solches Pathos regte auch Platon an, als er die Schrift tadelte und die Mündlichkeit lobte, um die Aussichten auf Bewahrung und Realisierung dessen, was er für wert hielt, zu erhöhen. Ähnliches tut auch Ingarden, wenn er, ganz auf Husserls Spur, das Verstehen und besonders das Verstehen von Aussagen der intersubjektiven Wissenschaft[155] nicht dem Wunder zu überlassen wünscht: das Verstehen, meint er, müsse auf etwas Verläßlichem beruhen.

Anders als Ingarden betrachtet Ricoeur die Kommunikation als ein Wunder, indem er davon ausgeht, daß die an der Kommunikation Beteiligten "Monaden" sind. Wenn Cäsar etwas spricht, dann ist dies ein Ereignis, das wie auch andere Ereignisse, etwa das Überqueren des Rubikon, Cäsar bestimmt. Im Unterschied jedoch zum Überqueren des Rubikon ist ein sprachliches Ereignis imstande, ohne dabei die Natur des Ereignisses zu verlieren, durch das Verstehen des Gesagten von einem monadischen Ganzen doch zu einem anderen solchen Ganzen zu gelangen. "Das Wunder besteht darin", sagt Ricoeur, "daß das nicht Übertragbare übertragen wird. Es ist der Sinn, der zu jenem besonderen Ereignis gehörige »Semantismus«, worauf das Wunder der Übermittlung beruht."[156] Durch den Sinn und den entsprechenden Kontext, in dem sich dieser realisiert, wird der Diskurs als bloßes Ereignis aufgehoben.[157]

Was garantiert die Identität eines so intermonadisch beweglichen Sinnes, also die "Richtigkeit" des Verstehens? Das Problem liegt freilich nicht darin, daß sich die Kommunikation in zahllosen, oft sehr komplexen Formen der Vermittlung erfolgreich entfaltet. Das Problem liegt darin, daß immer die prinzipielle Möglichkeit besteht, daß das Verstehen unter bestimmten Umständen (als Aktivität, welche die "Monaden" überbrückt, unter denen sich die Kommunikation entfaltet) mit einem veränderten Sinn konfrontiert wird, oder daß es selbst den zu "übertragenden" Sinn verändert, daß es jenen "»Semantismus«, der zu dem sprachlichen Ereignis gehört", stört.

Gerade die Ironie ist ein Beispiel für eine solche Störung, eine solche Veränderung. Dabei ist von höchster Bedeutung, daß die Veränderung oder Störung dieser Art nicht jeder bemerkt, der sonst an der "ungestörten" Kommunikation rechtmäßig und ohne Schwierigkeiten teilnehmen kann. Das Verstehen der Störung (und deren wirklicher und konkreter Folgen) deckt sich weder notwendig mit dem Verstehen des betreffenden Sinnes, noch ist es durch dieselben Faktoren wie dieses Verstehen bzw. durch das, was eventuell die Identität des Sinnes im Verstehen bewahrt, bestimmt. Der Kontext, der sonst dem "Wunder der Kommunikation" zur Hilfe kommt, kann auch eine ganz andere Rolle haben; er kann die Bildung des Anscheins, daß es zur Kommunikation gekommen sei, beeinflussen, oder aber den Eindruck, es sei ein bestimmter Sinn kommuniziert, unterstützen, während für die kontextuell besser Informierten "in der Tat" etwas ganz anderes kommuniziert ist; ebenso kann er bei jenen an der Kommunikation Beteiligten, die sich bewußt sind, daß es sich um einen Anschein handelt und daß der Text mit Vorbehalt verstanden werden muß, eine Ungewißheit darüber hervorrufen, wie man sich mit Rücksicht auf die durch den Anschein gebotene Zurückhaltung im Verstehen zum betreffenden Text zu verhalten hat. Die Ironie bedeutet gerade solch ein zurückhaltendes Verstehen, ein Verstehen "mit Vorbehalt"; wo Ironie ist, da ist die Kommunikation von schwankendem Sinn, und Schwankung liegt im Verstehen des Sinnes.

 

6. Trasse und Bahn des Verstehens

Welche Folgerungen können aus dem bisher Gesagten über die Natur der Bedeutung (bzw. des Textsinnes) gezogen werden – mit Rücksicht auf die mögliche Instabilität der Bedeutung und im Kontext der Untersuchung der Ironie, in dem sie gerade als eine spezifische Möglichkeit der "Destabilisierung" der Bedeutung (des Sinnes) betrachtet wird; und was ist dabei für die mündliche Kommunikation charakteristisch, was für das Verstehen eines geschriebenen Textes?

Benveniste folgend,[158] kann man sagen, die Sprache als System ermöglicht festzustellen, ob eine einzelne Zeichenformation in ihm etwas bedeutet oder nicht. Sogleich muß jedoch hinzugefügt werden, daß diese Regulierung innerhalb der Sprache, also der Code, das Erkennen der Einheit als potentiell bedeutungsvoll ermöglicht, ihre – sagen wir es so – (mögliche) "Bedeutungshaftigkeit" bezeugt, jedoch nicht die Bedeutung als solche, bevor nicht der Satz bzw. Diskurs, in dem die betreffende Einheit gebraucht ist, vorliegt. Erst die Intention also, die aus einem bestimmten Artikulationswillen hervorgeht, vermag zu bestimmen, um welche Bedeutung es sich gerade handelt.

Im System der serbokroatischen Sprache gibt es sowohl das Phonem a als auch die Phoneme s und ž. Dementsprechend ist das Wort sa wie auch das Wort ža denkbar. Nach demselben System jedoch ist es sofort, schon vor jedem Gebrauch klar, daß nur das Wort sa etwas bedeuten kann, während das Wort ža nichts bedeutet: es besteht einfach nicht ( so daß es auch in diesem eben angeführten Beispiel nicht den Status eines Wortes im gebräuchlichen Sinne bekommt). Im Arabischen besteht im Vergleich hierzu das Phonem ž im Unterschied zu den beiden anderen nicht, so daß das Wort ža undenkbar ist, während das Wort sa zwar denkbar ist, aber nichts bedeutet; ein solches Wort gibt es nicht.

Indem behauptet wird, das Wort sa bedeute etwas, wird noch nicht festgestellt, was es bedeutet.

1. Sprijateljio se sa najboljim ljudima.

2. Oženio se u tim godinama sa svoje lude glave.

3. Pobegao je sa mesta dogadjaja.

Die Übersetzung dieser Sätze in andere Sprachen ermöglicht es, daß sich die Verschiedenheit der Bedeutung des Wortes sa in der Notwendigkeit des Gebrauchs anderer, in diesen Sprachen untereinander verschiedener Wörter zeigt. [159]

Hier ist die prinzipielle Folgerung wesentlich, daß die eigentliche Bedeutung des Wortes erst im Kontext bestimmt wird, der seine Mehrdeutigkeit als Lexem, als lexische Einheit, beseitigt: im Satz, unter anderen Wörtern und nach gewissen Regeln mit ihnen verbunden, wird das Wort bedeutungsmäßig präzisiert.

Die Erkennbarkeit und das Verstehen der Wortbedeutung völlig durch den Kontext zu bedingen, wie es Richards tat,[160] führt dahin, daß die Stabilität der Bedeutung als Stabilität des Kontextes aufgefaßt wird. Nur derselbe Gebrauch in dem selben Kontext gibt "dieselbe" Bedeutung. Dies erinnert nicht nur an Wittgenstein,[161] sondern assoziiert ebenfalls das "Thema" Bachtins, wobei es auch, wie wir gesehen haben, in Richtung der Betrachtungen Merleau-Pontys darüber führt, daß sich der Mensch im konkreten Sprechen nicht vor allem auf das System stützt, sondern auf die bestehende, früher erkannte und erlebte Rede. Die Einführung von Sprachgenres im Bachtinschen Sinn sollte eine spezifische zusätzliche Regulation ermöglichen, welche das Verstehen in verschiedenen Kontexten ermöglicht. Diesem Moment des Sich-Stützens auf die schon gesprochene, lebendige Rede anstatt unmittelbar auf die Sprache als System muß man Rechnung tragen: unser Gebrauch von Bedeutungseinheiten beim Sprechen und Schreiben hat wirklich in vielem den Charakter des Zitierens von bereits Gehörtem oder Gelesenen, also von etwas irgendwo schon Artikulierten. Darf aber deswegen die Rolle des Bestehens des Codes vernachlässigt oder außer acht gelassen werden, in bezug auf den das Gesagte oder Geschriebene festgestellt und überprüft werden kann?

Obwohl Richards mit sehr guten Gründen vom "Aberglauben einer echten Bedeutung"[162] sprechen kann, zumal im literarischen Gebrauch, wo die Bedeutung entscheidend von der Konstellation abhängt, in der man das Wort findet, muß die völlige Auflösung der Bedeutung im Kontext des Diskurses, theoretisch möglich, zu Schwankungen jenes Typus' führen, den wir an Bachtins Beispiel erörtert haben. Dieser ebenfalls große Anhänger des kontextuellen Verstehens mußte auch selbst auf das apriorische Moment hinweisen, ohne welches das Verstehen in letzter Konsequenz unmöglich wäre. Ohne dem Aberglauben der echten Bedeutung oder dem "Aberglauben" der idealen Begriffe als absoluten Garantien der Bedeutung zu unterliegen, die an den Beispielen von Husserl und Ingarden betrachtet wurden, muß man sich andererseits doch fragen, ob derselbe Gebrauch (in demselben Kontext) nur eine Empirie der diskursiven Praxis ist, die sich immer ändern kann, oder ob deren Änderungen etwas im Wege steht oder zumindest ihre Grenzen bestimmt.[163] Die Unterscheidung zwischen der semiologischen und der semantischen Ebene, die Benveniste trifft und die Ricoeur insofern übernimmt, als er meint, die neue Bedeutung aus einem Gebrauch "erobere" sich einen Platz nicht nur in der Empirie des Sprechens oder Schreibens, sondern auch im System der Differenzen, das die Sprache darstellt, ermöglicht einen Blick in beide Richtungen: sowohl auf die immer gefährdete Stabilität, als auch auf die immer faßbare Veränderlichkeit; das Apriorische (gebunden an die Erkennbarkeit) und das Empirische (gebunden an den Kontext) durchdringen einander.

Wenn dem Artikulationswillen am Verstandenwerden gelegen ist, dann muß er dem ihm zur Verfügung stehenden Code Rechnung tragen, der sich ihm bietet und sogar aufdrängt, der ihn jedoch nicht völlig beherrschen kann. Der Redner oder Schriftsteller kann in seiner Rede oder seinem Text immer etwas formulieren, das von den Regeln des Codes oder – aus einer anderen Perspektive betrachtet – von dem schon früher Gesprochenen oder Geschriebenen abweicht. Der Code bestimmt die vorgefundenen Umstände, unter denen im jeweiligen Augenblick der Artikulationswüle erscheinen, sich formieren und auf diese oder jene Weise wirken kann, aber er bestimmt nicht auch diesen Willen selbst, der immer der Wille eines konkreten Subjekts ist. Wo ein solcher Wille existiert, muß auch ein dem Sprachsystem konfrontiertes Subjekt existieren. Der Artikulationswille des Subjekts bedient sich des Codes so, wie er es kann und weiß, verwandelt sich aber manchmal auch in Artikulationswillkür, wobei er den Code verletzt und Mißverständnisse oder völliges Nichtverständnis hervorruft. Eine Willkür solcher Art muß nicht immer und notwendig schöpferischen Charakter haben.

Zum Mißverständnis oder Nichtverständnis kann es auch dann kommen, wenn der Artikulationswille sich dem Code fügt, wenn der Redner bzw. Schriftsteller die vorgefundene Normativität des Systems beachten will. Dies hängt nämlich auch davon ab, wie das Subjekt in das System eingeschaltet ist, und wie es seine Zuhörer oder Leser sind, besonders jene in den späteren Zeiten. Man könnte sagen, daß eine "falsche" Einschaltung in das System keineswegs auf den Code als solchen einwirkt; seine Unabhängigkeit von den empirischen Subjekten und seine Apriorität und Normativität in bezug auf sie ist gerade dasjenige, was ihn zu einem Code macht, zu etwas objektiv Gültigem. Dies muß man anerkennen; es bleibt jedoch die Frage, welche Instanz es ist, die in die Sprache als System derart eingeschaltet ist, die sie derart assimiliert hat, daß sie unwiderruflich entscheiden kann, daß eine andere Einschaltung in dieses System falsch ist bzw. eine Quelle von Mißverständnissen und Nichtverständnis beim Kommunizieren darstellt. Wenn es sich um verschiedene Zeiten handelt, wird dieses Problem auf die hermeneutische Ebene übertragen.

Der Artikulationswille äußert sich im Satz, Diskurs oder Text als deren Intentionalität. Der Sinn ist der Inhalt, gedacht durch die Bewußtseinsakte, welche die Bedeutung "tragen" und sie der Sprache verleihen, die ihrerseits eine systemhafte Regulation der Bedeutung ist. Aber dank gerade jenem, was in dieser Regulation objektiv und normativ ist, nebst jenem, was, da es sich unter der Herrschaft des Artikulationswillens befindet, veränderlich, im Gebrauch anpassungsfähig ist, ist das Verstehen des Diskurses unabhängig davon möglich, ob die Intentionalität dieses Diskurses ein getreuer Ausdruck des Artikulationswillen ist oder ihn preisgibt. Dies gilt zumal für den geschriebenen Text. Der Artikulationswille wird durch die Kontexte (Situationen), in denen er wirkt, geleitet und paßt sich ihnen an, wie auch das Verstehen des Diskurses, in dem er realisiert wird. Zwar gelangt der Verstehende zu dem durch die Intention getragenen Sinn, doch darüber, ob er auch zu den primären Inhalten des Artikulationswillen gelangt, kann er sich erst im unmittelbaren Dialog mit dessen Träger informieren (davon wird noch die Rede sein), oder er kann glauben, ohne letzte Evidenz, daß ihm dies gelungen sei, wenn ein solcher Mitredner abwesend, häufig auch tot ist. Vor den hier lauernden Versuchungen des Psychologismus muß man sich jedenfalls hüten. Daraus folgt also, daß auf der semantischen Ebene unter bestimmten Voraussetzungen eine dem Verstehen Richtung gebende Regulation des Sinnes des Diskurses (Textes) möglich ist: sie ermöglicht zu begreifen, was der Diskurs bzw. Text sagen "will". Die Intention des Diskurses oder geschriebenen Textes bestimmt dem Verstehen die Trasse.

Sollte sich der Artikulationswille wirklich mit der im Text realisierten Intention decken, stellt die Trasse die Richtung der Bewegung dieses Willens durch den Text und deren Realisation in ihm und durch ihn dar, die Ausrichtung, welche die Organisierungsart des verwendeten Sprachmaterials bestimmt. Sollte sich aber der Artikulationswille des wirklichen Redners oder Schriftstellers aus irgendwelchem Grunde nicht mit der im Text realisierten Intention decken, was nur vom Standpunkt des Verstehenden festgestellt werden kann (mag es auch der Redner bzw. Schriftsteller selbst sein, wenn er nachträglich die entsprechende Beziehung zur Realisation seiner Mitteilungsabsicht herstellt), stellt die Trasse eine Ausrichtung des Artikulations"willens" dar, welcher aus diesem und auf diese Weise verwendeten Sprachmaterial hervorgeht, also des "Willens", der im Hinblick auf die de facto gegenwärtige und verständliche Intention des Textes, als hinter dem Text stehender Wille, vorausgesetzt werden muß.

Die Trasse kann also auch als eine Richtung bestimmt werden, in der sich das Verstehen oder richtiger: der Strom des verstehenden Bewußtseins zu bewegen hat, dem Sinn des Textes (Diskurses) und eventuell (aber keineswegs auch notwendig, wie häufig naiv angenommen wird) dem wirklichen Inhalt des Artikulationswillens entgegen, der sich durch jenen realisieren will. Streng genommen, ist es nicht unumgänglich – aus der semantischen Sicht – , daß der Verstehende dasjenige, was der Verfasser (Redner) wirklich hat sagen wollen, versteht; es genügt, daß er das wirklich Gesagte versteht, also das, was das Gesagte (Geschriebene) selbst sagen "will". Wesentlich ist die authentische Begegnung des verstehenden Subjekts mit dem Textsinn, während über der Authentizität der Begegnung des Subjekts des Artikulationswillens und des Subjekts des Verstehens durch die Vermittlung des Textes immer der Schatten der Ungewißheit schwebt. Freilich ist, wenn es sich um eine lebendige Sprachkommunikation handelt, bei der die Subjekte tête-à-tête sind, das erwähnte Unterscheiden schwieriger durchzuführen, jedoch ist es aus prinzipiellen und methodologischen Gründen auch möglich und nötig. Wenn es zwischen dem Artikulationswillen und seiner Realisation im Text keine Nichtübereinstimmung gibt, dann wird die erwähnte Authentizität durch das Bewegen des verstehenden Bewußtseins auf der durch die Intention bestimmten Trasse gesichert. Dabei sei gleich betont, daß sich die Regulation auf dem Niveau der Trasse nur auf den wortwörtlichen Sinn des Textes (Diskurses) bezieht. Mit anderen Worten, die Regulation des Sinnes des Textes (Diskurses) auf dem Niveau der Trasse besteht unter der Voraussetzung, daß sich das Verstehen in einem Kommunikationsäther entwickelt, in dem auf das Verstehen nichts außer dem auf bestimmte Weise intentional engagierten und organisierten Sprachmaterial einwirken kann. Ein solcher "Kommunikationsäther" ist eine analytische Abstraktion: das verstehende Subjekt befindet sich immer in einer Situation und weiß mehr, als was ihm der Text, um dessen Sinn es sich handelt und an den es sich unmittelbar wendet, mitteilt. Der Raum, in dem sich das Verstehen einzig wirklich entwickeln kann, unterscheidet sich vom Kommunikationsäther dadurch, daß gerade in diesem Raum das Einwirken anderer Bedeutungsfaktoren auf das Verstehen eines bestimmten Textes möglich ist, Faktoren, die sich auf verschiedene Weisen mit diesem Text verbinden und sich in das Verstehen seiner einmischen; ob auf gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Weise, ist abhängig von dem Standpunkt, von dem aus geurteilt wird.

Zwei Fälle sind zu unterscheiden: jener, bei dem die wirkliche Bahn, auf der sich das Verstehen entwickelt, von der Trasse des Textes infolge dieser Verbindung und Einmischung abweicht, und jener, bei dem sich diese Bahn und die Trasse decken, trotz der nur möglichen oder auch realisierten Wirkungen der kontextuell gegenwärtigen und aktiven Bedeutungsintentionen. Im ersten Fall erzeugen der Druck und die Wirkung des Kontextes neben der wortwörtlichen auch eine andere, nichtwortwörtliche Bedeutung, einen nichtwortwörtlichen Sinn; im anderen Fall kommt es hierzu nicht, das Verstehen funktioniert ohne Komplikationen: obwohl im realen Kommunikationsraum, entwickelt es sich, als fände es im Kommunikationsäther statt. Die Unterscheidung der Sinnregulation des Textes auf der Ebene der Trasse und auf der Ebene der Bahn meint also nicht notwendig den Unterschied zwischen dem Sinn, der wirklich begriffen wird, wenn das rezeptive Bewußtsein dem Textsinn entgegenkommt und sich diesen Sinn, indem es sich durch den Text bewegt, in konkreten Umständen zu eigen macht, bzw. wenn er sich in diesem Bewußtsein konstituiert – und jenem Sinn desselben Textes, der sozusagen außerhalb dieser oder jener Umstände des Verstehens besteht. Aber die Unterscheidung dieser beiden Ebenen der Regulation ermöglicht die Wahrnehmung und Analyse der Sinnverschiedenheiten, wenn sie durch das Verstehen unter verschiedenen Umständen als Folge der Verbindung der Intention des rezipierten Textes mit der Intention des entsprechenden dem Kontext angehörenden semantischen Materials wirklich auftreten, und ihrer gemeinsamen Wirkung im Prozeß der Rezeption.

 

7. Wann erscheint Ironie?

Die Ironie ist einer der Fälle der Nichtübereinstimmung der Trasse und der Bahn des Text-(Diskurs-)Sinnes. Die Ironie semantisch untersuchen heißt die Gründe dieser Nichtübereinstimmung prüfen, sowie die Umstände, unter welchen sie erscheint, und deren Einfluß auf die Arten und die Natur der Abweichungen, zu denen es dabei kommt, wie auch auf die möglichen weiteren, etwa ästhetischen, Effekte dieser Abweichungen.

Damit ein Text (Diskurs) ironisch aufgefaßt wird, müssen sich also in sein Verständnis noch einige Bedeutungsintentionen außer derjenigen, die die Trasse seines Sinnes bestimmt, mischen, und zwar auf eine spezifische, der Ironie eigentümliche Weise. Man kann auch sagen, es ist unumgänglich, daß auf den Sinn des Textes ein spezifischer kontextueller Druck ausgeübt wird. Kein Text (Diskurs) ist an und für sich ironisch; er ist es immer in Hinblick auf einen Kontext, der dem Verstehenden für die Bedeutung relevante Elemente gibt oder aufzwingt, die dann am Verstehen teilnehmen und auf charakteristische Weise den sich darin konstituierenden Sinn verändern. Möglich ist auch der Fall, daß dieser Kontext objektiv nicht besteht, so daß er intentional "Neues" weder bieten noch aufzwingen kann, vielmehr der Verstehende selbst ihn konstituiert, ersinnt, und derart dem Text, indem er ihn versteht, den Stempel der Ironie aufprägt. Aber auch in diesem Fall ist es unumgänglich, daß am Verstehen seiner Trasse Elemente teilnehmen, die den Unterschied zwischen dieser Trasse und der wirklichen Bahn des Verstehens herstellen.

Es ist eine alte Frage, ob nicht schon in der Intention selbst des ironischen Textes enthalten ist, daß sie unter dem Aspekt der Buchstäblichkeit verraten werden soll und sie sich gerade in diesem Verratenwerden in ihrer Spezifizität verwirklicht und der Text als ironisch erkannt wird; um diese Frage haben sich zahlreiche Rhetoriker und Literaturtheoretiker bis zum heutigen Tage bemüht. Eine genauere Betrachtung zeigt, daß sie eigentlich gegenstandslos ist. Die Intention, welche die Trasse bestimmt, bezieht sich immer auf die Buchstäblichkeit, und für das Verstehen auf der Bahn, auf der der ironische Sinn erscheint bzw. sich konstituiert, ist der Druck des Kontextes unumgänglich. Ob der Druck des Kontextes Destruktion der Textintention oder die Textintention autodestruktiv genannt wird – was sie wiederum nur dann sein kann, wenn sie sozusagen einen entsprechenden, für die Destruktion (oder richtiger: Modifikation) des Sinnes geeigneten Kontext herbeiruft –, spielt keine große Rolle, solange man die Möglichkeit vor Augen hat, daß zwischen dem Artikulationswillen und seiner objektiven Verwirklichung im Text (Diskurs) eine Unstimmigkeit vorkommen kann, daß sogar nicht nur die Abweichung von diesem Willen im Text möglich ist, sondern daß er vielmehr, wenn es sich um geschriebene Texte handelt, mit der Zeit nicht mehr feststellbar und nachprüfbar wird. Daher erscheint gerade der Standpunkt als fruchtbarer und theoretisch wirklich legitimer, der das Verständnis berücksichtigt, durch das eine authentische Begegnung des Lesers mit dem Textsinn und nicht mit der Absicht des Verfassers verwirklicht wird.

Es sind also nähere und eingehendere Prüfungen nötig, um auf der in den bisherigen Erörterungen gewonnenen Grundlage die Eigenschaften des ironischen Sinnes zu klären. Vorher müssen wir uns aber noch mit einigen Vorfragen und vorbereitenden Analysen befassen.

8. Die Wirksamkeit des Geschriebenen

Worauf gründet eigentlich Platon im Phaidros seine Kritik der Schrift, wenn doch der schriftliche Text viele Vorzüge besitzt, wie z.B. die prinzipielle Zugänglichkeit für jeden der Schrift Kundigen, die Möglichkeit der Vervielfältigung, welche die Grenzen der Situation durchbricht, an die das Sprachereignis gebunden ist, oder die Dauerhaftigkeit, welche die Grenzen der Zeiten durchbricht, und die damit verbundene Unersetzlichkeit der Arbeit des Historikers...? – Platon kümmerte sich nicht um die Begründung des historischen Bewußtseins im modernen Sinne des Wortes, jedoch auch unabhängig von dem gedanklichen Horizont, in dem die Frage nach der Geschichte erscheint, ist die Sokratische Billigung des Thamus, wie auch seine Erweiterung und Entfaltung der Bemerkungen zu Lasten der Schrift, die er, über die Erzählung hinausgehend, selbst vornimmt, in seinen Folgen ein zu weittragender Schritt, um ohne starke Gründe getan werden zu können. Vielleicht sind die zeitgenössische Überprüfung des "Logozentrismus" und die Versuche zur Überwindung der Grenzen, innerhalb derer er sich als nötig erweist, zunächst vor allem deshalb verdienstvoll, weil sie die Aufmerksamkeit auf diese Fragen aus einem neuen und zugespitzten Blickwinkel lenken, und weniger wegen der einzelnen, oft radikalen Schlüsse, die aus dieser Überprüfung und diesen Versuchen hervorgegangen sind.

Platons Worten zufolge, die er Sokrates in den Mund legt, erscheint dasjenige, was wie der Vorzug des schriftlichen Textes aussehen kann, als sein Mangel; und dasjenige, was ein Mangel des gesprochenen Wortes zu sein scheint, erweist sich als Vorzug. Wieso? Wohin führt das Durchdenken der Gründe Platons?

Das Problem hegt nicht nur darin, daß die Schrift eigentlich kein "Elixier" für das Gedächtnis ist, sondern nur für das Erinnern der, wie es im Phaidros heißt, "schon Unterrichteten"[164] darüber, was durch sie geschrieben, "festgehalten" ist. Das eigentliche Problem besteht Platons Meinung nach darin, daß das geschriebene Wort wie eine Waise ohne Schutz auf Gedeih und Verderb einzelnen Verständnissen preisgegeben ist. Wenn es vorkommt, daß es in einem von ihnen "beleidigt oder unverdienterweise beschimpft" wird, ist immer die Hilfe seines Vaters nötig, denn es ist allein nicht imstande, sich zu wehren oder sich selbst zu helfen.[165] Hierin liegt die Pointe der Platonischen Kritik. Denn der geschriebene Text zeichnet sich gerade durch seine Trennung vom "Vater", von dem Gedanken, der ihn formuliert hat, von der Quelle seiner Intentionalität aus. Der Text verselbständigt sich derart, daß er von dieser Quelle abgeschnitten wird. Was bedeutet dies?

Den Sinn des geschriebenen Textes vertritt nicht mehr der Redner selbst, sein durch den Text ausgedrückter Artikulationswille. Zwischen diesem Willen und der Intention, die im Text erkenntlich ("lesbar") ist, zeigt sich eine Spanne, ein leerer Raum, wo die Schrift schweigt, der Raum jener Schweigsamkeit, die den Grund, aber auch den Preis der Verselbständigung des Textes und seines freien sich "in die Welt" Begebens ausmacht. Das Denken als lebendige Quelle der Intentionalität ist im Text nicht auf jene Weise anwesend ("ausgedrückt", "enthalten"), auf die es in der mündlichen Darlegung anwesend ist; es ist durch die Schrift zusätzlich vermittelt. Während im Dialog sein "Vater" das gesprochene Wort vor Mißverständnissen schützen kann, wiederholt das geschriebene Wort, sagt Platon, immer dasselbe, wenn sich der Mensch an es wendet mit dem Wunsch zu erfahren, was es aussagt.[166] Das bedeutet: wenn es nötig wird, hat die im gesprochenen Wort anwesende Intention Gelegenheit, sich auch mit Hilfe neuer, den Reaktionen des Anderen angepaßter Inhalte und Erklärungen dem Verständnis dieses Anderen aufzudrängen. Das geschriebene Wort ist im Gegensatz dazu nicht zu einem Dialog fähig, da es immer dasselbe wiederholt, und kann sich demnach nicht verteidigen. Der einzige, der ihm zur Hilfe kommen kann, ist derjenige, der es versteht, und zwar durch eigene Deutungen seines Sinnes. Aber gerade darin liegt zugleich auch die Gefahr, mag man auch noch so viel Kunstfertigkeit und guten Willen in die Deutung hineintragen. Allein dadurch, daß das geschriebene Wort dem guten Willen ausgesetzt ist, daß es statt zu einer unmittelbaren Antwort wie im gesprochenen Dialog zu einem "Dialog" des Interpreten mit dem Text kommt, verliert das geschriebene Wort in der Deutung jene Möglichkeit der Selbstbewährung, die im lebendigen Dialog wenigstens im Prinzip immer besteht. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Interpret den Sinn des geschriebenen Wortes beliebig deuten kann. Aber es handelt sich hier nicht nur darum, daß die Möglichkeit der Erkenntnis des Sinnes des geschriebenen Textes geringer ist als im Falle des mündlichen; sie ist, was wichtiger ist, von anderer Art. Im Dialog wird sie durch die Konfrontation zweier Artikulationswillen erreicht, deren Träger sich auf einen bestimmten Gegenstand konzentrieren. Was immer sonst ihr Ziel ist, sie können sich über den Sinn des Gesagten solange unterhalten, bis sie sich verständigt haben und darin übereinstimmen, daß dies erreicht ist. Das Lesen aber bedeutet eine "Konfrontation" der Textintention mit dem verstehenden bzw. deutenden Leser; wann der Textsinn festgestellt ist und was darunter verstanden wird, beschließt der Leser selbst. Man kann natürlich die Richtigkeit seines Schlusses bestreiten, aber in bezug auf den Text befindet sich ein solcher Kritiker in der prinzipiell gleichen Lage wie der Leser, den er kritisiert, so daß der Textsinn entweder ein Gegenstand des Dialogs zwischen ihnen oder ein Thema von neuen Texten werden kann. Dadurch hat sich indes im ursprünglichen Verhältnis: Textintention – Verstehen und Deuten des Lesers nichts geändert. Strenggenommen kann sogar der Verfasser eines beendeten Textes nicht unbedingt als die Instanz, die meritorisch entscheidet, worin sein Sinn besteht, aufgefaßt werden; indem er die Deutung seiner Absichten mit einem bestimmten Text gibt, reproduziert er nicht notwendig die Intention, die aus diesem Text selbst hervorgeht. Er entfernt sich sogar manchmal mehr von seinem Sinn als ein anderer Deuter, der sich vor allem an dasjenige hält, was der Text selbst "spricht". Das Problem der endgültigen Bewährung des Sinnes eines geschriebenen Textes bleibt also auf dieselbe Weise und in demselben Maße offen, in dem er immer neuen Deutungen unterliegt. Da im Sprechen eine solche Bewährung im Prinzip möglich ist, kann dies auch als Vorzug des Redens vor dem Schreiben aufgefaßt werden. Daß es eine endgültige Gewißheit darüber, worin der Sinn des in der Zeit dauernden Textes liegt, nicht gibt, daß er ein Sinnbrunnen ohne Boden ist, kann wiederum auch als Vorzug gesehen werden. Insofern muß in der Interpretation immer auch etwas Kreatives sein.

In dieser Angelegenheit hat sich Platon klar entschieden, und an mehreren Stellen im Phaidros betont er den Vorzug des Redens und die Ohnmacht des geschriebenen Wortes, sich selbst zu helfen und wirksam zu sein.[167] Ihm ist selbstverständlich vor allem an der Wirksamkeit des Redners beim Lehren der Wahrheit gelegen, wenn er in junge und empfängliche Seelen, die einer Führung bedürfen, den Gedanken der Schönheit, des Guten und der Gerechtigkeit einpflanzt.[168] Wenn es sich um eine solche Aufgabe handelt, vertraut Platon als "besser und kräftiger" nur auf das inspirierte mündliche Sprechen derer, die wahrhaftig wissen, worüber sie reden, und die dies zu verteidigen wissen, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt. Das geschriebene Wort erscheint ihm wie ein Schatten eines derartigen Redens.[169] Hierüber stimmen Sokrates und Phaidros, einander ergänzend, völlig überein. Über diese höchsten Werte sprechen, bedeutet den Samen in würdige Seelen säen, und wenn dies in ihnen Früchte trägt, so macht ein solcher Erfolg den Menschen selig, so viel er es sein kann. Eine solche Aufgabe Worten anvertrauen, die sich nicht selbst durch eine lebendige Rede helfen können, also dem geschriebenen Text, bedeutet dasselbe wie sein Wissen ins Wasser schreiben, es "mit Tinte [...] durch das Rohr aussäend", und sich auf Worte verlassen, die nicht vermögen, "die Wahrheit hinreichend zu lehren".[170] Der metaphysische Charakter dieser Betrachtungen steht offensichtlich außer Zweifel.

Eine solche Sicht ist bis in unsere Tage tief verwurzelt geblieben. Auch heute geht man beispielsweise noch immer davon aus, daß verschiedene Arten schriftlicher Dissertationen, deren Aufgabe darin besteht, die wissenschaftlich festgestellten Wahrheiten darzulegen, auch noch mündlich zu "vertreten" sind. Erst das Gespräch der, wie Platon sagt, "wahrhaft Wissenden" ist die wirkliche Überprüfung des Wahrheitsgehalts eines Textes. Kann die Methodologie, sei es auch die strengste, in der Beweisführung auf die Topik gänzlich verzichten und ihre Regeln vergessen?

9. Der tote Buchstabe

Die Sorge um die höchsten Werte, wie jene des Sokrates im Phaidros, führt zu der Frage nach der eigentlichen Natur der Befürchtung, daß das Geschriebene ein "toter Buchstabe" bleibt; beruht denn nicht der sogenannte Logozentrismus, der nur dem Reden traut, gerade auf einer solchen Sorge und einer solchen Befürchtung? Platons dichterische, (im zeitgenössischen Sinne) "nichttheoretische" Ausdrucksweise sollte nicht vom Nachdenken über diese Frage ablenken.

Im ersten Augenblick könnte es scheinen, als ob der "tote Buchstabe" nur bedeutet, daß der Text eine Reihe bloßer Wörter bleibt, die keine Folge nach sich ziehen, obwohl nach dem Sinn, in dem die konkreten Worte gebraucht wurden, eigentlich etwas folgen sollte; daß es sich also um leere Worte handelt, hinter denen nichts Reales oder Wirksames steht. Sobald der Text sich auf etwas bezieht, was im gegebenen Augenblick als wertvoll angesehen wird, zumal wenn es sich um solche Werte handelt wie Schönheit, Gutes oder Gerechtigkeit in der metaphysischen Welt, bekommt der Ausdruck einen betont negativen Beiklang. Oft wird er für Gesetze gebraucht, die nicht angewendet, oder für politische Proklamationen, die nicht realisiert werden. Im kolloquialen Gebrauch bleibt man mehr oder weniger bei einem solchen Verständnis dieses Ausdrucks, fast immer ohne klares Bewußtsein über das Verhältnis der axiologischen und ontologischen Dimension des Problems. Wenn man aber die intentionale Natur eines jeden – mündlichen oder schriftlichen – Textes vor Augen hat, dann regt der Ausdruck "toter Buchstabe" an, in theoretischer Perspektive weiter zu fragen. – An dieser Stelle scheinen sich alle Verdächtigungen gegen die Schrift und alle ihre Verurteilungen, vom Phaidros bis zu Lévi-Strauss, zu sammeln. Sogar die Fähigkeit der Schrift, das "Archiv" zu sichern, das dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis zur Verfügung steht, und die schon dadurch große Rolle der Schrift in der Entstehung des historischen Bewußtseins schließt die Frage nicht aus, ob jene Inhalte und Werte, die in einem bestimmten Augenblick besonders hochgeschätzt sind, in der Geschichte bzw. in dem historischen Bewußtsein wirksam anwesend sind. Das, was als Geschichte vorgestellt ist, kann nicht demjenigen, was, sagen wir es so, vor Augen ist, gleichgesetzt werden. Hier ist es gestattet, noch einmal an die von Lévi-Strauss angesprochene Authentizität der Tradition zu denken, die auf mündliche, also unmittelbare Weise entsteht.

Die unmittelbare lebendige Wirkung des Gesagten im Bewußtsein des Verstehenden, die "Arbeit" des Gesagten in ihm, besteht in der Provokation, seinen Sinn aktiv und sofort zu denken und dialogisch auf ihn zu reagieren. Die "Archivierung" durch die Schrift, die zwar eine Dauer sichert, bedeutet zugleich die potentielle Aufschiebung des unmittelbaren Denkens dieses Sinnes, seine "Bewahrung" für einen anderen, d.h. im Prinzip immer späteren Augenblick, in dem es zur lebendigen Konfrontation mit ihm kommt, also für eine andere, bestimmte oder unbestimmte Gelegenheit. Es kommt aber gerade darauf an, daß der betreffende Sinninhalt ein Ziel ist, auf das sich der Verstehende sofort ausrichtet, spontan und in dieser Spontaneität existentiell, d.h. mit einer spontanen und unmittelbaren Teilnahme seines ganzen Wesens. Die "Archivierung" durch die Schrift droht ohne lebendige dialogische Reaktion zu bleiben, ohne unmittelbaren Widerhall gleich welcher Art, und sich in eine passive Aufnahme ohne Aneignung zu verwandeln, in ein Lesen, das entweder des Elements der Unmittelbarkeit und Spontaneität, das die wirkliche Anwesenheit des intendierten Sinnes im Bewußtsein des Lesers sichert, oder der "Antwort" durch die Existenz auf den Text entbehrt.[171] Diese Gefahr besteht, obwohl das Verstehen immer eine "einigende" Aktivität und der aufgefaßte Sinn das Einigende und Gemeinsame ist: das, was von einem anderen herrührt, verstehe ich, wenn es mich erreicht und so auch das meinige wird, gleichviel ob mit Billigung oder Verwerfung. Während es im mündlichen Verkehr wenigstens zwei lebendige, intentioneil aktive Seiten gibt, ist beim Lesen selbstverständlich nur eine solche Seite da – der Leser. Die Intention des Textes eines immer abwesenden Autors ist nicht "lebendig", wie es der Gedanke in der Aktion eines Redners ist, und sie wird im wahren Sinne Intention erst dann, wenn sie beim Lesen aktiviert wird, also seitens des Lesers. Daher unterliegt der Sinn, als gemeinsamer und einigender "Boden", im Dialog dem Explizieren und einer weiteren Erklärung, er ist offen für ständiges Weiterbauen, Erweiterung, solange die Möglichkeit eines Gesprächs besteht. Beim Lesen gibt es kein Gespräch, da der Text immer dasselbe spricht. Durch den Text angeregt, kann der Leser nur mit sich selbst ein Gespräch führen, oder, mit anderen Worten, er kann in dieser Angeregtheit und dank ihr den Text interpretieren.

Auch im Lesen ist ein aktives und unmittelbares Verstehen und Erleben desjenigen, was der aktualisierte Sinninhalt geben kann, möglich. Möglich ist auch ein existentielles Investieren seiner selbst des Verstehenden in die Reaktion auf den Text. Der Text kann sogar auf besonders anregende Weise auf die Phantasie des Verstehenden wirken, vor allem wegen des Umstandes, daß er immer nur eine endliche Zahl von Bestimmungen seines "Themas" enthält, die schematisch gegeben sind und den Leser zur Ergänzung und Sinnvervollständigung beim Imaginieren des Gelesenen verleiten. Dieses Imaginieren ist selbstverständlich vor allem der Logik angepaßt, der gemäß die erwähnte Schematisierung im Text durchgeführt ist. Aber um all dies zu erreichen, muß der Leser – da er nicht durch zusätzliche, möglicherweise ganz unerwartete und unvorhersehbare Gründe und Beweise des lebendigen Gesprächspartners gemahnt und angeregt, sondern nur durch den ständig gleichen Text gefuhrt wird – sich adäquat in der Aktualisierung der Bedeutungseinheiten engagieren, und das heißt, er muß sich bemühen, nicht nur die Buchstaben zu überfliegen, sondern den angebotenen Sinninhalt gleich lebendig zu denken und ihn mit dem Textganzen zu verbinden. Unter einem solchen "Einleben" in den Text wird dann auch die Erkenntnis und das umfassende Begreifen dessen verstanden, was durch das lebendige Denken der Bedeutungseinheiten, mit ihrer konkreten Anordnung übereinstimmend, imaginativ konstituiert ist. Dieses Erkennen ist mittels einer besonderen, obzwar mit dem Verstehen simultanen Aktivität des Bewußtseins des Lesers durchführbar. Es handelt sich nämlich darum, daß der Text – dies haben phänomenologische Analysen des Problems gezeigt[172] – entweder auf das Bestehen-Gegenwärtigsein der jenseits des Textes sich befindenden Welt hinweist, oder aber selbst durch seinen Sinn, teilweise auch durch seinen Laut, etwas stiftet, das, insofern es nur im Text gründet, einen besonderen ontischen Status hat: die fiktive "Welt" des literarischen Werkes zum Beispiel, oder eine Vorstellung, die durch das Gespräch konstituiert und, in ähnlicher Weise wie auch diese "Welt", der inneren Wahrnehmung zugänglich ist. Wie dasjenige, was sich durch das lebendige Denken der Bedeutungseinheiten imaginativ konstituiert, überschreitet diese "Welt" oder eine solche Vorstellung den Text als bloße graphische Spur oder "Träger" des Sinnes, so wie ihn im ersteren Fall die von ihm unabhängige, ontologisch selbständige referentielle Sphäre überschreitet. Die intentionale Natur des Textes verweist also darauf, daß er immer entweder auf eine ("referentielle") Wirklichkeit hinweist oder eine besondere, eigene, ontisch von den Bedeutungseinheiten abhängige "Wirklichkeit" stiftet, die beim Lesen zusätzlich imaginativ zu konstituieren ist, und die auch als fiktionaler Referent aufgefaßt werden kann.

Erst ein Verstehen, das den genannten Bedingungen genügt, schafft die Voraussetzungen für eine Deutung des geschriebenen Textes, welche das dialogische Reagieren im Gespräch ersetzt. Es ist nämlich unumgänglich, daß der Text, um nicht ein "toter Buchstabe" zu bleiben, in zwei Phasen in der Tat "belebt" wird. Nach der adäquaten Aktivität des Lesers im Verstehen (dessen Grundmerkmal, wiederholen wir es, ein aktives und ohne Aufschub realisiertes lebendiges Denken des Sinnes der Bedeutungseinheiten ist), ist ein entsprechendes Verfahren des Deutens nötig, besonders dann, wenn dieses ein vorheriges Überschauen und umfassendes Begreifen der in der Phantasie mittels der intentionalen Kraft der Bedeutungseinheiten anwesenden "Welt" voraussetzt. Wenn diese "Welt" besondere, etwa ästhetische oder symbolische Werte hat, dann ist die Bedeutung der interpretativen Phase umso größer. Erst eine erfolgreiche Aktivität des Lesers auf beiden Ebenen, der semantischen und der hermeneutischen, schafft aus dem "toten Buchstaben" ein wirksames und "lebendiges" Gebilde.

 

10. Wert und Text

Nun kann auch das Verhältnis des axiologischen zu dem ontologischen Aspekt des uns interessierenden Problems näher bestimmt werden. Der geschriebene Text besitzt, obwohl er der Hilfe seines "Vaters" entbehrt, doch die intentionale Fähigkeit, auf die entsprechende Wirklichkeit zu verweisen; oder er stiftet seine "Welt", die, wie gesagt, besondere Werte und besondere mittelbare Beziehungen zur Wirklichkeit haben kann. Dadurch, daß etwas gesagt oder geschrieben ist, besteht also auch immer etwas – getroffen durch die Intention des gesprochenen (geschriebenen) Textes oder durch diese Intention gestiftet und umrissen. Wenn es sich aber um sprachlich vermittelte Werte handelt, dann genügt es nicht, daß sie nur gesagte Werte sind; sie müssen vielmehr gerade als Werte wirksam sein. Ein Leben mit Werten, in Werten, ist das Antworten mit der eigenen Existenz auf den "Text" über die Werte, die lebendige Anwesenheit des gesagten Wertes als begriffener Sinn im Denken und als angeeigneter Sinn in der Existenz, – wobei es zum dialogischen, vor allem bejahenden Reagieren auf seine Anwesenheit im Verstehen kommt. Eine solche Anwesenheit ist dann auch wirksam; der begriffene Wert ist ein sinnhafter Wegweiser zu einer Tätigkeit, die ihm angemessen ist. Erst wenn aufgrund eines solchen Verstehens und Deutens die Worte über Schönheit, Gutes, Gerechtigkeit oder irgendeinen anderen Wert dazu führen, daß der Verstehende ihren Sinn sich aneignet, und auf diese Weise also auch die Werte selbst in ihm anwesend werden, kann man – die Konsequenzen dieser Anwesenheit voraussetzend – sagen, daß die Werte bestehen. Entsprechend sind Werte, wenn sie bloß ausgesagt oder aufgezeichnet sind, aber ohne solche Aktualisierung, solches aktive, tätige Hineinleben bleiben, nur latent bestehende, d.h. streng genommen nichtbestehende Werte, ähnlich den Gesetzen, die "beschlossen" sind, aber nicht befolgt werden.

Werte in einer Gesellschaft oder in einem Zeitalter sind nicht aus der Perspektive dessen, was als "toter Buchstabe" proklamiert, aufgezeichnet oder versprochen ist, zu beurteilen, sondern nur aus der Perspektive der Praxis, die in jedem konkreten Fall durch das Verstehen dieses "Buchstaben" inspiriert und geleitet ist, und der geschichtlich durch eine ständige dialogische, kritische und affirmative Konfrontation mit ihm ein Sinn gegeben wird. Durch diese Konfrontation wird sowohl die sinnvolle Bewahrung der Werte als auch ihre geschichtlich notwendige Veränderung möglich. Die Unmöglichkeit einer aktiven und freien dialogischen Konfrontation mit den Werten oder richtiger: mit dem Sinn des "Buchstaben" über sie hat vom Standpunkt eines wertvollen Lebens, eines Lebens, das wirklich von einem solchen Sinn durchdrungen ist, verhängnisvolle Folgen für die Gemeinschaften, die gerade wegen des Fehlens eines solchen Dialoges notwendig zu Beschränktheit verurteilt sind. Diese Unmöglichkeit ist eigentlich der wahre aber verborgene Name der Beschränktheit, sowohl auf der allgemeinen, als auch auf der individuellen Ebene. Ohne Rücksicht darauf, um welche Werte es sich handelt, wird die Inferiorität einzelner Gemeinschaften mit dem Maßstab dieser Beschränktheit gemessen, so wie ihre Authentizität danach beurteilt wird, ob und in welchem Maße geschichtlich und in den Existenzen ihrer Mitglieder bestimmte Werte verwirklicht werden. Das Bestehen der Werte in der Welt, in ihren veränderlichen historischen Gestalten, stützt sich auf das Wort über sie; real werden sie jedoch erst mit der Wirkung dieses Wortes in der Existenz derjenigen, die es verstehen: die Werte sind, wenn sie in der Tätigkeit und durch die Tätigkeit verkörperter Sinn sind.

Auch hier gilt die Behauptung, daß im mündlichen Verkehr eine unmittelbare zusätzliche dialogische Reaktion prinzipiell immer denkbar ist, welche die Intention des Diskurses bekräftigt oder ihr eine andere Richtung gibt, sie überzeugend und durchdringend macht oder, umgekehrt, sie sinnhaft relativiert und "verwässert". Wenn es sich um Werte handelt, vergrößert die Anwesenheit des Gesprächspartners die Wahrscheinlichkeit, daß Mißverständnisse vermieden werden, aber auch daß dank der Tatsache, daß sie durch dieselbe Situation und denselben Augenblick umfaßt sind, wie auch dank der spezifischen Suggestionskraft des Gesagten, die daraus hervorgehen kann, die Werte eine Antwort durch das Leben des Verstehenden erhalten. Davon ist jedenfalls der Fall zu unterscheiden, daß jemandem für das ihm in diesem Moment Wertvollste schon die Anwesenheit eines anderen hinreichend "beredt" ist, unabhängig von jedem Gespräch. Braucht denn Romeo Worte? "She speaks, yet she says nothing".

Was den geschriebenen Text betrifft, so hängt seine Wirksamkeit in dieser Hinsicht von der Adäquatheit des Verstehens und Deutens, das den Dialog "ersetzt", ab. Eine gute Deutung der Gesetze ist beispielsweise ebenso wichtig wie die Qualität der Gesetze selbst. Es gibt auch solche Texte, bei denen die Mühe und Aufmerksamkeit im Verstehen, die von der Sorge um bestimmte Werte geleitet sind, zu einer Deutung-Kritik führen, zu einer Auslegung des Sinnes durch Polemik und Bestreitung, etwa dann, wenn der Text ideologische Werte vertritt, die der Leser nicht akzeptiert. Die Bereitschaft zur Kritik in der Deutung kann die bedeutendsten Folgen für die wirksame Anwesenheit der Werte haben.

 

11. Das Verstehen der Ironie

Jeder Text verweist auf das Bestehen oder die Anwesenheit von etwas ihm Jenseitigen, oder er stiftet etwas, das dank seiner intentionalen Kraft nur in ihm selbst gründet. Wie ist dies aufzufassen, wenn es sich um einen ironischen Text handelt?

Beim Verstehen eines ironischen Textes entsteht zuerst eine Leere, in der für das verstehende Bewußtsein der Sinn schwankt zwischen dem Bestehen und dem Nichtbestehen dessen, worauf verwiesen, oder dessen, was gestiftet wird, zwischen seiner Anwesenheit, die die von der Ironie geöffnete Leere erfüllte, obwohl meistens auf zweideutige Weise, und seiner Abwesenheit, die sie, wieder zweideutig, bestätigte. Diese Schwankung des ironischen Sinnes bedeutet also eine Unsicherheit darüber, ob der Verweis oder die Stiftung überhaupt vollzogen sind. Wenn man nur nach der Trasse urteilen würde, wäre die Antwort freilich bejahend, aber so, mit Rücksicht auf die tatsächliche Bahn des Verstehens, kann sie dies nicht mehr sein, bzw. sie steht unter der Herrschaft eines "vielleicht". Dem Einfluß des konkreten Kontextes ausgesetzt, scheint der Sinn sich zu geben und zu entziehen, der Verweis auf den Referenten oder seine Stiftung scheint in Frage gestellt zu sein, suspendiert obwohl nicht negiert, also weder bestritten noch unbestritten. Das Schwanken in diesem der Ironie eigentümlichen Raum des Bedenkens und der spezifischen intentionalen Brechung muß sich nicht auf die Existenz des Sinninhaltes als solche beziehen (also auf die Referentialität oder intentionale Stiftung); die Anwesenheit und Abwesenheit, das Bestehen oder Nichtbestehen können auch die Eigenschaften oder Werte dessen, worum es sich im ironischen Text handelt, betreffen. Vor allem vereitelt die Ironie die unzweideutige aktuelle Herstellung der Werte, wobei sich dies in jedem Fall auf das Moment der wirklichen Aufnahme des Sinnes des Gesagten durch den Verstehenden bezieht, während die Folgen dieser Aufnahme bzw. Nichtaufnahme für das eventuelle Handeln (und dies bedeutet: die Folgen der Aufnahme zusammen mit den Gründen für die Bestreitung oder für die Bestreitung zusammen mit den Gründen für die Aufnahme, also trotz ihnen und wegen ihnen in beiden Fällen) verschieden sein und nicht vorausgesehen werden können. Der Bedeutungseffekt des ironischen Textes bestimmt nicht selbst seine Funktion. Möglich ist etwa auch der Fall, daß wegen der eigenartigen Komik des Textes, dessen Sinn ironisch schwankend gemacht ist, die aktuelle Herstellung von besonderen Werten, um die es sich im Text handelt oder die er verkörpern soll, etwa wenn es um ein literarisches Kunstwerk geht, erleichtert, gefördert oder überhaupt erst ausführbar wird. Das ironische Schwankendmachen des Sinnes hat in diesem Fall nicht die Entwertung, sondern die Affirmation zur Folge. Die Ironie kann unter bestimmten Umständen durch ihre Bedeutungsmodifikation auch eine Sympathie dem gegenüber, auf das sie zielt, hervorrufen.

Das ironische Schwanken ist eine sinnhafte Unsicherheit für das verstehende Bewußtsein und entstammt den Beziehungen von Text und Kontext, Beziehungen, die dieses Bewußtsein als einen für den Sinn relevanten Faktor ebenso versteht, also aktualisiert, wie die Intention des gegebenen Textes an sich, und zwar gleichzeitig mit ihr. Hiervon ist das Schwanken des mit einem Text konfrontierten verstehenden Bewußtseins selbst zu unterscheiden, das durch seine besonderen Eigenschaften hervorgerufen werden kann, etwa durch eine Unklarheit, durch seine von der Ironie unabhängigen Beziehungen mit dem Kontext, in dem sich das Verstehen vollzieht, oder durch einen anderen Grund. Nicht selten bleibt gerade wegen des Schwankens des verstehenden Bewußtseins der Text ein "toter Buchstabe".

Aufgrund des jetzt Gesagten werden die präliminierten Behauptungen über die Ironie im Rede-Ereignis und im geschriebenen Text erst wirklich klar. Da sich die Intention im mündlichen Verkehr ändern und dem Verlauf des Gesprächs anpassen kann, ist für die Ironie in diesem Verkehr zwischen anwesenden Rednern charakteristisch, daß sich die ihr eigentümliche Unbeständigkeit des Sinnes ebenso ändern, gelenkt werden und anpassen kann. Die Ironie im Rede-Ereignis ist also nicht nur ein gelenktes Sinnschwanken, sondern auch ein umlenkbares Schwankendmachen des Sinnes, je nach der "Entwicklung der Situation" im Gespräch, richtiger: je nach den Änderungen der Verhältnisse, die zwischen den Rednern aufgrund dessen, was sie aussagen, hergestellt oder gelöst werden. Die Anpassung kann dahin gehen, die ursprüngliche ironische Zerstreuung des Sinnes zu vermindern, oder dahin, die Abweichung von der Trasse zu verstärken bzw. die Bahn des Verstehens auf eine neue, der ursprunglichen gegenüber andersartige Linie der Abweichung von der Trasse zu richten. So kann nun die Ironie ein Faktor der anpassenden Bewegung der Intention in einem unberechenbaren Gespräch sein, indem sie seine Unberechenbarkeit und seine wenigstens grundsätzliche Offenheit für immer neue Wendungen beeinflußt. Diese Offenheit besteht oft gerade wegen der Ironie, die das im Gespräch Ausgesprochene nur angedeutet und das Verstehen des Ausgesprochenen unvollendet läßt.

Wenn es sich um die Ironie im geschriebenen Text handelt, so verhält es sich anders, da im Verstehen des Textes die dialogische Entgegnung durch eine Interpretation ersetzt wird. Der Text ist immer schon vollendet; in der Zeit entfalten sich nur die Bedeutungsakkumulation (innerhalb einzelner Sätze, aber auch im Text als Ganzem) und die "Objektivierung". Die Akkumulation, von der Mukarovsky spricht, kann, solange sie nicht vollendet ist, manchmal auf ganz überraschende Weise den Sinn des Ganzen ändern.[173] Die Fähigkeit des Lesers, auf entsprechende Weise einzelne Ganzheiten innerhalb des Textes, eigentlich ihre intentionalen Korrelate, zu den sie vereinenden Gegenständlichkeiten der dargestellten "Welt" zu verbinden, spielt in der Objektivierung, von der Ingarden spricht, eine große Rolle. Also soll der Leser sozusagen "deuten", wie der Text bzw. die Trasse des Sinnes wirklich zu verstehen ist, und ebenso ob sich im gegebenen Kontext die wirkliche Bahn des Verstehens von der Trasse entfernt oder sich mit ihr deckt; an welche weitere Deutung des Textes die Bewegung auf der Bahn denken läßt; in welcher Beziehung das Verstehen und die Wertung des Textes zueinander stehen usw. Der ironische Text ist dann kein "toter Buchstabe", wenn sich die Deutung, die die dialogische Reaktion ersetzt, mit dem Verstehen und Deuten des sich mit dem Verstehen und Deuten des Textes verbindenden Kontextes derart identifiziert und verschmilzt, daß dies auf spezifische – gerade ironische Weise seinen Sinn schwankend macht. Offenheit wie im mündlichen Gespräch gibt es nicht; indem er immer ein und dasselbe spricht, stellt der Text, der, wie gesagt, immer schon vollendet ist, einen fixierten Rahmen der ironischen Unbeständigkeit des Sinnes dar. Der Text bleibt derselbe, indem er sozusagen die Grundlage für verschiedene Deutungen bildet, wohl auch für jene, aufgrund derer in seinem Verstehen die Leere, von der gesprochen wurde, entsteht: ein Raum der Sinnunsicherheit für das verstehende Bewußtsein, geöffnet durch die Ironie.

Im Text besteht die interpretative Umlenkbarkeit der ironischen Schwankendmachung des Sinnes, wenn er infolge des kontextuellen Drucks schon ironisch schwankend gemacht ist, also in dem Fall, daß die Bahn des Verstehens sich von der sinnhaften Trasse trennen müßte wegen des simultanen Verstehens des Textes auf der Trasse und der aus der Verbindung mit dem Kontext hervorgegangenen Deutung, der Text müsse eigentlich auf einer Bahn verstanden werden, die mit dieser Trasse nicht übereinstimmt. Mit der Änderung des Kontextes, in dem das Verstehen geschieht, oder infolge der Ungleichheit des kontextuellen Informationsgrades der einzelnen Leser ändert sich auch die Wirkung dessen, was sich in das Verstehen des Textes mischt, oder es hört jedes Einmischen auf – der Kommunikationsraum wird mit dem Kommunikationsäther gleichgesetzt. Die Beziehungen mit dem Kontext hören auf, Ironie hervorzurufen, oder sie beginnen im Gegenteil, einen Text für diejenigen ironisch zu machen, die sie auf entsprechende Weise deuten, obwohl derselbe Text früher nicht ironisch aufgefaßt wurde. Es ist auch möglich, daß mit der Änderung des Kontextes der ironische Text dies auch weiterhin bleibt, aber auf andersartige Weise, mit veränderten semantischen Folgen.

 

12. Böswillige Deutung

Mit Rücksicht auf all dies sind in bezug auf die Ironie noch einige Faktoren zu berücksichtigen, die im Verstehen und Deuten der geschriebenen Texte eine Rolle spielen können. Da sich der Text gegen falsches Verstehen nicht nur nicht verteidigen kann, sondern "umherschweift" und nicht weiß, "zu wem er reden soll und zu wem nicht",[174] hat Platon in diesen seinen Eigenschaften, die auf die Abhängigkeit des begriffenen Sinnes von oft ganz unvorbereiteten und unbewanderten Lesern hinweisen, seinen immer drohenden (oder wenigstens immer möglichen) Mißbrauch gesehen. Der Mißbrauch ist schon deshalb möglich, weil die Grenzen für die Realisierung der Werte der Sinndeutung des Textes nicht streng gezogen sind, noch es möglich ist, solche Grenzen mit voller Strenge zu ziehen. Der Konflikt der Deutungswerte kann auf die Entgegensetzung der Kreativität der Auslegung eines Textsinnes durch den Interpreten einerseits und der dem gedeuteten Text entgegengebrachte Treue andrerseits reduziert werden.

In solchen Befürchtungen ist Platon nicht alleine geblieben. Spuren ähnlicher Bedenken und Befürchtungen, wie sie im Phaidros ausgedrückt sind, wird man in verschiedenen Zeiten und bei den verschiedensten Leuten finden. Auch diejenigen, die sich mit der "Hermeneutik" nicht befaßt haben, haben über dieses Problem nachgedacht. Interessant ist, was Ivo Andrić darüber aufgezeichnet hat:

"Man kann sich nur schwer die Mißverständnisse vorstellen, denen die Bücher ausgesetzt sind, die wir so wohlmeinend und leider so leichtfertig in die Welt schicken. Einige Literaten reagieren auf diese Mißverständnisse in der Presse und verteidigen sich gegen Verleumdungen und falsche Deutungen, andere schweigen und erdulden sie. Gewiß, eines ist sicher. Man weiß nicht, welches von beiden schlimmer und schwerer ist. Der Autor kann nicht überall, bei jedem Exemplar seines Buches und für jeden böswilligen und beschränkten Menschen, jede Gans und jeden Ignoranten persönlich und im Besonderen erklären, was ist und was nicht ist, was sein kann, was nicht. Leider kann man nicht einmal ungefähr voraussehen oder bestimmen, was alles einem Wirrkopf und Besessenen beim Lesen eines Textes einfallen kann. Daher lohnt es sich nicht, viel darüber nachzudenken, und noch weniger, manche mögliche Übel und Unannehmlichkeiten zu befürchten, denn alle sind möglich."[175]

In dieser Aufzeichnung sind alle Themen enthalten, die Sokrates im Phaidros im Zusammenhang mit den Gefahren erwähnt, die dem Text drohen, der "umherschweifend" "nicht weiß, zu wem er reden soll, zu wem nicht". Wie bei Platon, so auch in der Aufzeichnung von Andrić geht man davon aus, daß jener Sinn oder eventuell jene Sinne, die der Leser verstehen sollte, vorhanden sind: wenn der Autor persönlich erscheinen würde, könnte er das Werk vertreten, indem er die Annehmbarkeit des einen und die Unannehmbarkeit des anderen Resultats der Verstehens erklären würde: "was ist und was nicht ist, was sein kann, was nicht". Aber der Autor ist im Text nicht persönlich anwesend, darin liegt das Problem. Sich in der Presse gegen Verleumdungen und falsche Deutungen zu verteidigen, also wieder durch einen Text, mittelbar, ohne lebendigen Dialog, lohnt sich nicht besonders, da sich jeder neue Text in derselben Lage befindet wie jener, um welchen das Mißverständnis entstanden ist. Daraus ist aber nicht gleich zu schließen, daß es nur eine "richtige" Deutung gibt, aber man muß schließen, daß es viele solche gibt, die ausschließlich Resultat des Mißverständnisses sind, ganz aus jenem, "was nicht ist [und] nicht sein kann". Vom Standpunkt der Hermeneutik und Literaturtheorie liegt das Problem übrigens nicht vor allem darin, daß man unter den Lesern beschränkte Leute, Wirrköpfe und Besessene finden kann, die Andrić erwähnt; sie verweisen nur zugespitzt auf das, was beim Lesen überhaupt problematisch ist, egal um welchen und was für einen Leser es sich handelt: es sind dies die unvorhersehbaren und unberechenbaren Assoziationen des Lesers bei der Lektüre, über deren Gerechtfertigtsein, Angemessenheit und Grenzen und über die Richtungen, in denen sich seine Deutung entfaltet, Rechenschaft zu verlangen ist. Es ist klar, daß davon auch abhängt, ob und wie ein Text mit Ironie aufgefaßt werden muß.

Bei der Suche nach einer Möglichkeit der Beseitigung oder wenigstens Verminderung grober Mißverständnisse, einer Möglichkeit der Sicherung jenes Sinnes im Verstehen, der "ist und [...] sein kann", ist eine so trübe Perspektive, wie Andrić sie schildert, nicht unumgänglich. Diese Suche soll außerhalb ihrer und unabhängig von ihr versucht werden. Es gibt aber in der Sicht von Andrić etwas Beängstigendes, weswegen sie besonders interessant ist und was die Unumgänglichkeit solcher Versuche besonders klar zeigt und ihr zusätzliche Anregungen gibt. Mit mehr Pessimismus als Platon im Phaidros spricht Andrić nicht nur über alle möglichen Mißverständnisse, vielmehr sind für ihn in den Mißverständnissen und durch sie auch alle Übel möglich. Schon bei Platon werden "Beleidigungen" und "unverdiente Beschimpfungen" erwähnt, denen der Text ausgesetzt werden kann. Andrić geht einen Schritt weiter.

Zunächst wird über jenes gesprochen, das auch im Horizont des Phaidros erscheint: ein Buch in die Welt zu schicken, ist leichtfertig, mag dieses an sich, wie auch dieser Akt, von noch so gutem Willen inspiriert sein. Das Buch ist immer ein potentielles Opfer, der Logos, den es trägt, ist entwaffnet. Indem es sich an den Unwissenden und Dummen auf dieselbe Weise wendet wie an den klügsten und weisesten Menschen, teilt das Buch in diesem letzteren Falle nicht dasselbe wie im ersteren mit. An der Veränderung ist indes das Buch selbst nicht schuld, sondern die Unwissenheit und Dummheit des Lesers.

Jedoch allein dadurch würden noch nicht "alle Übel" möglich sein. Die Sache ist aber die, daß es auch den böswilligen Leser gibt. Eine bedeutende und den Implikationen nach weittragende Bestimmung. Wenn man über ein Mißverständnis spricht, über eine unannehmbare Deutung, über die Unfähigkeit des Textes, sich selbst zu verteidigen und seinen Sinn zu sichern, dann denkt man an eine Möglichkeit, die in der Natur der Schrift und dadurch auch in der Natur des Lesens liegt.

Wenn diese Möglichkeit aus der Natur der Sache hervorgeht, in einer Situation, die durch das Entstehen der Schrift zustande gekommen ist, bedeutet dies nicht, daß im Prinzip nicht auch eine entgegengesetzte Möglichkeit besteht, wobei es nicht das wichtigste sein muß, daß diese beiden Möglichkeiten gleichberechtigt sind. Wenn ein Mißverständnis möglich ist, warum wäre dann nicht auch ein adäquates Verstehen möglich? Ohne zu wissen, zu wem er sprechen soll und zu wem nicht, wird der Text in seinem "Umherschweifen" auf beide Arten von Lesern stoßen, oder richtiger – sie werden auf ihn stoßen. Die Gefahr, welche diejenigen darstellen, denen er nicht bestimmt ist, jene Unwissenden, Leute, die unfähig sind, ihn richtig aufzufassen, ja Wirrköpfe und Besessene, diese Gefahr schließt an sich nicht die Existenz jener aus, denen der Text bestimmt ist oder die bereit und fähig sind, ihn zu verstehen. Wenn man übrigens die Gefahr in der Unfähigkeit des geschriebenen Wortes sieht, sich gegen Nichtverstehen und falsches Verstehen der Unwissenden zu wehren, kann denn nicht andrerseits auch der Text selbst als Mittel zum Lernen und zur Beseitigung des Nichtwissens betrachtet werden? Zwar hat eine solche Möglichkeit keinen prinzipiellen Charakter, sie hängt vielmehr von der Art des Textes ab und oft von einer besonderen begleitenden Hilfe, den Text zu begreifen, – einer der Hauptaspekte dieser Hilfe ist gerade der mündliche Unterricht, also der unmittelbare und immer potentiell dialogische Kontakt -, aber der Text kann doch auch selbst wenigstens in einigen Fällen jene Eigenschaft des Lesers verändern, die ihn als ihm nicht gewachsen zeigt, indem er ihn zum entsprechenden Verstehen führt. Die Unwissenheit und die erwähnte Eigenschaft des Lesers können auch als Gründe für das "Beleidigen" und die "unverdiente Beschimpfung" des geschriebenen Wortes, die im Phaidros erwähnt sind, betrachtet werden. Es würde nicht dem Geist des Sokratischen Rationalismus widersprechen, wenn man, in einem breiteren Kontext gesehen, schließen würde, daß es ein solches "Beleidigen" nicht geben würde, wenn es das Unwissen nicht gäbe.

Indes ist das Begehen von Fehlern aus Unwissenheit etwas anderes als das böswillige Lesen und seine Folgen. Die Gefahr durch die Ohnmacht des Textes, sich zu verteidigen und sich zu helfen, zeigt sich da in einer neuen Sicht. Vom bösen Willen geführt, stellt das böswillige Lesen und Deuten des Textes eine besondere Art seines Mißbrauchs dar. Ist es nötig, besonders zu betonen, wie verderblich die daraus folgenden Folgen sind, wenn es sich etwa um Gesetzestexts oder auf andere Weise um Texte mit politischem Inhalt handelt?

Da die Deutung des Textes immer in gewissem Maße vom Deuter selbst abhängt, kann dieser, wenn er sich dessen bewußt ist, zwischen zwei Grundentscheidungen wählen. Die eine ist die selbstbeschränkende Annäherung an den Text mit dem Ziel, die eigene Rolle zugunsten des Textes selbst oder des Textverfassers möglichst stark zurückzudrängen – wobei, unabhängig von diesem Dilemma innerhalb der Hermenteutik, der Deuter so weit wie möglich im Schatten bleibt, während der Text im Vordergrund steht. Die andere Entscheidung steht im Zeichen des guten Willens des Deuters, dasjenige, was im Text Widerstand hervorruft und zur Verurteilung führt, in der Interpretation zurückzudrängen und, sehend, zu "übersehen" und seine bessere Sinnmögüchkeit zu realisieren, unter der Bedingung freilich, daß – von dem vom Interpreten vertretenen Standpunkt – der Geist des Ganzen des Textes solche Zurückhaltung in der Kritik und Aufmerksamkeit sich gegenüber rechtfertigt. Dabei handelt es sich nicht so sehr um ein Durch-die-Finger-sehen oder Fehlen der Kritik, als um einen besonders komplexen Aspekt der Aufmerksamkeit, die das Verstehen begleitet. Ein Aspekt solch eines Verfahrens in der Deutung ist das Bewegen des Geistes des Lesers durch den Text, bei dem er das Echte auch im Unechten sieht, wodurch dieses – mittelbar – schon kritisch zurückgedrängt oder verworfen wird. Eine solche Mittelbarkeit ist Ausdruck und Resultat der Achtung anderer Werte, die man aus der Kritik und dem Verfahren der Bestreitung auszuscheiden wünscht. Der Maßstab dafür, was eine "bessere Sinnmöglichkeit des Textes" ist, kann aus mehreren Richtungen bestimmt werden: aus der referentiellen Sphäre des Textes, der Situation des Interpreten, der Beziehung zwischen dem Interpreten und den Textverfasser im Ganzen betrachtet, unabhängig vom konkreten Text, der gedeutet wird... Jedenfalls wird unter dieser letzteren Entscheidung nicht vor allem die Selbstbeschränkung des Interpreten verstanden, deren Folge es sein sollte, daß der Text durch ihn nur "zum Sprechen gebracht" und die Auslegung des Sinnes schlechthin als neue, getreue Aufzeichnung dieses "Sprechens" in besonderer Artikulation realisiert wird. Die Konstituierung des Textes wird vom Bewußtsein des Autors und so auch von jenem, was auf es wirkt, beeinflußt, und die Konstituierung des Textsinnes wird, außer von Text, auch vom Bewußtsein des den Text Verstehenden und jenem, was auf es wirkt, beeinflußt, besonders hinsichtlich der vorausgehenden Einstellung zum Text, die eine große Bedeutung für die Richtung seiner Deutung hat.[176] Der Text "emaniert" nicht spontan dasjenige, was wir seinen Sinn nennen; dieser Sinn konstituiert sich in den Tätigkeiten des Bewußtseins des Lesers. Im Verfahren der Deutung sind diese Tätigkeiten von umso größerer Bedeutung.

Wenn er schon, indem er den Text auslegt, irgendwie Stellung zu ihm nehmen muß, wenn es, mit anderen Worten, unumgänglich ist, daß er schon dadurch, daß er die Deutung ausführt, wählt und selbst stilisiert, dann wünscht der Deuter dieser Einsicht gemäß nicht, seinen Manöverraum einzuengen, sondern er ist vielmehr bemüht, ihn zu erweitem oder wenigstens kreativ auszunutzen, wobei er von dem geleitet wird, was ihm von einem besonderen Gesichtspunkt aus als bessere unter mehreren Möglichkeiten erscheint.

Was geschieht aber, wenn im Rahmen dieser letzteren Möglichkeit, welche die Rolle des Deuters hervorhebt, seine Situation, seine Interessen, der frei gewählte oder aufgedrängte Zweck der Interpretation oder etwas Viertes die Deutung zu dem hinführen, was unter verschiedenen interpretativen Möglichkeiten gemäß denselben Maßstäben schlechter ist? Indem er genötigt ist zu wählen und zu stilisieren, muß der Deuter seine Möglichkeit, dabei auf verschiedene Weisen zu verfahren, nicht nur in Übereinstimmung mit positiven Wertsystemen, die ihn umringen und mitbestimmen, ausnutzen, sondern auch gegen sie. Konfrontiert mit der Unumgänglichkeit, sich als Deuter zu entscheiden, ist er bei dieser Entscheidung prinzipiell frei. Der böswillige Leser nützt diese seine Freiheit auf spezifische Weise aus. Er beschränkt seine Rolle in der Deutung nicht, aber nicht zu dem Zweck, die Sinnmöglichkeit des Textes, die von einem bestimmten Gesichtspunkt aus die beste ist, zu realisieren, sondern um die schlechteste und nach dem entsprechenden Wertsystem am wenigsten annehmbare zu entdecken, um – da sich der Text selbst nicht verteidigen kann – aus ihm eine möglichst verderbliche Deutung herauszuziehen. Wenn man einen solchen Fall vor Augen hat, dann ist es klar, warum die Tatsache, daß der Text dem Lesen und Deuten ohne die Möglichkeit einer verläßlichen Selbstverteidigung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, eine Grundlage darstellt, auf welcher alle Übel möglich sind, und nicht nur jenes, das ein gewöhnliches Mißverständnis darstellt. Wenn auch die gute Absicht des Interpreten die entsprechenden Wirkungen der Interpretation nicht völlig gewährleistet, so gilt dies besonders für eine durch den bösen Willen geführte Interpretation.

Eine böswillige Deutung als Phase in der Belebung des "toten Buchstaben" in den lebendigen Sinn kann von einem Text, der für jeden wohlmeinenden Leser ironisch wäre, durch böswillige Deutung entweder des Kontextes oder des Textes selbst einen Text "bilden", der ernst-folgerichtig aufzufassen ist, mit allen entsprechenden negativen Folgen für den Text oder für den Autor. Möglich ist auch der umgekehrte Fall, daß ein Text, den ein wohlmeinender oder wenigstens objektiver und neutraler Leser auf der Trasse der Wortwörtlichkeit verstehen würde, böswillig gedeutet wird, so daß sich aus seinen vermittels dieses bösen Willens hergestellten Beziehungen zu einem Kontext ergibt, daß er ironisch ist, wiederum mit negativen Folgen für den Text oder für seinen Autor, etwa wegen vermeintlichen Sakrilegs, ideologischer "Diversion", geschmacklosem und einer Verurteilung unterliegenden Spott, die der böse Wille im Text sieht, usw.

Ein Beispiel, das den Gedanken von Andrić bzw. die Konsequenzen, die aus solchen Überlegungen mit Grund gezogen werden können, gut illustriert, liefert die Aussage, die dem Kardinal Richelieu zugesprochen wird: "Gebt mir sechs Zeilen aus irgendeinem Aufsatz, und ich werde darin etwas finden, dessentwegen wir den Verfasser aufhängen werden." Für das, was uns hier interessiert, ist es nicht wichtig, ob dieser hohe weltliche und geistliche Beamte dies wirklich irgendwann ausgesagt hat. Se non è vero è ben trovato. In allen Zeiten, einschließlich der unsrigen, kann man sich vom Bestehen und Wirken einer solchen Denkweise überzeugen. Der Zynismus, der dieser Aussage entspringt, ist ebenfalls von keinem Interesse in unserem Zusammenhang. Bedeutend sind seine folgenden Implikationen: in irgendeinem Text, sagt man, ist es möglich, einen Sinn zu finden, dessentwegen der Verfasser am Galgen enden kann. (Eine solche Denkweise, obwohl im Mißklang mit der eigenen Logik, trennt den Text nicht vom Verfasser, so daß die Folgen der "Deutung", sogar die tragischsten, die den Text treffen sollen, sogleich auch den Autor umfassen.) Der Text ist also diesem Gesichtspunkt gemäß dermaßen hilflos, daß der böswilligen Deutung unter der Voraussetzung, daß der Interpret (der böswillige) über eine entsprechende interpretative Kunst verfügt, keine Grenzen gesetzt werden und kein Widerstand geleistet wird. Es liegt also alles in der Interpretation und nichts im Text. Diese Folgerang ist übertrieben und unannehmbar. Sie ist zwar die letzte, folgerichtig ausgeführte Konsequenz aus dem Standpunkt, daß der Text sich weder verteidigen kann, noch imstande ist, sich zu helfen, aber dies bedeutet nur, daß dieser Einstellung von Anfang an gewisse Schranken bei der Ausführung solcher Konsequenzen gesetzt werden müssen.

 

13. Grenzen der Deutung

Wenn man dem Standpunkt der völligen Macht des Interpreten über den Text keine Schranken setzte, so würde dies die Aufnahme der Vermutung der vollen "Biegsamkeit" des Textes bedeuten. Dem widersetzt sich aber alles, was dem Code der Sprache, in der der Text geschrieben ist, angehört. Andrerseits würde aus der hermeneutischen Sicht hervorgehen, daß sich im Text kein Sinn befindet, noch überhaupt befinden kann, er vielmehr immer von neuem beim Lesen und Interpretieren frei erzeugt werden muß. Dies wiederum würde bedeuten, daß es möglich ist, dem Text als seinen Sinn beinahe alles aufzudrängen oder beizumessen. Die Fähigkeit des Textes, etwas zu bedeuten, wäre zugleich seine Unfähigkeit, etwas Feststellbares und dauernd Erkennbares zu bedeuten, trotz der Tatsache, daß er selbst derselbe und als solcher erkennbar bleibt.

Die Änderungen im Verstehen und Interpretieren können auch im Zusammenhang mit den Änderungen der Umstände und Umwandlungen des Erlebnisses, die ein eigenartiger Überbau des begriffenen Sinnes sind, betrachtet werden. Der Held des Romans von Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sagt an einer Stelle: "Es gibt ein [Buch] von Bergotte [...], das ich an einem Wintertage gelesen habe [...] und in dem ich trotz allem Bemühen die Sätze nicht wiederfinden kann, die ich so sehr liebte. Bei gewissen Worten hätte ich fast gemeint, daß sie es sind, aber das kann doch nicht sein! Wo wäre dann die Schönheit geblieben, die ich an ihnen fand? Aber der Schnee, der die Champs-Elysée an dem Tage bedeckte, an dem ich in jenem Bande las, ist nie von ihm geschwunden, er liegt für mich noch immer darauf."

Beim erneuten Lesen hat derselbe Text nicht mehr dieselbe Wirkung und scheint nicht wiedererkennbar zu sein, wenn es sich um dasjenige handelt, was darin wesentlich ist oder wesentlich war – "Wo wäre dann die Schönheil geblieben, die ich an ihnen fand?", und man könnte auch so fragen: wo ist der Sinn, der das Erlebnis dieser Schönheit ermöglichte, der Sinn, aus dem sie hervorgegangen ist und durch die Vermittlung der Sprache zum Leser gelangen konnte? Sogar die Erinnerung an die Umstände des Lesens und die Eindrücke, die ihnen folgten, sind beständiger als der Sinn des Textes und die Eindrücke, die aufgrund seines Verständnisses entstanden sind. Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn kommt man nur zur Vorstellung des Ambientes des einstigen Lesens.

Wenn man aber die Eindrücke schwer beeinflussen kann, oder dies vielleicht völlig unmöglich ist, kann man dann wenigstens den Sinn eines Textes an sich irgendwie in der Interpretation gegen eine völlige Veränderung oder sogar sein Verschwinden sichern?

 

14. Sicherung des Sinnes

Das literarische Werk bleibt gleich, sagt Ingarden, das Veränderliche sind seine Konkretisationen. Das Werk erduldet alle unsere Operationen, "und doch ruft es durch seine Konkretisationen tiefe Verwandlungen in unserem Leben hervor, weitet dieses Leben und erhebt es über die Niederungen des täglichen Seins".[177] Beim Lesen werden gewisse Werte realisiert, jedoch sichert ein wiederholtes Lesen desselben Textes nicht notwendig die Realisierung derselben Werte. Es ändert sich der herausgelesene Sinn, es ändern sich die Wirkungen des begriffenen Sinnes, der Text bedeutet uns nicht mehr das, was er uns einst bedeutete, oder er bedeutet anderen Menschen nicht das, was er uns bedeutet, obwohl auch sie ihn verstehen und obwohl, da er unveränderlich bleibt, sein Bedeutungsmaterial dieselben Möglichkeiten enthält. Dies – um das schon Gesagte zu wiederholen – kommt daher, daß die Konstituierung des Textsinnes nicht nur durch den Text beeinflußt wird, sondern auch durch das Bewußtsein desjenigen, der den Text versteht, und durch das, was dieses Bewußtsein, zumal bei der Deutung, beeinflußt.

Und doch ist die Sicherung des Sinnes möglich, und wenn es sich um eine bestimmte Art von Texten, etwa um Gesetze, handelt, ist sie sogar unumgänglich.

Die Begegnung mit demjenigen, was beim Lesen in einem Text verstanden werden soll und was als solches relativ verläßlich ist, wird zunächst durch das Trachten, beim Verstehen auf der Trasse seines Sinnes zu bleiben, gesichert. Dieses Trachten nach dem wirklichen Verstehen der Wortwörtlichkeit verlangt bewußte Beseitigung oder wenigstens Einschränkung des Einflusses alles dessen, was das Verstehen von der Trasse auf eine mit ihr nicht übereinstimmende Bahn ablenken würde. Eine wichtige Rolle kann dabei die Schaffung einer Terminologie, einer "wissenschaftlichen Sprache", spielen, die in höchst möglichem Maße jeder Zweideutigkeit entbehrt. In einer solchen Sprache sind die Worte keine "kumulativen Entitäten", ihre Bedeutung bleibt vielmehr immer dieselbe, ohne Rücksicht auf den mehrfachen Gebrauch in einzelnen Texten.

Im Verstehen eines ironischen Textes findet sich das Trachten, auf der Trasse zu bleiben, im Widerstreit mit dem kontextuellen Druck, welcher, um die Ironie überhaupt zu verstehen, zum Verlassen der Trasse zwingt. Der nichtwortwörtliche Sinn bricht neben dem wortwörtlichen und ihm entgegen durch, jedoch wird auch hier die eigentliche Bahn des Verstehens nach der Trasse der Wortwörtlichkeit bestimmt. Ironie ist Untergrabung und Destabilisierung des dem Verfahren der Sicherung unterworfenen Textsinnes. Schwerlich könnte man sich Wissenschaftler oder Gesetzgeber vorstellen, die beim Verfassen einer Fachstudie oder eines Gesetzestextes, wobei sie eine von früher her bestimmte Terminologie benutzen, ihre Gedanken, ihre Befunde oder ihren Willen in Gestalt einer Norm mit Ironie mitteilen und dabei auf besondere ironische Effekte beim Lesen solcher Texte rechnen. Der von ihnen verfaßte Text soll in seiner Wortwörtlichkeit ernst aufgefaßt werden, wortwörtlich in seinem Ernst.

Dies bedeutet indes nicht, daß auch ein wissenschaftlicher Text oder ein Gesetzestext, allein in einen entsprechenden Kontext gebracht, nicht ironisch-nichtwortwörtlich verstanden werden kann. Beim Nachdenken über eine solche Möglichkeit erblicken wir auch andere Weisen zur Sicherung des Textsinnes. Dies wird, nebst dem schon erwähnten Trachten nach der Trasse, durch die Reflexion über den Zweck des Bestehens eines bestimmten Textes im gegebenen Moment und im gegebenen Kulturraum erreicht. Diese Reflexion ist ein Moment jener Deutung, die eine notwendige Phase in der "Belebung" des Textsinnes darstellt, damit dieser wirklich der Vermittler eines lebendigen und wirksamen Sinnes sei und nicht nur ein "toter Buchstabe". In dieser Deutung, wie ein Text zu verstehen ist, verhindert die Reflexion über seinen Zweck, den Text einer wissenschaftlichen Abhandlung auf dieselbe Weise wie einen künstlerischen Text zu lesen, einen Gesetzestext wie eine Kirchenpredigt oder politische Rede zu verstehen, zwischenstaatliche Verträge wie Kaffeehauswitze aufzufassen usw. (Die Unterscheidung der "Sprachgenres" im Sinne Bachtins kann hier jedenfalls von Bedeutung sein.) Diese Reflexion im Dienst der Deutung berücksichtigt besonders die Umstände der Entstehung des Textes, sein ursprüngliches "Milieu" und seinen einstigen Zweck darin; ferner den Wechsel der "Milieus" in der Geschichte, in denen sich sein Verständnis entwickelte, wobei sich der Zweck des Textes ändern oder gleich bleiben oder auch gänzlich verloren gehen kann; und endlich die Umstände des aktuellen Verstehens und die Inhalte, die dessen kulturellen Gesichtskreis bestimmen. Der Text kann gegenüber dem ursprünglichen einen ganz neuen Zweck bekommen; die nicht mehr geltenden Gesetze etwa haben einen Wert als Dokument und eine eigenartige neue Aufgabe: nicht etwas normativ zu regeln in der Gegenwart, in der wir sie lesen, sondern am Formieren des historischen Verständnisses der Zeit, in der sie gegolten haben, teilzunehmen.

Mit den künstlerischen Texten verhält es sich anders; da sie künstlerisch sind, verändert sich ihr Zweck entweder überhaupt nicht oder aber auf eine besondere Weise. Wenn ein künstlerischer Text zum Beispiel nur noch den Wert eines Dokumentes hat, hört er auf, künstlerisch relevant zu sein, und ist kein künstlerischer Text mehr. Die Hermeneutiker sprechen über Werke, die nicht verjähren, die sich vielmehr an jedes Zeitalter wenden, als wären sie gerade für es bestimmt, als über klassische Werke.[178] Nach Gadamer bedeutet das Herausheben jenes Klassischen aus der Zeit eigentlich eine Widerstandsleistung gegen die Zeit und stellt eine gerade historische Seinsweise dar. Indem er über die Klassik aus der Perspektive der Überwindung des individuellen Todes (der die stärkste Nicht-Utopie ist) durch das Werk und im Werk spricht, sieht Ernst Bloch im "Pathos der Werkdauer, ihrer Höhe und Essenz selber" unzweifelhaft die fortgesetzte Wirkung des Begriffs der heiligen Bücher, der Bibel und des Koran, die in den morgenländischen, auf uns übertragenen Traditionen als von der Vergänglichkeit losgerissen betrachtet werden, so daß sie in der Ewigkeit stehen; nach deren "Muster oder Kanon hat sich erst der neuere Begriff der Klassik säkularisiert ausgebildet, mithin der unbewegte Regenbogen Vollkommenheit über dem Wasserfall Geschichte".[179 ]Die Reflexion über den Zweck des Bestehens ironischer Texte muß auch die Kontexte umfassen, in denen es möglich war, einen einzelnen Text ironisch zu verstehen, sowie die Änderungen in diesen Kontexten oder, was noch wichtiger ist, in ihrer allgemeinen Selbstverständlichkeit und Zugänglichkeit, ihrer Allgemeinbekanntheit in verschiedenen Zeiten. Das, was allen in einem Moment bekannt ist und mitverstanden wird, muß es in einem anderen nicht sein, und ebenso muß es in einem anderen Kulturkreis nicht diesen Status eines sozusagen natürlichen Hintergrunds des Verstehens haben. Eine Reflexion dieser Art kann dabei behilflich sein, zu begreifen, warum ein Text seinerzeit ironisch aufzufassen war und wem dies möglich war, jedoch ist sie weit weniger imstande, im aktuellen Verstehen ein ironisches Verstehen zu sichern, wenn der entsprechende Kontext nicht mehr aktuell gegenwärtig und wirksam ist. Dies kommt daher, daß die in dieser Reflexion mögliche Rekonstruktion eines solchen Kontextes die Spontaneität eines simultanen Verstehens des Textes und des Kontextes nicht gewährleistet, was für einen ironischen Effekt unumgänglich wäre. Die Rekonstruktion schließt die Spontaneität an sich aus, die Reflexion bedeutet kein unmittelbares Reagieren im Verstehen – sie kann das Verstehen eines bestimmten Typs erklären, aber nicht auch hervorbringen, "herausfordern".

Andrerseits kann die Reflexion über den Zweck des Bestehens eines Textes, etwa eines wissenschaftlichen oder eines Gesetzestextes, nicht an und für sich, einzig weil sie zu der Einsicht führt, er solle wortwörtlich-ernst verstanden und gedeutet werden, verhindern, daß er im aktuellen Verstehen mit Ironie aufgefaßt wird, wenn der Kontext, in dem wir ihn spontan auf diese ironische Weise verstehen, aufgrund der besonderen Sinnbeziehungen, die zwischen ihm und dem Text hergestellt werden, dahingehend wirkt. Die Ironie wird sich im Verstehen trotz jener Reflexion bemerkbar machen, jedoch ohne dabei deren Rolle und Effekt im Verstehen zu annullieren; sie kombiniert sich im Gegenteil gerade dank dieser Tatsache mit jenem, was sie als Einsicht ermöglicht. Erst weil uns eine solche Reflexion zur Kenntnis gibt, daß zum Beispiel der Gesetzestext möglich ernst zu verstehen ist, im Hinblick auf seinen Zweck in der Kultur, die wir kennen und in der wir leben, ihre früheren Phasen miteingerechnet, werden wir seinen Sinn mit Ironie in einem entsprechenden Kontext verstehen, wenn er in diesen hineingerät.

Die Reflexion über den Zweck des Bestehens einzelner Texte und Arten von Texten trägt zur Sicherung ihres Sinnes gegen falsches (eventuell auch böswilliges) Verstehen und Deuten bei, aber an und für sich kann sie ihn nicht gegen das ironische Verstehen schützen, wenn dementsprechende Bedingungen bestehen.[180] Zu diesem Schutz jedoch dient eine eigenartige Zensur im rezeptiven Feld, und zwar im Hinblick auf bestimmte Texte. Eine solche "Zensur" ist die dritte Möglichkeit zur Sicherung des Sinnes einzelner Texte. Damit eine Zensur in diesem Sinne besteht, ist es unumgänglich, daß das rezeptive Bewußtsein schon durch die wirkenden Inhalte der das rezeptive Feld bestimmenden Kultur ausgebildet und damit also in seiner verstehenden Ausrichtung und Arbeit global vorherbestimmt ist. In diesem Fall wirkt die betreffende Zensur derart, daß sie einen bestimmten Text – man kann auch von einer Art oder einer Gruppe von Texten reden – daran hindert, überhaupt in einen solchen Kontext zu geraten, der ihn durch seinen semantischen Druck ironisch untergraben könnte. Es handelt sich also nicht um ein äußeres Verbot, das von einer Institution oder repressiven Organisation durchgeführt und kontrolliert wird. Noch handelt es sich um die sogenannte Autozensur als Form der Angst vor einer äußeren Sanktion, wenn das Bewußtsein von gewissen Deutungsmöglichkeiten vorhanden ist, denen eigentlich vorgebeugt wird oder die zurückgedrängt oder verheimlicht werden. In diesen beiden Fällen, im ersteren mehr als im letzteren, würde es sich um eine mechanische, vom semantischen Standpunkt jedoch irrelevante Weise der "Sicherung" des Textsinnes handeln. Verbote dieser Art verhindern nämlich nicht, dazu sind sie gar nicht imstande, daß man den ironisch untergrabenen Sinn eines Textes denkt, während dieser Text aus irgendwelchem Grunde vor einer solchen Untergrabung geschützt werden soll, sondern sie sichern im besten Fall, daß ein so gedachter Sinn nicht öffentlich vorgetragen, nicht notiert, nicht veröffentlicht, nicht besprochen usw. wird.

Die Zensur des rezeptiven Feldes, die tatsächlich auf die Sicherung des Textsinnes wirkt, bedeutet die Einfügung, die Einschaltung jedes Textes in das System einer bestimmten Kultur. Da deren Inhalte und Werte das Bewußtsein des Lesers schon formiert haben, wenn es auf einen bestimmten Text ausgerichtet ist, bedeutet zu verhindern, daß der Text sich in einem Kontext findet, der ihn ironisch zu untergraben vermag, selbst die Idee der Herstellung einer Beziehung zwischen dem Text und diesem Kontext unmöglich zu machen, bzw. eine solche Idee von Anfang an zu bekämpfen. Das heißt, daß das Wahrnehmen einer solchen Beziehung unmöglich wird – denn der Text als lebendiger Sinn ist wirklich in einem Kontext nur indem er verstanden wird. Deshalb wurde auch gesagt, der Kommunikationsäther sei eine Abstraktion; die Tatsache, daß sich das Verstehen im wirklichen "kontextuellen" Kommunikationsraum auf einer Bahn, die sich von der Trasse nicht unterscheidet, entwickeln kann, bedeutet nicht, daß, außer in der erwähnten Abstraktion, eine völlige und endgültige Dekontextualisierung des Verstehens möglich ist.

Die Zensur, von der hier die Rede ist, die zur Sicherung des Textsinnes beiträgt, wirkt spontan, gleich einer Bremse, welche im rezeptiven Bewußtsein die a priori gegenwärtigen und wirksamen Kulturinhalte – Religion, Ideologie, Moral, Geschmack, aufgezwungene Rücksichten und verschiedene Normen; Bildung im weitesten Sinne – ausmachen. Gerade wegen dieser Spontaneität, dieses Automatismus und der damit verbundenen "Nicht-Bewußtheit" wird es – in konkreten Umständen und konkretem Moment "undenkbar", die derart geschützten Texte, die in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Werten des rezeptiven Feldes und der diese bestimmenden Kultur privilegiert sind, in Verbindung mit untergrabenden Kontexten zu bringen und so auf eine unerwünschte Weise aufzufassen. Die Zensur ist auf die Sicherung des gewünschten Sinnes in der Deutung ausgerichtet, jenes Sinnes, der verstanden werden soll, was nicht immer bedeuten muß, daß dies der wortwörtliche oder ein der Zweideutigkeit entbehrender Sinn ist. Zusammen mit der Reflexion über den Sinn des Bestehens des Textes wehrt sie sich gegen Böswilligkeit in der Deutung und bekämpft diese, wobei das, was in der Deutung Böswilligkeit heißt, vom Gesichtspunkt der Werte und Interessen, welche die Kultur des rezeptiven Feldes durchdringen, bestimmt wird. In verschiedenen Zeitaltern oder in verschiedenen Kulturkreisen können die Zensur dieses Typs, der unerwünschte Sinn oder die böswillige Deutung ziemlich verschieden sein.

Die Zensur des rezeptiven Feldes ist nichts Psychologisches wie das Phänomen, welches der Held von Proust erlebte, als er sich nur an den Schnee erinnerte, der gefallen war, während er den Sinn aus einem Text herauslas. Diese Zensur hat semantischen Charakter und wird durch die gleichzeitige Wirkung verschiedener, objektiv hergestellter Intentionalitäten verursacht. Die Intentionalität der im Moment des Lesens schon im rezeptiven Bewußtsein anwesenden Inhalte bestimmt, obwohl nie absolut, die assoziativen Möglichkeiten des Lesers vorher, die Richtungen, in welche er, konfrontiert mit der Intention des Textes und durch sie geleitet, sich bewegen und seinen interpretativen Artikulationswillen ausrichten kann. Dieses Vorherbestimmen hat einen selektiven und prohibitiven Charakter immer dann, wenn in einem bestimmten Text (oder Textarten) aus irgendwelchen Gründen, zumal mit Rücksicht auf den Zweck seines Bestehens, der Sinn vor Willkür im Verstehen und Deuten zu sichern ist. In dieser Selektivität und Prohibitivität liegt die Möglichkeit der vom rezeptiven Feld ausgeübten Zensur. Die Intention des Textes und die assoziative Freiheit des Lesers, gleichviel ob in dieser Intention begründet und durch sie angeregt oder nicht, erweisen sich als schwächer als die selektive und prohibitive Vorherbestimmung der assoziativen Sinnwege im Verstehen und Deuten. Mit anderen Worten, der schon anwesende Zusammenhang der Kulturinhalte im rezeptiven Bewußtsein, die es als etwas Eigenes empfindet und in seiner Anwesenheit als selbstverständlich, blockiert von vornherein gewisse Möglichkeiten der Deutung. Die Zensur des rezeptiven Feldes ist das Ergebnis der intentionalen Übermacht dieser Inhalte über die Intention des Textes. Diese Zensur stellt eine zusätzliche, im Verhältnis zum Text "äußere" Regulierung seines Sinnes im Verstehen dar, insofern sie einigen seiner Deutungen vorbeugt und für einige andere den Weg in die Belebung des Sinnes aus dem "toten Buchstaben" frei läßt. Die spontane prohibitive Elimination der Inhalte unerwünschter Kontexte verhindert in der Realisierung der Textintention beim Leser die Konstitution irgendwelchen anderen Sinnes als desjenigen, der konstituiert werden soll, – die Zensur als zusätzliche Regulierung besteht gerade, um die Intention des Textes zu realisieren, damit sie, erfaßt vom Artikulationswillen des Interpreten, nicht verloren geht oder verfälscht wird. Die Zensur des rezeptiven Feldes läßt nicht zu, daß dem Leser in bezug auf den Text irgendetwas einfällt, was, wenn es sich um einen solchen Text handelt, nicht auch einzuräumen wäre. Die verstehende bzw. interpretative Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins umfaßt zugleich sowohl die Intention des Textes als auch die Intention der im Leserbewußtsein schon eingeprägten semantisch aktiven Faktoren. Ist deswegen die Kreativität der Interpretation im Widerstreit mit der Zensur des rezeptiven Feldes? Dies muß nicht notwendig sein. Die Interpretation kann sich nämlich auch in Richtungen entwickeln, welche die Zensur offen läßt und zu deren Sicherung sie eigentlich auch besteht; die Treue zum Text, wie sie eine solche Regulierung definiert, muß nicht im Widerstreit mit der schöpferischen Komponente der Deutung sein. Freilich wird die Kreativität der Deutung dann im Widerstreit mit der Zensur sein, wenn die Wege der Entwicklung des Textsinnes gerade und ausschließlich in Richtungen und Kontexten gesucht werden, welche, wenigstens wenn es sich um einen bestimmten Text handelt, die Zensur als unmöglich ausschließt. Sie besteht auch eben deshalb, weil das Verbinden eines Textes mit einzelnen Kontexten einfach undenkbar erscheint.

Die Vorzüge des Bestehens der Zensur in diesem Sinne liegen darin, daß ihre Wirkung Textdeutungen verhindert, die von der erwähnten Maxime, die Richelieu zugeschrieben wird, oder von ähnlichen Gesichtspunkten geleitet wären. Sogar die im höchsten Maße mehrdeutigen Texte sind nicht gänzlich "biegsam", so daß man auch in ihnen, wenn nötig, etwas finden könnte, was den Verfasser an den Galgen brächte. Die Wirkung eines gewissen Zusammenhang von Kulturinhalten im Bewußtsein des Interpreten orientiert diesen vermittels der geschilderten Zensur auf eine besondere Weise und soll ihn, wenn es sich um einen Text handelt, umsichtig, sorgfältig, besonnen machen und, was vielleicht am wichtigsten ist, interessiert daran, in seinem Verstehen und Deuten durch dessen Intention geleitet zu werden. Die Mitproduktion des Textsinnes von seiten des Interpreten kann nicht völlig vermieden werden, da neben der Intention des Textes auch der interpretativen Wille des Deuters vorhanden ist, sein Artikulationswille bei der Formulierung der Interpretation. Wenn dieser Wille nicht absolut mit dem Artikulationswillen des Verfassers (bzw. mit der Intention des gedeuteten Textes, unabhängig vom Verfasser) in Übereinstimmung gebracht werden kann – schon darum, weil keine Möglichkeit besteht, daß sich diese absolute Übereinstimmung bewährt (ähnlich wie zwischen dem Willen des Verfassers und der Textintention) -, ergibt sich daraus nicht, daß die Intention des Verfassers (oder die daraus hervorgegangene Textintention) sich in der Interpretationsintention auflösen kann. Die Interpretation soll der Textintention dienen und nicht sie vernichten – die Zensur des rezeptiven Feldes hat gerade dazu zu verhelfen. Der Zynismus, mit dem Richelieu die Natur des Textes betrachtet, hat in seiner Böswilligkeit nicht selten eine Bestätigung in der Praxis verschiedener "Deutungen" gefunden, und die verschiedensten Unglücke, von denen Andrić resigniert spricht und die unzählige Male viele Verfasser und auch viele Leser trafen, gingen gerade aus dem verkehrten und böswilligen Verstehen bzw. Nichtverstehen des Sinnes hervor. Man kann jedoch nicht sagen, daß in einem solchen Lesen der Texte wirklich ein unseliger Sinn gefunden wurde. Wenn es der Reflexion über den Zweck des Bestehens des Textes und der Zensur vermöge der Intentionen der Kulturinhalte nicht gelingt, das wirkliche Gelten des Textsinnes zu beschützen, oder wenn eine solche Reflexion und eine solche Zensur bei demjenigen, der den Text vermeintlich versteht, einfach nicht existieren, dann kann man zwar von einem Ignorieren der Sinngeltung des Textes beim Leser sprechen, aber in einem solchen Fall verlassen wir eigentlich den Bereich der Interpretation, in dem auch die Rechte des Artikulationswillens des Interpreten, aber auch die Intention des Textes berücksichtigt werden, und werden mit der nackten Willkür des Lesers und "Deuters" konfrontiert, die eigentlich auch nichts im Text zu finden wünscht oder ernstlich zu finden versucht. Eine solche Willkür hat nichts mit dem interpretativen Artikulationswillen und seinen kreativen Möglichkeiten und seinem Verfahren zu tun. Die betreffende Willkür wird meistens von Gewalt begleitet, zu welcher der Text Anlaß ist, aber nicht vor allem wegen des Sinnes, der aus ihm wirklich abgeleitet oder in ihm gefunden werden kann.

Die Mängel der Zensur des rezeptiven Feldes und die dadurch drohenden Gefahren werden ersichtlich, wenn einzelne Kulturinhalte – meistens religiöse und ideologische – durch ihre prohibitive intentionale Wirkung verhindern, daß sich das Verstehen eines Textes in einem Kontext entwickelt, welchen dieser Text selbst verlangt und gleichsam als assoziativen Rahmen "herbeiruft". Die Zensur ist in einem solchen Fall im Widerstreit mit der Textintention und macht den Leser blind für die Beziehungen zu den Kontexten, durch deren Herstellung im Verstehen der Text eigentlich erst sinnhaft verwirklicht wird. Wenn eine solche Zensur dermaßen stark ist, daß die Verblendung des Lesers beständig und undurchdringbar wird, handelt es sich um einen eigenartigen Fanatismus im Verstehen, der trotz aller Offensichtlichkeit, einer Offensichtlichkeit selbstverständlich vom Standpunkt derer, die von diesem Fanatismus nicht ergriffen sind, die Einordnung des Textes in einen entsprechenden, gewünschten Kontext unmöglich macht. Eine solche falsche Beschützung des Textes durch die Zensur, die seinen Sinn nicht gegen willkürliche Deutungen sichert, sondern sich trotz der Intention des Textes verwirklicht, wirkt nicht vor allem prohibitiv, sondern als Aufdrängung eines gewissen, im Verhältnis zum Text apriorischen Inhalts, der sich als einziger Kontext der Deutung erweisen soll. Manchmal ist es sehr schwer, die prohibitive Sicherung des Sinnes gegen Mißbrauch in der Deutung von der Vereitelung des sinnhaften Lebens des Textes in der Rezeption, wie auch von seiner Kanalisierung in dem Textzweck inadäquate, verarmende interpretative Bahnen zu trennen. Die Dogmatisierung einzelner Texte, meistens im Namen gewisser religiöser oder ideologischer Inhalte ist das schlagendste Beispiel einer solchen Ausartung der Zensur des rezeptiven Feldes: anstatt ein Mittel zur Sicherung des Textes zu sein, wird sie zu einem Mittel zur Vereitelung der freien und kreativen Rezeption, also des richtigen Verstehens und Deutens. Die historische und existentielle Beschränktheit von Gemeinschaften und Einzelnen, die zu Teilnehmern bzw. Opfern einer solchen Dogmatisierung werden, stellt eine ideale Vorbedingung für das Erscheinen verschiedener Formen der Zensur in einem anderen, gebräuchlichen Sinne des Wortes dar, der Zensur also als einer repressiven Organisation bzw. einer gesellschaftlichen Institution, die auch von außen, mechanisch, unerwünschte Deutungen bestimmter Texte abwehrt.

Die Zensur des rezeptiven Feldes ist nie vollkommen, schon gar nicht ewig. Im Falle, daß ihre prohibitive Wirkung, die schon das Entstehen von unerwünschten Deutungen verhindert, versagt, bleibt es der Zensur als gesellschaftlicher Institution, sofern sie besteht, übrig, wenigstens die Notierung und öffentliche Kundmachung solcher Deutungen zu bekämpfen. Die totalitären Regimes gehen immer von der Möglichkeit des Versagens der Zensur des rezeptiven Feldes aus, sowohl als Sicherung des Sinnes als auch als Aufdrängung des erwünschten Kontextes für die Deutung des Textsinnes; das Mißtrauen gegen die Zensur, die in der Wirkung gewisser Kulturinhalte im rezeptiven Bewußtsein der Bevölkerung gründet, zeigt sich manchmal ganz offen, und dann tritt zu einer solchen Zensur, die zur Sicherung oder, häufiger, zur Herstellung und Erhaltung eines Dogmatismus dient, notwendig auch eine mechanische Zensur-Institution hinzu. Die demokratischen Systeme haben ebenfalls die Möglichkeit des Versagens der Zensur des rezeptiven Feldes vor Augen; sie begnügen sich jedoch, wenigstens überwiegend, mit deren Wirkung und dem Effekt der Rücksichten, die das rezeptive Feld seinen Inhalten gemäß auferlegt. Dies ist deshalb möglich, weil die Angst vor der Erschütterung einzelner Inhalte geringer ist als in den totalitären Systemen, weil nicht vor allem nach der Dogmatisierung irgendwelcher Inhalte als Hauptziel getrachtet, sondern nur die Sicherung des Sinnes, wo sie nötig ist, angestrebt wird. Die unannehmbare Deutung eines Gesetzes wird also bekämpft, aber eine andere als die erwünschte Deutung eines Romans zum Beispiel ruft keine unangemessenen Folgen und Widerstände hervor, die in beschränkten, vom Dogma beherrschten Milieus erscheinen und erscheinen müssen, da das Dogma nicht mit dem Auftreten von Verschiedenheit, Neuheit, neuem Sinn ruhig koexistieren kann, denn es befindet sich im Widerspruch zur Geschichte, die ein Feld von Änderung und Neuem ist.

Die Zensur des rezeptiven Feldes ist im Widerstreit mit der Ironie, wenn sie die Herstellung der Beziehungen zu dem für die Ironie nötigen Kontext, wie auch jenes simultane Denken der Textintentionen und eines solchen Kontextes nicht zuläßt. Aber die Zensur kann durch ihr selektives "Ausschließen" einzelner Kontexte auch jenen Textsinn sichern, der sich, gedeutet in freien Richtungen, gegebenenfalls gerade mit dem Kontext verbindet, der das Verstehen ironisch macht. Die Zensur kann also auch darauf ausgerichtet sein, den Kontext zu bewahren, in dem der Text mit Ironie aufgefaßt wird. Auf längere Frist betrachtet, nagen die Änderungen, welche die Geschichte bringt, sogar die strengste und wirksamste Zensur des rezeptiven Feldes an, auch jene ihre unangemessenen Folgen miteingeschlossen, die in den Fanatismus des ausschließlichen, engstirnigen Verstehens fuhren. Die Lockerung der Zensur des rezeptiven Feldes kann als Folge der Änderungen in der Formation des entsprechenden Zusammenhangs von Kulturinhalten, die das rezeptive Feld bestimmen, betrachtet werden. Die Änderung der Verhältnisse in einem solchen Zusammenhang kann die Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins in eine andere Richtung lenken und dasjenige, was die Zensur früher als undenkbar ausgeschlossen hatte, möglich oder sogar gebräuchlich machen davon zeugen beredt z.B. die Änderungen des Geschmacks. Dasselbe findet statt, wenn es zur Verjährung, d.h. zum Verlust an Bedeutung und Wirksamkeit gewisser Kulturinhalte und Werte kommt. Die Einführung einer mechanischen Zensur vermittels entsprechender gesellschaftlicher Einrichtungen kann dabei keine große Hilfe leisten, wenn das geschichtliche Geschehen einen zu solchen Änderungen führenden Verlauf genommen hat. Daher ist es auch möglich, daß sich einzelne Texte in einem Moment in Kontexten finden, in denen ihr Verständnis und ihre Deutung gegenüber dem früheren zu Gotteslästerung, Unmoral, Geschmacklosigkeit oder Verletzung der guten Sitten wird, obwohl die Verfasser dieser Texte dies nicht wünschten und dies auch nicht die Intention der Texte an sich war, im Hinblick auf ihren ursprünglichen Kontext. Auf ähnliche Weise sind auch die Probleme der Parodie zu betrachten – das Erscheinen der Möglichkeit, daß sich etwas als Parodie erweist, oder das Verschwinden einer solchen Möglichkeit, wenn sie früher bestanden hat.

Wann man etwas mit Ironie lesen wird, kann nicht im voraus gesagt werden. Möglich ist es einzig, die nötigen Bedingungen eines solchen Lesens zu beschreiben. Eine eingehendere Untersuchung der semantischen Verhältnisse zwischen Text und Kontext, die im Verstehen und Deuten hergestellt werden müssen, wenn es sich um Ironie handelt, wird eine nähere Einsicht in diese Bedingungen und die Umstände, von denen sie begleitet ist, ermöglichen. Darauf ist nun unsere Aufmerksamkeit zu richten.

l siehe Miroslav Červenka, Der Bedeutungsaufbau. des literarischen Werkes, München 1978, S. 163 ff.

2 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hua III, 1-2 Den Haag 1976, Hua IV Den Haag 1969, Hua V Den Haag 1971; Cartesianische Meditationen, Hua I Den Haag 1963; Aufsätze und Rezensionen (1890-1910), Hua XXII Den Haag 1979.

3 Eine interessante Kritik dieser Auffassung gibt Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 252 ff; siehe auch Paul Ricoeur, "Can Fictional Narratives Be True?" in: The Phenomenology of Man and the Human Condition, Analecta Husserliana XIV, 1983, S. 3 ff, und im selben Band Jacques Derrida, Le retrait de la métaphore, S. 273 ff; Rani Hajdeger [Der frühe Heidegger], hg. von D. Basta und D. Stojanović, Beograd 1979.

4 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/Main 1974, S. 28.

5 ebd., S. 122.

6 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen-Verl. 1988, S. 293.

7 ebd.

8 "Die Epoche des Zeichens ist ihrem Wesen nach theologisch", Jacques Derrida, Grammatologie, S. 28.

9 ebd., S. 29.

10 ebd., S. 98.

11 ebd., S. 81, 98, 110, 130,218,223,228.

12 ebd., S. 193.

13 Platon, Phaidros, 274 e.

14 Paul Ricoeur, "Qu'est-ce qu'un Texte? Expliquer et Comprendre", in: Hermeneutik und Dialektik II, Tübingen 1970, S. 183. (Immer bei diesem Text: Übersetzung von mir - D. S.)

15 Platon, Phaidros, 275 a.

16 ebd.

17 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 21973, S. 109.

18 Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfürt/Main 1967, S. 391.

19 ebd., S. 394.

20 ebd., S. 393

21 ebd., S. 392.

22 ebd., S. 391 f.

23 ebd., S. 30.

24 ebd., S. 115.

25 Jacques Denida, Randgänge der Philosophie, S. 293.

26 Paul Ricoeur, Qu'est-ce qu'un Texte?, S. 194 f.

27 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, S. 30.

28 ebd., S. 20 f.

29 ebd., S. 21, 30.

30 ebd., S. 170.

31 Paul Ricoeur, Hermenteutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, München 1974, S. 213.

32 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 32 ff, und: Paul Ricoeur, Hermenteutik und Psychoanalyse, S. 208 ff, 212 ff.

33 Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, S. 40.

34 Jacques Derrida, Grammatologie, S. 201.

35 ebd., S. 211.

36 ebd., S. 205.

37 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 2 1967, S. 28.

38 ebd., S. 30.

39 ebd.

40 André Martinet, "Reč" [Das Wort], in: III program Radio-Beograda Nr. 18, 1980, S. 229. (Übersetzung von mir - D. S.)

41 Jonathan Culler, Saussure, Hassocks, Sussex: The Harvester Press 1976, S. 110. (Übersetzung von mir - D. S.)

42 ebd.

43 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 37. Derrida schreibt bewußt falsch "différance" anstatt "différence"; die Aussprache ist in beiden Fällen dieselbe.

44 Nikolaj S. Trubeckoj, Grundzüge der Phonologie, Göttingen 1967, S. 81.

45 Z.B. A. J. Greimas, Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig 1971; einen breiten Überblick über die semantischen Theorien unter besonderer Berücksichtigung des Beitrages von Coseriu gibt Horst Geckeler, Strukturelle Semantik und Wortfeldtheorie, München 1971; siehe Stephen Ullmann, Grundzüge der Semantik, Berlin und New York 1972; F. R. Adrados, Sprache und Bedeutung, München 1977.

46 Z.B. wie in Greimas' Analyse.

47 André Martinet, Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 5 1971, S. 33; dagegen wendet sich George Mounin, Linguistique et Philosophie, Paris 1975; siehe auch George Mounin, "La notation de code en linguistique" in: Linguistique contemporaine. Hommage à Eric Buyssens, Bruxelles 1970, S. 141 ff.

48 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 16.

49 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, S. 119 ff; Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 30.

50 Emile Benveniste, "La forme et le sens dans le langage", in: Le Langage II, Neuchâtel: La Baconnière 1967, S. 27 ff.

51 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 157.

52 ebd., S. 117.

53 ebd., S. 118.

54 ebd., S. 119.

55 ebd.

56 ebd.

57 ebd.

58 ebd., S. 121.

59 Valentin N. Vološinov (Michail Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main – Berlin – Wien: Ullstein 1975. In dem Vorwort des Herausgebers Samuel M. Weber wird noch Vološinov als Autor des Textes vorausgesetzt, aber 1979 teilt Rainer Grübel mit, es sei nicht zu bezweifeln, daß Bachtin den Text entworfen habe. In: Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt 1979, S. 13.

60 Vološinov (Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, S. 142, 162 f.

61 ebd., S. 146.

62 ebd.

63 ebd., S. 166.

64 ebd., S. 164.

65 Jan Mukarovsky, Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, München 1974, S. 186, 194. Mukarovsky weist daraufhin, daß Vološinow in der Studie "Die Konstruktion des Ausdrucks", Literaturnaja učeba 1930, die Existenz der Bedeutungsdynamik entdeckt hat. Der Einfluß Bachtins hierauf ist sehr wahrscheinlich.

66 ebd., S. 183.

67 ebd., S. 190.

68 ebd.

69 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971.

70 Michail Bachtin, "Problem govornih žanrova" [Das Problem der Sprachgenres], in: III program Radio-Beograda, Nr. 47, 1980, S. 233 ff. (Dieser Text ist nicht in deutscher Sprache verfügbar; alle Zitate sind von mir übersetzt – D. S.). Siehe auch Janusz Slawinski, Literatur als System und Prozeß, München 1975, S. 81 ff.

71 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 41972, S. 227.

72 Jan Mukarovsky, Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, S. 186 f.

73 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 42 ff.

74 ebd., S. 46.

75 ebd., S. 95 ff.

76 Jan Mukarovsky, Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, S. 188.

77 ebd., S. 183.

78 ebd., S. 188.

79 Vološinov (Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, S. 164.

80 ebd., S. 166.

81 ebd., S. 167 f.

82 ebd., S. 168.

83 ebd., S. 172.

84 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 157.

85 Paul Ricoeur, Qu'est-ce qu'un Texte?, S. 197.

86 Paul Ricoeur, "Diskurs und Kommunikation", in: Neue Hefte für Philosophie 11, 1977, S. 6; siehe Michail Bachtin, "Problem teksta" [Das Problem des Textes], in: Književnost l, 1978, S. 45, 47. (Auch dieser Text liegt nicht in deutscher Sprache vor; die Zitate sind von mir übersetzt – D. S.).

87 Vološinov (Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, S. 122.

88 ebd., S. 123

89 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 119.

90 Vološinov (Bachtin): Marxismus und Sprachphilosophie, S. 166.

91 Ideologisch wird bei Bachtin auf eine spezifische Weise verstanden, nämlich sehr weit, als "kulturell" im allgemeinen oder als Weltanschauung.

92 ebd., S. 123.

93 Michail Bachtin, "Problem govornih žanrova" [Das Problem der Sprachgenres], S. 247.

94 ebd., S. 248.

95 ebd., S. 251.

96 ebd., S. 253.

97 ebd., S. 255 f.

98 Vgl. hierzu die Darlegungen über den "Rezeptionshorizont" und das "allusovische Spektrum" in: Dragan Stojanović, Dostojewski und Thomas Mann lesen, Frankfurt/Main 1987, S. 89 ff; siehe auch die Beispiele, die Bachtin gibt in: Probleme der Poetik Dostoevskijs.

99 Michail Bachtin, "Problem govomih žanrova" [Das Problem der Sprachgenres], S. 265ff. Siehe auch: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München 1975.

100 siehe Michail Bachtin, "Problem teksta" [Das Problem des Textes], S.56.

101 Michail Bachtin, "Problem govornih žanrova" [Das Problem der Sprachgenres], S. 264.

102 ebd., S. 265.

103 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 232.

104 ebd., S. 225.

105 ebd., S. 221.

106 ebd., S. 218.

107 siehe z.B. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Hua I, DenHaag 1963;

auch Emile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt 1977, S. 287 ff.

108 Maurice Merleau-Ponty, Éloge de la Philosophie et autres essais, Paris 1967, S. 110. (Diese Studie liegt nicht in deutscher Sprache vor, die Übersetzung ist von mir – D. S.).

109 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 208.

110 ebd., S. 212.

111 Maurice Merleau-Ponty, Éloge de la Philosophie et autres essais, S. 100.

112 Z.B. Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, S. 111.

113 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II/l, Tübingen [5]1968, S. 31.

114 ebd., S. 38.

115 Ingardens differenzierte Behauptungen befinden sich nicht in Übereinstimmung mit dieser Behauptung, denn solchen "Ausdrücken" entsprechen die Gegenständlichkeiten, die gerade durch die intentionale Kraft des Ausdrucks geschaffen wurden; es ist natürlich von Gegenständlichkeiten die Rede, deren ontischer Status sich von dem derjeniger Gegenständlichkeiten unterscheidet, auf die die Bedeutung im geläufigen Sinne als auf etwas an und für sich Existierendes hinweist.

116 ebd., S. 52.

117 ebd., S. 38.

118 ebd., S. 100.

119 Gottlob Frege, Sinn und Bedeutung. In: Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. von G. Patzig. 1962. S. 38ff.

120 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II/l, S. 52.

121 ebd., S. 95.

122 ebd., S. 321.

123 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 37.

124 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II/l, S. 73.

125 ebd., S. 104.

126 ebd., S. 105.

127 Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Frankfurt/Main 1970, S. 66.

128 ebd., S. 94.

129 Leszek Kolakowski, Die Suche nach der verlorenen Gewißheit: Denkwege mit Edmund Husserl, Stuttgart 1977, S. 94f.

130 Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München [3]1984, S. 59.

131 ebd.,S.58ff.

132 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 8, 29, 100.

133 Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Hua XVII, Den Haag 1974, S.267 f.

134 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 361.

135 siehe auch: Roman Ingarden, Über die Verantwortung, Stuttgart 1970.

136 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 303 f.

137 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 49 ff.

138 ebd., S. 365.

139 Roman Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969, S. 219 ff.

140 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 371.

141 ebd., S. 23, 348, 359.

142 ebd., S. 364.

143 Roman Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Diskussionsbeiträge (1937-1964), Tübingen 1976, S. 117.

144 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 24, 360.

145 ebd., S. 27.

146 Auf diese Möglichkeit weist Martinet hin: Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 10.

147 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 29 f.

148 ebd., S. 14.

149 ebd., S. 31 f.

150 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 91.

151 ebd.

152 ebd.

153 ebd.

154 Roman higarden, 0 dziele literackim, Warszawa 1960, S. 14.

155 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 390.

156 Paul Ricoeur, Diskurs und Kommunikation, S. S.

157 siehe auch: Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 67, und Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 197, 198, 202, 206, 208.

158 Emile Benveniste, "La forme et le sens dans le langage", in: Le Langage, S. 34.

159 l. Er hat mit den besten Menschen Freundschaft geschlossen. / 2. In diesem Alter hat er aus bloßer Torheit geheiratet. / 3. Er floh vom Tatort.

160 I. A. Richards, The Philosophy of Rhetoric, Oxford 2 1971, S. 11, 40, 71 ff; Paul Ricoeur. Die lebendige Metapher, S. 77 ff.

161 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43.

162 I. A. Richards, The Philosophy of Rhetoric, S. 11.

163 Diese Grenzen können auch die Grenzen des guten Geschmacks sein, eines bestimmten Stils, einer vornehmen und gehobenen Ausdrucksweise u.a. Hierzu vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 254 ff über den Begriff latinitas in der klassischen Rhetorik.

164 Platon, Phaidros, 275 d, 278 a.

165 ebd., 275 e.

166 ebd.,275d,e.

167 ebd., 276 a, c; 277 a; 278 c.

168 ebd., 276 c; 278 a, c.

169 ebd., 276 a.

170 ebd., 276 c.

171 Bei Bachtin unterscheiden sich "Genres", auf die sofort aktiv reagiert wird, und solche, die darauf bedacht sind, ihr Verständnis für einige Zeit ruhen zu lassen, wenn es sich um ein "Verstehen mit verzögerter Wirkung" handelt (Problem govornih žanrova [Das Problem der Sprachgenres], S. 242). Zu den letzteren gehören nach Bachtin hauptsächlich "Genres der komplexen kulturellen Kommunikation". In seiner Theorie ist es wichtig, daß auf alles, was irgendwann gehört und aktiv verstanden worden ist, früher oder später in nachfolgenden Reden oder im Verhalten desjenigen, der gehört und verstanden hat, erwidert werden wird.

172 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 222 f. Der grundlegende Gedanke in Ingardens Buch Das literarische Kunstwerk bezieht sich auf dieses Problem, selbstverständlich ausgehend von den grundlegenden Untersuchungen Husserls. Siehe Ideen I, Hua III, l. Den Haag 1976, S. 305 f.

173 Bei der künstlerischen Gestaltung eines Textes spielt diese Möglichkeit oft die entscheidende Rolle.

174 Platon, Phaidros, 275 e.

175 Leider ist dieser Passus nicht in die deutsche Ausgabe des Buches: Ivo Andrić, Wegzeichen, München 1982, aufgenommen worden; deshalb ist die Übersetzung von mir -D.S.

176 Diesem hat Hans-Georg Gadamer besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, S. 250 ff; 260 ff.

177 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 400.

178 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 274.

179 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung III, Frankfurt/Main [4]1977, S. 1371.

180 Solche Versuche, per Gesetz zu regulieren, wie ein Text verstanden werden soll, um die Buchstäblichkeit zu bewahren und freie Interpretationen zu verhindern, sind bekannt. Die alte isländische Gesetzgebung z.B. schützte die Ehre des Mannes vor Verspottung, aber die Möglichkeit des Erscheinens von Ironie als nichtbuchstäbliche Mißachtung und die damit verbundene Unsicherheit im Verstehen brachte den Gesetzgeber dazu, dem Verstehen und Deuten einiger Texte, die beleidigend sein könnten, eine Grenze zu setzen. "In der Version des Kodex Konungsbók des Gesetzes Grágás steht, daß ein Mann mit drei Mark bestraft wird, wenn er einen Vers über einen anderen Mann dichtet, auch wenn er keinen Spott enthält, und wenn er mehrere Verse dichtet, wird er des Landes verwiesen. Der Grund für diese Maßnahme mußte die Tatsache sein, daß häufig in scheinbar unschuldigen Versen Spott verborgen wurde (was auch aus der neueren isländischen Gelegenheitsdichtung bekannt ist), weshalb es unmöglich war, mit Sicherheit zu wissen, was Lob und was Verspottung war. Dieses Problem wird im folgenden Artikel des Gesetzes sichtbar, in dem die Höchststrafe bestimmt wird: der Betreffende wird für schuldig und damit für vogelfrei erklärt, wenn er einen Halbvers gedichtet hat, der Mißachtung oder Spott enthält »oder eine solche Form des Lobes, die zur Verspottung gedichtet wurde«. Die hochentwickelte skaldische Dichtung mit ihrer ausgiebigen Benutzung von Metaphern war ein gutes Medium für subtile Ironie, so daß die Gesetzgeber einfach die Warnung vor zu freier Deutung als Notwendigkeit bezeichneten. So finden wir im Kodex Skadarhólsbók, dem zweiten Hauptmanuskript des Gesetzes Grágás, in einem Artikel, der sich vor dem Artikel über die Dichtung befindet, folgende Definition des Begriffes fullréttisord (mündliche Beleidigung, für die die volle Geldstrafe zu zahlen ist – A.d.Ü.): »Fullréttisord ist, wenn ein Mann anderen etwas sagt, was nicht in einem guten Sinn aufgefaßt werden kann. Und jedes Wort hat zu sein, was es besagt, und ist nicht nach den Regeln der skaldischen Sprache zu deuten. Halfréttisord (mündliche Beleidigung, für die die halbe Geldstrafe zu zahlen ist A.d.Ü.) ist, wenn das Gesagte sowohl in einem guten als auch in einem schlechten Sinn aufgefaßt werden kann.« In dem jüngeren isländischen Gesetz Jónsbók wird diese Definition wiederholt und abgeschwächt, indem gesagt wird: »Jedes Wort hat zu sein, was es besagt. Es ist nicht nach den Regeln der skaldischen Sprache zu deuten; und ein Mann wird nicht für schuldig erklärt, wenn er etwas gesagt hat, was sowohl in einem guten als auch in einem schlechten Sinn aufgefaßt werden kann.«" Zitiert aus: Preben Meulengracht Sörensen, Norront nid. Forestillingen om den umandige mand i de islandske sagaer, Odense: Odense Universitetsforlag 1980, S. 86 f. (Übersetzt von Ljubiša Rajić und D. S.).

 


Das Phänomen der Ironie

 

l. Wann liegt Ironie vor?

Die Trennung des gesprochenen und des geschriebenen Textes, die Analysen der Elastizität und Instabilität der Bedeutung, die Erörterung der Weisen, den Textsinn zu sichern, all dies ermöglicht, heranzutreten an eine eingehendere Bearbeitung der Fragen: wann liegt Ironie in einem Text vor, und welche Folgen hat dies für seinen Sinn?

Die Ironie liegt dann vor, wenn der Kontext auf den Textsinn im Verstehen einen solchen Druck ausübt, daß es die durch die im Text gebrauchten Bedeutungseinheiten und durch die Art ihrer Verkettung zu einem Ganzen bestimmte Trasse verläßt und sich auf die unsichere Bahn der Nichtwortwörtlichkeit begibt. Die Eigenschaften einer gerade ironischen Bahn des Verstehens des textuellen Sinnes sind abhängig von den Beziehungen, die zwischen dem semantischen Textmaterial und dem semantischen Material des Kontextes hergestellt werden.

Mag der Kontext textuell oder nichttextuell sein, der betreffende Druck ist ein semantischer Druck: er stellt eine besondere Art semantischer Gegenwirkung dar. Aber für die Ironie reicht die bloße Möglichkeit nicht aus, daß im Verstehen eine Bedeutungsberührung zwischen dem semantischen Textmaterial und dem semantischen Material des Kontextes hergestellt wird; das Verstehen des Textes muß von einer entsprechenden Wahrnehmung und dem Verstehen ihrer Natur begleitet sein. Der Text kann nämlich erst dann ironisch aufgefaßt werden, wenn sich bei der Verbindung des semantischen Textmaterials mit dem semantischen Material des Kontextes und dank dieser Verbindung im Verstehen ihre Nichtübereinstimmung zeigt, jener intentionale Widerstreit (der aus der simultanen Wirkung des erwähnten Bedeutungsmaterials im rezeptiven Bewußtsein hervorgeht), durch den es auch möglich ist, von einem Bedeutungsdruck des Kontextes zu sprechen. Für das Bestehen der Ironie ist es unumgänglich, daß sich diese Nichtübereinstimmung sozusagen semantisch verselbständigt als ein zusätzlicher Faktor der Bildung des Textsinnes, der in der Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins unmittelbar intentional wirksam ist. Da er aus der Verbindung von semantischem Material im Verstehen hervorgegangen ist, wird dieser Faktor als eine spezifisch unausgesagte, nur phantomhaft intentional gegenwärtige Negation auf den Inhalt des Textsinnes selbst übertragen, mit dem zusammen und zugleich er lebendig zu denken ist. Der Inhalt des Textsinnes wird auf diese Weise gänzlich anders als im Fall einer expliziten und unmittelbaren grammatischen Negation in Frage gestellt. Die grammatische Negation benötigt eine Veränderung des semantischen Textmaterials oder zumindest eine Veränderung in der Anordnung und den Beziehungen der Bedeutungseinheiten. Im Fall der Ironie jedoch gibt es keine Veränderungen im Text selbst; die Veränderung seines Sinnes (in bezug auf die Trasse der Wortwörtlichkeit) tritt durch die intentionale Wirkung des semantischen Materials, das im Kontext des Verstehens liegt, ein.

Zur Bedeutungsberührung, in der sich der ironische destruktive semantische Faktor bei der Konstituierung des Textsinnes verselbständigt, kommt es dadurch, daß sich der Text durch bestimmte Teile oder Aspekte seines semantischen Inhalts für einen bestimmten Kontext "aufschließt", indem er sich dessen Dmck gemäß dem Artikulationswillen des Textverfassers aussetzt, der also in diesem Fall selbst seinen Text in den entsprechenden Kontext einführt; oder indem sich der Kontext durch Faktoren seines semantischen Materials dem Text aufdrängt, unabhängig davon, ob dies die Absicht des Verfassers war oder nicht. Damit dieses "Aufdrängen" – vielleicht nicht erwünscht und nicht hervorgerufen, aber semantisch möglich – erfolgreich sei, ist es freilich notwendig, daß derjenige, der den Text versteht, es in der Sinnverbindung von Text und Kontext intentional realisiert.

Das Wirken des spezifisch ironischen semantischen Faktors ist vom kontextuellen Informationsgrad des Verstehenden und von der Lebhaftigkeit seines rezeptiven Bewußtseins abhängig.

Die assoziative Tätigkeit des Bewußtseins ist unmöglich ohne die entsprechende Einsicht in den Kontext und ohne das entsprechende Verstehen einzelner seiner Inhalte und ihrer Beziehungen. Derjenige, dem aus welchen Gründen auch immer einzelne Inhalte des Kontextes unzugänglich bleiben, wird die Ironie dann nicht verstehen können, wenn es nötig ist, gerade diese Inhalte in Beziehung mit dem Textsinn zu bringen. Daher kommt es oft zu Mißverständnissen, wenn der Verfasser etwas für klar und allgemeinbekannt hält, was den Lesern, oder einer bestimmten Art von Lesern, weder klar noch bekannt ist. Die Leser ihrerseits können ebenso etwas darunter verstehen, was indes der Verfasser nicht gemeint hat, und demnach den vom Standpunkt des Verfassers nichtironischen Text ironisch auffassen, oder aber einen vom Standpunkt des Verfassers ironischen Text – ohne Ironie. Daher wird, wie schon hervorgehoben wurde, die Analyse verläßlicher, wenn man vom Gesichtspunkt des Textes selbst ausgeht bzw. von demjenigen, was sinnhaft aus ihm hervorgeht, wenn er an und für sich genommen wird und mit einem Sinn, der so weit als möglich gesichert ist.

Die Trägheit des rezeptiven Bewußtseins kann die Ursache dafür sein, daß der bedeutungsrelevante, der Ironie eigentümliche Faktor der Nichtübereinstimmung des semantischen Materials von Text und Kontext nicht intentional realisiert wird, obwohl es im Kontext bewandert ist. Ungenügende Aufmerksamkeit beim Verstehen, das Nichtvorhandensein einer entsprechenden assoziativen Lebhaftigkeit oder allzu große Kompliziertheit der möglichen Beziehungen des semantischen Materials (aus denen eine nur fein und unauffällig angedeutete Ironie hervorgehen kann), all dies kann das Erscheinen der Ironie im Verstehen vereiteln, obwohl der den Text Verstehende sonst über die Inhalte des Kontextes, die darin eine Rolle spielen, informiert ist. Zusätzliche Hinweise oder Erinnerungen können manchmal zum Erkennen des ironischen Phänomens führen, das, dank dieser zusätzlichen Anregungen, auf einmal im Verstehen auftaucht – die semantisch destruktive Wirkung des Faktors der Nichtübereinstimmung wird sozusagen nachträglich in der Konstituierung des Textsinnes realisiert. Und doch beeinflußt das Fehlen der Spontaneität in der entsprechenden Verbindung des semantischen Materials von Text und Kontext wesentlich die Beteiligung des Faktors der ironischen Störung des wortwörtlichen Textsinnes bei der Konstituierung des Sinnes, und zumal gefährdet es mögliche Begleitwirkungen einer solchen Störung, etwa das Lachen oder einen besonderen ästhetischen Effekt des künstlerischen Textes. Die Spontaneität des Wahmehmens der für das Erscheinen der Ironie nötigen Beziehungen des semantischen Materials von Text und Kontext ist einer der wichtigsten Faktoren ihres Entstehens, Erscheinens und Wirkens im Verstehen und Deuten.

Ein Kontext, in dem und dank dem ein Text ironisch zu verstehen ist, kann textuell und nichttextuell sein. Aufgrund dieser Grundeinteilung sind viele und verschiedenartige Einteilungen der Beziehungen bzw. Beziehungsarten des semantischen Materials von Text und Kontext möglich.

Der nicht-textuelle Kontext muß nicht notwendig die reale "Situation" sein, in der oder in bezug auf die das Verstehen des ironischen Textes, der Ironie im Text, geschieht. Auch deckt sich der nichttextuelle Kontext in diesem Sinne nicht notwendig mit der Referentialsphäre des Textes.

Das Verhältnis des Textes, dessen Sinn ironisch ist, zum textuellen Kontext, der durch seinen Druck das Erscheinen der Ironie für das rezeptive Bewußtsein beeinflußt, ist ein Verhältnis von Tatsachen gleichen Ranges. Der Text kann Teil eines breiteren textuellen Ganzen sein, innerhalb dessen er als ironischer Brennpunkt erscheint, der durch dieses Ganze vorbedingt ist und aus dem er als ironisch hervorgegangen ist. In einem solchen Fall hängt es einzig von der normalen Tätigkeit des rezeptiven Bewußtseins, das durch die Bedeutungseinheiten des Textes und deren Organisation bestimmt ist, und vom Grade der Aufmerksamkeit ab, ob sich das ironische Phänomen im Verstehen konstituiert und auf welche Weise es sichtbar wird. Dabei wird vorausgesetzt, daß der Text in allen seinen Teilen und auch als Ganzes für das betreffende rezeptive Bewußtsein verständlich ist. Mit anderen Worten, das Verstehen des Textes und das Verstehen des Kontextes stellen einen gleichartigen Prozeß dar – der Text ist gleichsam sein eigener Kontext: das Ganze ist nämlich der Kontext für die einzelnen Teile, in denen die Ironie erscheint. Alles, was nötig ist, um das entsprechende semantische Material in einen Zusammenhang zu bringen, aus dem die Ironie hervorgehen kann, wird von diesem Prozeß umfaßt. Die Grundlage des für das Erscheinen der Ironie notwendigen kontextuellen Informationsgrades ist einheitlich und homogen. Wenn das Verstehen der Ironie nur das Verstehen des Textganzen auf entsprechende Weise voraussetzt, genügt es, das Ganze der "Welt", die der Text durch seine Bedeutungseinheiten herstellt, durch das Verstehen (und eventuell inneres Wahrnehmen) zu umfassen. Der für die Ironie nötige kontextuelle Druck ist in einem solchen Fall ein semantischer Druck der einen Teile des Textes auf die anderen oder auf nur einen bestimmten Teil des Textes als ironischen Brennpunkt.

Im Prinzip gilt dasselbe für das Verhältnis eines Textes zu anderen Texten als einzelnen und unabhängigen Ganzheiten, die den "Kon-Text" bilden. Obwohl das Verhältnis zwischen Texten nicht so homogen ist wie jenes zwischen einzelnen Teilen ein und desselben Textes, gibt es im Verstehen des Textes in einem solchen textuellen Kontext keinen Hiatus, der ein simultanes Begreifen seiner Intention, der Intention (oder Intentionen) des Kontextes und des selbständigen semantischen Faktors ihrer Nichtübereinstimmung verhindern würde.

Anders verhält es sich, wenn es sich um einen ironischen Text in einem nichttextuellen Kontext handelt. Was wirkt auf das semantische Material des Textes und auf dessen Verkettung in den Text ein, und wie geschieht das, wenn dieser ironisch im Hinblick auf die außertextuelle Situation oder überhaupt auf außertextuelle Inhalte aufzufassen ist? Zwei Fälle können unterschieden werden: der erstere, wenn sich der Text selbst auf irgendeine Situation bezieht oder beansprucht zu beziehen (etwa dadurch, daß er die Wahrheit über sie mitteilt oder sie symbolisiert usw.), und der zweite, wenn es sich um einen sogenannten fiktionalen Text handelt, dessen durch die Bedeutungseinheiten hergestellten "Welt" keine andere Region des Seienden entspricht (etwa die reale Welt, die "Welt" der schon vorhandenen Kultur u.a.).

Wie schon gesagt, erscheint ein Text, der aufgrund seines nichttextuellen Kontextes ironisch ist, häufiger als gesprochener denn als geschriebener Text. Die schon durchgeführte Abgrenzung vom Diskurs und geschriebenen Schöpfungen wie auch die aus dieser Unterscheidung hervorgehenden Folgen sind in bezug auf die semantische Seite des Problems auch weiterhin in diesen Ausführungen im Auge zu behalten.

Offenkundig kann auf das semantische Material des Textes sein nicht-textueller, also heterogener Umkreis nicht unmittelbar wirken; zwischen dem Text und einem solchen "Kontext" kann es zur ironischen Verschränkung einzig dann kommen, wenn eine Bedeutungsberührug, aus welcher der Faktor der Nichtübereinstimmung hervorgeht, begründet hergestellt werden kann. Falls eine solche Berührung unmöglich oder, obwohl im Prinzip möglich, im aktuellen Verstehen nicht hergestellt ist, bleiben Text und Kontext intentional indifferent, unverschränkt im rezeptiven Bewußtsein, – und ohne ihre gegenseitige Vermittlung gibt es keine Ironie. Da es sich im Falle eines Textes im nichttextuellen Kontext um heterogene Quellen des Sinnes handelt, ist die Rolle des rezeptiven Bewußtseins anders als im vorherigen Fall. Um nämlich den Sinn von Text und Kontext verbinden zu können, ist es unumgänglich, daß sich der Sinn des Kontextes in diesem Bewußtsein zunächst überhaupt als Sinn konstituiert, da der nichttextuelle Kontext (etwa die Situation) an und für sich keine bedeutungsrelevante Entität ist; damit, mit anderen Worten, die Nichtübereinstimmung des semantischen Materials von Text und Kontext zu einem selbständigen, mitkonstitutiven Faktor der Sinnbildung des ironischen Textes wird, ist es unumgänglich, daß das rezeptive Bewußtsein den nichttextuellen Kontext in semantisches Material "verarbeitet" bzw. in etwas dem Bedeutungsinhalt des Textes Analoges. Parallel mit dem Verstehen des Textes "übersetzt" das rezeptive Bewußtsein die Situation bzw. den nichttextuellen Kontext überhaupt in einen "Sinn", damit dieser dann, als sein intentional aktiver Inhalt, einen entsprechenden Druck auf den semantischen Textinhalt ausüben und ihn ironisch machen kann. Von der Rolle des Subjekts, um dessen rezeptives Bewußtsein es sich hier handelt, von seiner Fähigkeit, den nichttextuellen Kontext sinnhaft zu engagieren, und von seiner relativen Selbständigkeit dabei war schon die Rede.

Die erwähnte Selbständigkeit äußert sich in zwei Aspekten: den Sinn eines nichttextuellen Kontextes kann das rezeptive Bewußtsein durch eigene Aktivität auf eine besondere Weise konstituieren, gerade damit es durch Verbindung mit dem semantischen Material des Textes zur charakteristischen ironischen Sinnverschiebung kommt, oder im Gegenteil derart, daß der Text, gestellt in einen auf diese Weise gedeuteten Kontext, nicht ironisch aufgefaßt wird. Also auch ohne die sogenannten "Signale" in der Referentialsphäre wie sie sonst so beliebt sind in Schriften, die die Ironie zu erklären bestrebt sind – und obwohl es nicht darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß der Text im konkreten außertextuellen Kontext mit Vorbehalt aufzufassen ist, unter ironischer Suspension, kann das rezeptive Bewußtsein aus dem Kontext jenen Sinn "herausziehen", der in der Verbindung mit dem Textsinn diesen Text ironisch macht. Ebenso kann, wenn der Sinn des Kontextes verhältnismäßig klar ist und sich als der "eigentliche" aufdrängt, das rezeptive Bewußtsein in diesem Kontext etwas anderes sehen, den sich "aufdrängenden" Sinn übersehen, so daß für dieses Bewußtsein auch im Text die Ironie nicht erscheint.

Den Sinn eines nichtkontextuellen Kontextes zu finden, heißt immer in hohem Maße auch, einem solchen Kontext den Sinn beizulegen, jedenfalls weit mehr, als wenn es sich um einen Text und dessen Verstehen und Deuten handelt. Wie man eine Situation deutet, sie in einen Sinn "verarbeitet" (der sich dann auch mit dem Sinn eines Textes verschränken kann), hängt ganz von den Situationsfaktoren ab, von der Lage des Verstehenden in ihnen, von den Perspektiven, in denen sich ihm diese Faktoren zeigen, aber auch von den Modellen, nach denen er diese Faktoren mißt, vergleicht, verbindet..., also von etwas, das für diese Situation selbst ein Apriori ist.

So wie im Verstehen des Textsinnes können auch in der "Übersetzung" einer Situation in einen Sinn gewisse Aspekte der Zensur des rezeptiven Feldes bewirken, daß die betreffende Situation auf eine besondere Weise gedeutet wird, gemäß den Inhalten und Werten, die dieses Feld ausmachen. Ähnlich wie im Fall des Übersehens eines sonst – unabhängig von einer solchen Zensur – klaren und ersichtlichen Textsinnes erklärt auch das Übersehen jenes Sinnes der Situation, der sich als "einziger" und "eigentlicher" jedem aufdrängt, der nicht unter der Herrschaft dieser Zensur steht, in vielem, woher die "Blindheit" und das übermäßig beharrliche Verbleiben bei einem Verständnis von Text, Kontext und deren Verhältnissen rührt, das das Erscheinen der ironischen Relativierung nicht zuläßt.

Die Heteronomie der Sphären des Textes und des außertextuellen Kontextes erklärt also unter anderem auch, warum derselbe Text von einem rezeptiven Bewußtsein unter ironischer Suspension aufgefaßt wird und von einem anderen nicht. Dies ist, wie ersichtlich, nicht ausschließlich die Folge verschiedener kontextueller Informatonsgrade oder der Unterschiede in der assoziativen Lebhaftigkeit. Das Verstehen der Ironie durch das eine und das Nichtverstehen durch ein anderes rezeptives Bewußtsein stammt auch von ihren verschieden ausgerichteten, oft auch verschieden vorherbestimmten Aktivitäten bei der Konstituierung des Sinnes eines nichttextuellen Kontextes, des Sinnes, den diese Subjekte des Verstehens als eigene Derivation mit dem Sinn des betreffenden Textes konfrontieren oder verschränken.

Zwischen dem Verstehen des Textes und der Verbindung seines Sinnes mit dem Sinn des nichttextuellen Kontextes besteht also eine Zwischenphase: die Homogenisierung der Sphären des Textes und der Situation auf einer Ebene des "Sinnes", auf der es überhaupt erst zur Wechselwirkung des semantischen Materials kommen kann. Diese Homogenisierung ist das Ergebnis eines besonderen, dritten Elementes der intentionalen Operationen des rezeptiven Bewußtseins beim Verstehen des Textes im nichttextuellen Kontext. Der Sinn eines solchen Kontextes kann selbstverständlich nicht auf dieselbe Weise gesichert werden, wie dies bei dem Textsinn möglich ist. Aber gewisse Regulationsformen bestehen auch hier. Sie zeigen sich und wirken in den Modellen, nach denen die Faktoren einzelner Situationen verbunden und gedeutet werden. Solche Modelle werden – immer auch in Abhängigkeit von der Position des Subjekts des rezeptiven Bewußtseins in der Situation – durch verschiedene Inhalte – mythische, religiöse (etwa rituelle), ideologische, philosophische, wissenschaftliche, juristische Tatsachen der alltäglichen Erfahrung in einzelnen Zeiten usw. – bestimmt. Die Mannigfaltigkeit der möglichen Situationen übertrifft immer unübersehbar die bestehenden üblichen Formen einer solchen Regulation.

Eine auch nur einigermaßen sorgsame und eingehende Analyse der Ironie konfrontiert uns mit der Unzulänglichkeit ihrer rhetorischen Bestimmung als bloße Umstülpung des Sinnes des Gesprochenen oder Geschriebenen. Der Druck, den im Verstehen der Kontext auf den Text ausübt, hat eigentlich sehr selten einfach das Umstülpen des Sinnes zur Folge. Es handelt sich hierbei um eine theoretische Möglichkeit, die fast nie in reinem Zustand realisiert wird. Selbst in den einfachsten Fällen, wenn sowohl der Text als auch die Intention seines Verfassers ganz klar sind, wird die Verbindung mit dem Sinn des Kontextes nur selten zur Verselbständigung eines solchen semantischen Ergänzungsfaktors führen, der aus der Nichtübereinstimmung von Text und Kontext stammt, so daß der Sinn A gerade und genau zu einem Nicht-A wird. Jemandem ironisch zurufen "Haudegen!" bedeutet zwar "Du bist kein Haudegen!", "Du bist nicht tapfer!", "Feigling!" u.ä. Aber was von all diesem denn auch da bestehen gewisse Unterschiede – und ob nur dieses gemeint ist, kann erst dann beantwortet werden, wenn man weiß, woher überhaupt das ironische und nicht wortwörtliche Verstehen des Ausrufs "Haudegen!" kommt. Die Einsicht in den Kontext, der dies "zur Kenntnis gibt", ist jedoch nie allumfassend und endgültig. Mit jeder Änderung, Erweiterung oder Vertiefung dieser Einsicht wird im Prinzip eine immer neue Verbindung des semantischen Materials des Kontextes mit der wortwörtlichen Bedeutung jenes "Haudegen!" möglich oder auch die Entdeckung neuen semantisch relevanten Materials, das den kontextuellen Druck stärkt, schwächt oder in eine andere Richtung lenkt. Es ist unmöglich, alle denkbaren Arten der Bedeutungsberührungen des semantischen Materials von Text und Kontext und so auch die Arten und Effekte des kontextuellen Drucks theoretisch einzuteilen. Daher rühren, wie schon erwähnt, auch die Schwierigkeiten, ein Beispiel für das Verstehen eines Textes im nichttextuellen Kontext zu analysieren, denn damit der Druck eines solchen Kontextes analysiert werden kann, muß er selbst im voraus in der Analyse verbalisiert, und das bedeutet: schon gedeutet sein. Die Situation, die im Prinzip sinnhaft unendlich, unerschöpflich ist, wird so den Erfordernissen der Analyse angepaßt. Das Problem liegt jedoch darin, daß es die Aufgabe der Analyse ist, vor aller Verbalisierung und unabhängig von ihr gerade diese Unerschöpflichkeit der konkreten Situation in ihrer "Aufgeschlossenheit" zu zeigen – was, wenn es sich um eine konkrete Situation, um eine bestimmte Gruppe von verschiedenen Umständen handelt unmöglich ist. Dies wird erst dann möglich, wenn man weiß und ausspricht, um welche und was für eine Situation es sich handelt; dann jedoch ist die Verbalisierung schon vollzogen.

Folglich können das nichtironische "Feigling!" und das ironische "Haudegen!" schwerlich jemals bedeutungsmäßig etwas völlig gleiches sein, weil sich das Verstehen dieses "Feigling!" nach dem semantischen Inhalt des Gesagten, des unmittelbar sprachlich Gegenwärtigen richtet, während sich im ironischen "Haudegen!" in das Verstehen auch der Kontext des Aussagens einmischt, der "stillschweigend" etwas mitteilt, was nicht in der Unmittelbarkeit jenes "Feigling!" wirken kann. Sogar dann jedoch, wenn man, semantisch betrachtet, das A – Nicht-A – Modell annehmen würde, blieben die stilistischen und eventuell ästhetischen Unterschiede in jedem Fall bestehen. Und die Funktion der Ironie ist nicht nur von der ironischen Umstülpung bzw. Verschiebung des Sinnes abhängig, sondern auch von den Unterschieden auf diesen anderen Ebenen des Mitteilens und Verstehens.

 

2. Der ironische Sinn des Textes

Eine vollständigere Bestimmung des Phänomens der Ironie erhält man, wenn die Folgen der eben analysierten Verschränkung des semantischen Materials von Text und Kontext bestimmt werden.

Wenn der Kontext einen Druck auf den Textsinn ausübt und das Verstehen von der Trasse der Wortwörtlichkeit auf eine Bahn lenkt, die durch alle dabei erkannten und erfaßten relevanten Faktoren bestimmt ist, besteht das Ins-Schwanken-Bringen des Textsinnes (das für das verstehende Bewußtsein in einer im Verstehen momentan entstandenen Leere geschieht) eigentlich im Zurückdrängen dieses Sinnes, das sich, im äußersten Fall, der die Rhetorik interessiert und der den durch ihre Definitionen der Ironie wehenden Sinn bestimmt, in eine – unausgesagte – Verneinung des durch den Text Formulierten verwandelt, also in die Umstülpung des Sinnes in seinen Gegensatz ohne Änderung im Text selbst. Das "Zurücktreten" des Sinnes unter dem Druck des Kontextes wird an irgendeinem "Teilstrich" vor der völligen Negation aufgehalten: der Faktor der Nichtübereinstimmung von Text und Kontext, der, semantisch verselbständigt, im Verstehen und Deuten des Textsinnes mitwirkt, verneint nicht, er lenkt vielmehr den Textsinn ab und erweitert ihn, wenn er auf diese Weise und im Namen einer solchen Nichtübereinstimmung aufgefaßt wird.

Dieses Zurückdrängen bis zur Umstülpung, das Ins-Schwanken-Bringen bis zur Verneinung wird dadurch realisiert, daß der kontextuelle Bedeutungsdruck entweder die Existenz oder die Eigenschaften oder die Werte des durch die Bedeutungseinheiten des Textes Gestifteten oder desjenigen, worauf der Text hinweist, untergräbt. Einer solchen Untergrabung ist am häufigsten der Wert des durch die Bedeutung Gestifteten oder Intendierten ausgesetzt, nicht selten aber auch der Wert kombiniert mit einer Eigenschaft des Textinhalts oder mit der bloßen Existenz dieses Inhalts. Daher sind die ironischen Effekte oft vom Lachen begleitet, das im Zusammenhang mit der Ent-thronisierung der Werte bzw. mit den sinnhaften Nichtübereinstimmungen und unerwarteten Widersprüchen zwischen Text und Kontext, aus denen diese Entthronisierung erfolgt, steht.

Der Charakter des Lachens, das sich an die Ironie anschließt, kann nicht im voraus bestimmt werden, da die Bedeutungsgrundlage, auf der es entsteht, von den nicht im voraus berechenbaren Bedeutungsberührungen von Text und Kontext bestimmt wird. Von dem verschiedenen semantischen Material und der Art, wie es im konkreten Verstehen verbunden ist, also von der Verbindung von Text und Kontext in der assoziativen Tätigkeit des verstehenden Bewußtseins hängt es ab, ob es zum Lachen überhaupt kommt und ob es, wenn es dazu kommt, heiter oder bitter, bissig oder wohlwollend, aggressiv oder verhalten, herzlich oder tückisch, bösartig oder gutmütig, ob es ein donnernder Ausbruch oder ein nur angedeutetes Lächeln sein wird. Die Gelegenheit, ein Lachen, von dem das Verstehen der Ironie eventuell begleitet wird, zu prüfen und seine Eigenschaften zu bestimmen, bietet nur die Analyse bestimmter, konkreter Beispiele nebst einer möglichst genauen Einsicht in die Sinnmöglichkeiten des Textes und des Kontextes, in denen dieses Lachen als ironisch erscheint. Dabei sind der Grad und die Ausrichtung der Untergrabung der im Text gegenwärtigen Werte von besonderer Bedeutung, sowie die Tragweite dieser Untergrabung in bezug auf den Sinn des Textganzen.

Dasselbe gilt auch für die eventuelle ästhetische Funktion der Ironie. Ob die Ironie ein Faktor von ästhetischer Bedeutung für den Text ist, kann nicht prinzipiell beurteilt werden. Es gibt Texte, die dank der Ironie besondere Werte erhalten oder sogar erst einen ästhetischen Status gewinnen. Jedoch nur die Analyse konkreter Texte und der Gründe für die Ironie in ihnen ermöglicht die Wertung dieses Phänomens vom ästhetischen Standpunkt aus. Die Untergrabung von Existenz, Eigenschaften oder Werten des Textinhalts, zu der es durch die Wirkung semantisch verselbständigter Faktoren der Nichtübereinstimmung des Textes und des Kontextes, in dem dieser zu verstehen ist, kommt, erstreckt sich manchmal auf das Textganze (Ironie als "Figur") und bestimmt dieses Ganze wesentlich mit. So kann z.B. ein Roman als Ganzes ironisch sein, wobei seine Teile, als einzelne genommen, dies nicht sein müssen. Je nachdem, in bezug auf welche Inhalte er ironisch wird am häufigsten sind es kulturelle oder historische Tatsachen; in einzelnen Fällen der Parodie jedoch, die auch Elemente der Ironie einbeschließt, oft auch ein anderer Text – rufen diese Untergrabungen des Sinnes des Ganzen und sein Zurückweichen auf die Bahn der ironischen Nichtwortwörtlichkeit konkrete Wirkungen hervor, durch die dieses Werk gerade auch als ironisch erkannt wird.

Es ist klar, daß ein ironischer Text, zumal ein künstlerischer, als Ganzes nicht etwas seiner wortwörtlichen Aussage Entgegengesetztes bedeuten kann, schon darum, weil ein solches Ganzes auch nie einen eindeutigen Sinn hat, der auf eine endgültige und für jeden gleiche Formel reduziert werden könnte. Daher gibt es auch keinen eindeutigen Gegensatz, der klar und für alle sichtbar einer solchen Formel entsprechen würde. Gerade mit Rücksicht auf das Moment des Ironischen muß der Textsinn in der Deutung dargelegt werden, die im Spiel der Wortwörtlichkeit und der Nichtwortwörtlichkeit von der Einsicht in dasjenige ausgeht, was vom Textinhalt durch den kontextuellen Druck in Frage gestellt wird (Existenz, Eigenschaften oder Werte dieses Inhalts), und ferner davon, welche Bahn im Verstehen aus der Verschränkung des semantischen Materials hervorgeht und was beim Bewegen auf dieser Bahn aus dem Umstand, daß gerade diese Elemente gerade auf diese Weise sinnhaft ins Schwanken gebracht oder vielleicht sogar bestritten werden, hervorgeht. Dann kann auch die Frage gestellt werden, welchen Zweck dies hat. Die Deutung eines ironischen Textes kommt also zu der Frage nach dem Zweck der Ironie im Text erst dann, wenn die Ironie als Bedeutungsphänomen konkret erfaßt ist. Was es bedeutet, daß ein bestimmter Text als Ganzes ironisch ist, wird erst dann verstanden, wenn die ironische Bedeutung dieses Textes verstanden ist. Obwohl es auf den ersten Blick scheinen mag, daß es sich gerade entgegengesetzt verhält, beruhen der Zweck der Ironie und das Deuten der Gründe ihres Bestehens in einem konkreten Fall auf dem Verstehen der Ironie im gegebenen Text oder Diskurs.

Die Untergrabung der Existenz, der Eigenschaften oder Werte auf einem begrenzten Segment, wodurch ein ironischer Brennpunkt geschaffen wird, beschränkt sich sinnhaft nicht auf dieses Segment – das Vorhandensein einer solchen Ironie wirkt auf das Verstehen des Ganzen ein, und dies muß beim Deuten berücksichtigt werden. Dies gilt zumal, wenn im Textganzen mehrere solcher Brennpunkte gebildet werden, dank ein und demselben Spiel von Text und Kontext oder dank ihrer verschiedenen semantischen Verschränkungen und Berührungen. Es kommt vor, daß die betreffenden Untergrabungen einander stärken oder gegenseitig ihre Richtung verändern – zumal im Dialog, wenn auf Ironie mit Ironie erwidert wird, was oft den Sinn des Dialoges ungemein kompliziert und nie endgültig faßbar macht; oder aber es geht aus verschiedenen intentionalen Wechselwirkungen einzelner ironischer Brennpunkte eine Unsicherheit des Ganzen hervor, und zwar so, daß der Text durch einen Kontext, dessen Druck einzelne ironische Brennpunkte bildet und der mit dem Textganzen keine unmittelbare Bedeutungsberührung hat, ironisch wird. Ein solcher Fall stellt unter anderem auch eine Illustration der wechselseitigen Verbindung von Teilen des Textes dar; obwohl nur einige dieser Teile mit einem einzelnen Kontext in für die Ironie bedeutungsrelevante Verhältnisse treten können, "erfaßt" die Ironie den ganzen Text. Die "äußeren" Beziehungen mit dem Kontext und die "inneren" mit dem Textganzen, innerhalb dessen sich das Segment mit dem ironischen Brennpunkt befindet, stellen ein besonderes Problem für das Verstehen und Deuten dar; bei ihrer Analyse ist es wesentlich, den Anteil der einen und der anderen an der Konstituierung des Textsinnes, am Prozeß ihres gemeinsamen und gleichzeitigen intentionalen Wirkens im Verstehen, abzusondern. In einer solchen Analyse spielt die Konzentration auf die "Objektivierung" im Sinne Ingardens beim Verstehen gerade die Hauptrolle. Eine unterschiedliche Objektivierung in diesem Sinne kann auch dazu führen, daß der sonst mit Ironie aufgefaßte Text wortwörtlich verstanden wird, obwohl die kontextuellen Verbindungen und Berührungen mit dem semantischen Material des Textes auf dieselbe ironische Weise verstanden werden.

Die Untergrabung der Werte des Textinhalts durch Ironie kann auch als eine neue, zusätzliche Wertung dieses Inhalts betrachtet werden. Dabei muß die Zurückdrängung des Sinnes, in dessen Auffassung sich der Wert bzw. der Wertaspekt des Textinhalts konstituiert, nicht notwendig zu seiner Geringschätzung führen. Die Geringschätzung ist nur einer der zahlreichen Aspekte der ironischen Sinnverschiebung. Die Komplizierung der semantischen Situation durch Einmischung der mtentionalität des Kontextes in das Verstehen der Intention des Textes macht manchmal die zusätzliche ironische Wertung zu einer solchen Umwertung, daß man von einem Austausch der einen Werte durch andere bzw. andersartige ohne Veränderung des semantischen Textmaterials sprechen kann, und nicht einfach von Verminderung oder Verneinung der Werte. Die Ironie kann freilich auch diese Funktion haben, d.h. geringschätzen und verneinen, zu Spott und Hohn dienen, und sie ist in einem solchen Dienst sehr wirksam. Jedoch spielt sie in gewissen andersartigen, komplizierten Fällen von intentionaler Verschränkung auch die Rolle jenes Faktors des Verstehens und Deutens, der an ein und demselben semantischen Textmaterial für einen andersartigen Blick als dem durch die Wortwörtlichkeit bestimmten auf das vom Text Gestiftete und durch ihn Intendierte den Raum öffnet. Mit anderen Worten, das Zusammenfügen des gesamten Bedeutungsmaterials des Textganzen in die interpretativen Strukturen, die aus dem Verstehen der Ironie hervorgehen oder sich auf sie stützen, – wird umfassender und schließt vollständiger alle Bedeutungsaspekte des Textes in die Deutung ein. Im Zusammenhang damit stellt dann die Ironie auch einen Faktor des Verstehens und Deutens dar, der eine besondere Möglichkeit für eine vorsichtigere und verhaltenere Deutung des Textganzen schafft, da der Wert des textuellen Inhalts irgendwie untergraben, erschüttert und ungewiß gemacht ist.

Besonders interessant und wichtig ist im Zusammenhang mit der Ironie das folgende Phänomen: das ironische Untergraben der Existenz oder der Eigenschaften des Textinhalts wird manchmal zu einem Untergraben der Werte, jedoch nicht derjenigen desselben Inhaltselements, dessen Existenz oder Eigenschaft in Frage gestellt wird, sondern derjenigen anderer Teile dieses Inhalts, die im Zusammenhang mit dem eben erwähnten seiner Elemente stehen, mag dieser im Verstehen unmittelbar wahrnehmbar oder erst im Deuten logisch herstellbar sein. Auf diese Weise führt die ironische Untergrabung der Werte manchmal zum Anzweifeln oder Relativieren einer Eigenschaft usw. Die ironische Umwertung im genannten Sinne wird in solchen Fällen mittelbar und komplizierter, weil sie oft auf nur sehr schwer faßbaren Bedeutungseffekten beruht, auf die beim Verstehen nur derjenige reagiert, der in den Sinn und Zweck des Textes sehr gut eingeweiht ist und der durch entsprechende Bildung vorbereitet ist, einen solchen Text wirklich zu verstehen, und der dabei sowohl über die Eigenschaften als auch über die Sinnpotentiale des Kontextes genauso gut informiert ist.

Die Übertragbarkeit der untergrabenden semantischen Wirkungen von einem Aspekt des sinnhaften Textinhalts (bzw. der durch ihn gestifteten "Welt") auf andere seiner Aspekte dann, wenn diese Wirkungen durch den semantischen Druck des Kontextes hervorgerufen werden, ist auf dieselbe Weise zu erklären wie die Möglichkeit, daß die Ironie von einem ironischen Brennpunkt aus sich auf andere Segmente des Textes, die an und für sich nicht unter dem Druck eines untergrabenden Kontextes stehen, ausweitet und manchmal sogar, wie schon gesagt, auch auf das Textganze. Der Textsinn entwickelt sich nämlich im Verstehen als etwas Ganzes, und im Verstehen gestaltet er sich ebenfalls zu einem Ganzen. Die Grenzen dieses Ganzen bilden daher den Rahmen, in dem das Spiel der intentionalen Wechselwirkungen und Bedeutungsänderungen stattfindet. Daß das in diesem Rahmen im Hinblick auf den Sinn Abgesonderte und von anderen Ganzheiten Getrennte trotz der Ausscheidbarkeit der einzelnen vom erwähnten Rahmen umfaßten Elemente "verschmolzen" oder "zusammengeflossen" ist, ermöglicht es, daß die Untergrabung der Werte eines Inhalts durch die Ironie auch eine Eigenschaft dieses Inhalts in Zweifel stellt, obwohl sie der Textaussage gemäß unzweifelhaft ist: mit anderen Worten, die Bedeutung, auf der diese Eigenschaft beruht, wird ins Schwanken gebracht, allerdings mittelbar, indem das Verstehen jener Bedeutung, nach welcher der Wert hergestellt und erkannt wird, ins Schwanken gebracht wird. Dabei sind, wie das Lesen ironischer Texte bezeugt, verschiedenste Kombinationen möglich: die Untergrabung der Existenz wird auf die Eigenschaften "übertragen", die Untergrabung der Werte auf die Existenz usw.

Die Kompliziertheit der Vermittlung dieser Art, die auch als mehrfache intentionale Brechung aufgefaßt werden kann, erklärt auch, wie in einzelnen Fällen das ironische Untergraben – mit dem Effekt einer mehr oder weniger weittragenden Negierung und dem Resultat der Übertragung semantischer Wirkungen von einem Aspekt des Sinninhalts auf einen anderen oder von einem Segment des Textes auf ein anderes – auch einer eigenartigen Bestätigung und Hervorhebung der Werte des Inhalts, der untergraben wird, dienen oder ihm sogar gewisse Werte beilegen kann, ohne irgendwelche neuen Bedeutungseinheiten hinzuzufügen oder die Struktur des Textes zu ändern. Freilich können diese "zusätzlichen" Werte nur in der Unsicherheit der Zweideutigkeit, die eine solche ironische Vermittlung begleitet, als Werte erscheinen, im Verstehen wirken und entsprechenden Widerhall bei dem Verstehenden hervorrufen. Der besondere Reiz, der gewisse Formen der Ironie schmückt, ihr eigentümlicher dem Humor verwandter Charme, ist hauptsächlich mit einem solchen Zuwachs von Werten des Inhalts des ironischen Textes verbunden, mit einem Zuwachs, der seinen Ursprung im Spiel des semantischen Materials und im Zusammenwirken der daraus hervorgegangenen intentionalen Untergrabungen hat. Die hier immer bestehende Mittelbarkeit bewirkt nicht, daß die ironische Untergrabung z.B. einer negativen Eigenschaft ipso facto, als "Negierung" von etwas Negativem, die Herstellung eines positiven Wertes oder einer Eigenschaft als Träger eines solchen Wertes bedeutet. Das Zusammenwirken intentionaler Untergrabungen hat nicht den Charakter logischer Schemata, noch hat es für das Resultat klar und genau bestimmt Werte bzw. einen Sinn, wie sie aus logischen Operationen hervorgehen würden. Die Ironie hat immer eine Aureole der Zweideutigkeit. Das betreffende Phänomen zeigt eigentlich ganz klar, daß die Ironie in den meisten Fällen in das Verstehen des Textes nicht eine nicht explizierte aber vorausgesetzte Auffassung hineinträgt, wie es die Formel "es-ist-nicht-so-wie-es-gesagt-ist" ausdrückt, sondern eher jene, die aus der Formel "es-ist-nicht-ganz-so", "vielleicht-ist-es-auch-nicht-so", "es-ist-so-aber-ohne-letzte-Verbindlichkeit" folgt... Die Modifikation des Sinnes im Einklang mit diesen Formeln ist von Mehrdeutigkeit begleitet; im Hervorrufen der untergrabenden Mehrdeutigkeit, dort wo es sie sonst nicht geben müßte, wenn man auf der Trasse des Sinnes bliebe, besteht eigentlich die Ironie.

Die Möglichkeit, die Effekte der Untergrabung der Existenz oder Eigenschaften des Inhalts auf den Wert von etwas anderem in derselben "Welt der Bedeutung" zu übertragen, weist – wenn man die vorherigen Behauptungen darüber vor Augen hat – auch auf den ontologischen Status dieser "Welt" hin. Das durch die Sprache Gestiftete und Zusammengefügte ist den Aktivitäten des Verstehens ausgesetzt und an diese Aktivitäten gebunden, wobei es den Status der "aktuellen Gegenwärtigkeit" einzig dank ihrer erhält. Als konkrete Schöpfungen betrachtet, hängt die "Welt der Bedeutung" gerade in ihrer Konkretheit von dieser ihrer Gebundenheit an das Verstehen ab, von der eigenen Aufgeschlossenheit für Operationen, die das Verstehen ausmachen. Die Ironie, die von der erwähnten Möglichkeit des "Übertragens" der untergrabenden Wirkungen zeugt, zeigt, daß in der "Welt der Bedeutung" eine Lebhaftigkeit und Beweglichkeit herrschen kann, die in der entsprechenden Referentialsphäre überhaupt nicht möglich ist. Das Verstehen der "Welt der Bedeutung" hat einen ganz anderen Einfluß auf diese "Welt" als das unmittelbare, sprachlich nicht vermittelte Verstehen der Referentialsphäre auf diese Sphäre.

Die "Welt der Bedeutung" eines Textes ist Änderungen unterworfen, deren Ursache im Wirken von Bedeutungsintentionen einer gesonderten "Welt der Bedeutung" liegt, die einem anderen Text oder einer in einen Sinn "übersetzten" Situation entspricht. Über Ironie, ironische Modifikation des Sinnes sprechen wir, wenn diese Änderungen durch den semantischen Faktor der Nichtübereinstimmung von textuellem und kontextuellem Sinn, die aus deren sinnhafter Verbindung hervorgegangen ist, hervorgerufen sind. Aber nicht nur, daß das Bestehen eines solchen Änderungsvermögens in der "Welt der Bedeutung" festgestellt werden muß; es besteht außerdem eine gegenseitige Anziehung der "Welten der Bedeutung". Unterschiedliches semantisches Material kann nicht, wenn es sich in einer bestimmten Konstellation befindet, "indifferent" gegeneinander bleiben, es muß sich vielmehr im Verstehen verschränken, und dann ist die der Ironie eigentümliche semantische Berührung von Text und Kontext nichts anderes als die Äußerung einer solchen gegenseitigen Anziehung unterschiedlichen semantischen Materials in und wegen seiner Nichtübereinstimmung.

Die angeführten Eigenschaften der Ironie bestimmen auch ihre Wirksamkeit im Verstehen. Der Sinn eines ironischen Textes ist genötigt, vor dem Druck eines semantischen Materials zurückzuweichen, wobei er sich mit Sinngehalten, mit denen er nicht übereinstimmen und in bezug auf die er zugleich nicht neutral bleiben kann, vereinigt und mischt; obwohl schwankend, ist er also doch nicht der intentionalen Selbstrealisation beraubt; gerade im Zurückweichen findet er seine Realisation. Daß der Textsinn sich im Verstehen intentional realisiert, indem er darin ohne die letzte intentionale Verbindlichkeit bleibt, ist gerade seine ironische Modifikation. In einigen Fällen ist die "Tätigkeit" des ironischen Sinnes im Bewußtsein und damit auch im Ganzen des Wesens des Verstehenden gerade als Negierung wirksamer, als sie dies mit Hilfe einer expliziten Negation sein könnte. Die Eindringlichkeit gewisser Formen des ironischen Spottes kann als Beispiel hierfür dienen. In einigen Fällen wiederum wird durch das ironische Ins-Schwanken-Bringen des Sinnes eine Unschlüssigkeit hervorgerufen, eine vage Andeutung, die in jedem Moment als widerrufbar erscheint, also ein zweideutiger Verzicht auf die Verbindlichkeit des Gesagten, der gerade als solcher aufzufassen ist. Die Wirksamkeit der "Tätigkeit" des ironischen Sinnes im rezeptiven Bewußtsein ist in diesem zweiten Fall von ganz anderer Art – der Text gebietet nämlich Zurückhaltung und Unschlüssigkeit beim Verstehen, da hier, im Unterschied zu der spöttischen und schmähenden Ironie, die keinen Zweifel über die untergrabenden und sogar zerstörenden Wirkungen des kontextuellen semantischen Druckes läßt, selbst auch das untergrabende Moment eines solchen Druckes durch bestimmte Eigenschaften des Kontextes oder der Intentionen des betreffenden Textes bekämpft oder beschränkt wird.

Eine Art von Wirksamkeit der "Tätigkeit" des ironischen Sinnes im rezeptiven Bewußtsein ist besonders herauszustellen. Das "Sich-versenken" in die Unfaßbarkeit der Dinge kann mit Schweigen, Stummheit, Verzicht auf irgendwelche sprachliche Artikulation enden. Da die Ironie im Zurückweichen durch die sinnhafte Erosion im Verstehen des Inhalts des Gesagten oder Geschriebenen wirkt, gelingt es in gewissen Fällen gerade dem ironischen Text, dem Verstehenden doch die Unfaßbarkeit, mit der sich der nach dem Sinn strebende Artikulationswille konfrontiert sieht, zu vermitteln, diese Unfaßbarkeit zugänglich, erkennbar, faßlich zu machen und sie – im Entziehen der Sinnhaftigkeit und im Losreißen der Welt vom "Übersetzen" und der "Übersetzbarkeit" in einen Sinn – sprachlich doch in dem Netz des Textes oder im Strom des Diskurses zu fangen und derart auf eigene, zweideutige Weise, etwas vom Geheimnis der Verschlossenheit und Unverbindbarkeit der Dinge und ihrer Verhältnisse zu einem Element des Verstehens und Deutens und damit auch der Selbstdeutung desjenigen, der einen derartigen ironischen Text liest oder hört, zu machen. In einem solchen Fall zeigt sich in der ironischen Sinnerosion gerade dieses Sträuben der Dinge, ihren Sinn von durch die Intentionalität bestimmten sprachlichen Schöpfungen zu bekommen, und dabei wird der Sinn solcher Schöpfungen doch gerade als ironischer im Hinblick auf den entsprechenden Kontext des Verstehens hergestellt. Eine solche Ironie erscheint immer in komplexen, bedeutungsverzweigten Schöpftingen und läßt sich am häufigsten im nicht minder komplexen und verzweigten, den Sinnfeinheiten zugewandten Deuten auffinden.

Die Ironie erscheint im angeführten Fall als eigenartiger Ausweg aus der Not, in die der Artikulationswille gerät, wenn er sich mit der Unmöglichkeit einer klar und bestimmt ausgerichteten Artikulation konfrontiert sieht oder sogar mit der Unmöglichkeit, ein sinnhaftes Sprachganzes zusammenzufügen, das den Sachverhalt trifft. Die Einsicht, daß vieles sich gegen einen bestimmten Sinn und eine Bestimmung überhaupt wehrt, selbst wenn der Prozeß des Bestimmens als eine nie endende Bemühung aufgefaßt wird, und auch keinen völligen, außerzeitlichen und dogmatisch aufgefaßten Erfolg beansprucht, hat manchmal Ironie zur Folge, die dann auch als Versuch, einer solchen Abwehr vorzubeugen, aufgefaßt werden kann: und zwar geschieht dies nicht durch Behauptungen, die ihre Bestimmungen gegen reale und mögliche Gegengründe schützen sollen, oder dadurch, daß in einigen Fällen zum Schutz des Sinnes eventuell die Logik herangezogen wird – mit Hinweis auch auf die skeptischen Überprüfungen oder Verwandlungen der "Wahrheit" über einen Sachverhalt, auf die es ankommt -, sondern gerade durch Aussagen, die, indem sie im Zusammenstoß der eigenen und der kontextuellen Intentionen in den Bereich zwischen "ist" und "ist nicht", "ja" und "nein" treten, aber, dabei den Bereich der Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit nicht verlassend sich selbst dem Verstehen und Deuten anbieten, um sich ihm zugleich auch zu entziehen: indem sie der Logik trotzt, was manchmal unumgänglich ist, artikuliert sich so in der Ironie die Unfaßbarkeit doch als Unfaßbarkeit, und zwar gerade in der ''Welt der Bedeutung''. Wozu eine solche Artikulation dienen kann und ob sie jeden befriedigen wird, sind besondere Fragen. An ihren Eigenschaften und Möglichkeiten jedoch ändert sich nichts, wenn jemand ihre möglichen Funktionen zurückweist oder negiert, daß solche Texte und Diskurse überhaupt irgendwann und irgendwie eine Rolle spielen könnten. – Ein ironischer Text dieser Art ist also dort wirksam, wo ein buchstäblicher, ''еrnster'' Text dies nicht ist noch sein kann, dort, wo ein nichironischer Text eigentlich nicht möglich ist.


Der untergrabene Sinn

1. Der Stein des Tantalus

Einige der hier behandelten Probleme werden wir an Beispielen betrachten. Im Zauberberg von Thomas Mann trifft der Leser auch auf diese Szene: der humanistisch außerordentlich gebildete, beredte und geistreiche Herr Settembrini tritt an den Tisch seines Zöglings, des nicht gerade immer gehorsamen "Schülers" Hans Castorp, an dem auch die ungebildete, gemeine, aufdringliche, Geschmacklosigkeiten und Zimperlichkeiten zugeneigte Frau Stöhr sitzt. (Schon aus ihrem Namen ahnt man etwas über sie.) Aus den vorangehenden Seiten des Romans weiß der Leser, daß Settembrini diese Person verachtet und aus dieser Verachtung keinen Hehl macht. An einer Stelle erklärt der italienische Humanist sogar, daß er überhaupt nicht wünscht, sein Gedächtnis auch nur mit ihrem Namen zu belästigen.

Daß Frau Stöhr in der "Welt" des Romans vorhanden ist, zeugt unter anderem auch davon, daß Krankheit und Geistigkeit nicht notwendig zusammengehen, wie es in den früheren Mannschen Werken fast ohne Ausnahme der Fall ist. Im Zauberberg sollen viele Erörterungen, oft Nietzsche ins Gedächtnis rufend, die aus dessen Schriften bekannten Oppositionen Geist-Krankheit und Stumpfsinn-Gesundheit in einem neuen Licht zeigen, um auf neue Weise beurteilt zu werden, und die Belehrungen Settembrüüs, meistens polemisch gegen Naphta gewendet, sollen erzieherisch auf Hans Castorp wirken, indem selbstverständlich die Gesundheit gepriesen wird.

Jeder Versuch von Frau Stöhr, sich in ein Gespräch über kulturelle Dinge einzumischen oder sich über kleinbürgerliches Schwatzen und Banalitäten zu erheben, endet katastrophal, wobei sie in einem komischen, manchmal traurig-peinlichen komischen Licht dargestellt wird. Es ist kein Wunder, daß Herr Settembrini für diese Person, die etwa Beethovens Werk "Erotika" nennt, keine Sympathie hegen kann. Sein abstoßendes Verhalten ihr gegenüber hat auch seinen tieferen Sinn, wenn man die Ideen über das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit, über Tod, Zeit und Fortschritt vor Augen hat, welche der Lehrer Castorps vertritt. Selber krank, ist der Italiener keineswegs gegen den Geist, weil er die Gesundheit und das Leben preist. Gerade seine Geistigkeit bildet ein wesentliches Element seines Porträts. In dieses komplexe Porträt fügt das Verhältnis zu Frau Stöhr einen zwar nicht so sehr hervorgehobenen Zug hinzu, der aber zweifelsohne zur Plastizität seiner Gestalt beiträgt.

Die erwähnte Szene zaubert Mann im Roman auf folgende Weise herbei:

"Ich bitte um Zutritt in diesen edlen Kreis", sagte er, indem er den Vettern die Hand schüttelte und die übrigen Personen mit einer Verbeugung umfaßte. "Dieser Bierbrauer dort drüben... von dem verzweiflungsvollen Anblick der Bierbrauerin zu schweigen. Aber dieser Herr Magnus, – soeben hat er einen völkerpsychologischen Vortrag gehalten. Wollen Sie hören? »Unser liebes Deutschland ist eine große Kaserne, gewiß. Aber es steckt viel Tüchtigkeit dahinter, und ich tausche unsere Gediegenheit für die Höflichkeit der andern nicht ein. Was hilft mir alle Höflichkeit, wenn ich vorn und hinten betrogen werde?« In diesem Stile. Ich bin am Rand meiner Kräfte. Dann sitzt da mir gegenüber ein armes Wesen mit Friedhofsrosen auf den Backen, eine alte Jungfer aus Siebenbürgen, die ohne Unterbrechung von ihrem »Schwager« spricht, einem Menschen, von dem niemand etwas weiß noch wissen will. Kurzum, ich kann nicht mehr, ich habe mich aus dem Staub gemacht."

"Fluchtartig haben Sie das Panier ergriffen", sagte Frau Stöhr; "das kann ich mir denken."

"Exakt!" rief Settembrini. "Das Panier! Ich sehe, hier weht ein anderer Wind, – kein Zweifel, ich bin vor die rechte Schmiede gekommen. Fluchtartig also ergriff ich es... Wer so seine Worte zu setzen wüßte! – Darf ich mich nach den Fortschritten Ihrer Gesundheit erkundigen, Frau Stöhr?" Es war entsetzlich, wie Frau Stöhr sich zierte. "Großer Gott", sagte sie, "es ist immer dasselbe, der Herr wissen ja selbst. Man tut zwei Schritte vorwärts und drei zurück, – hat man fünf Monate abgesessen, so kommt der Alte und legt einem ein halbes Jahr zu. Ach, es sind Tantalusqualen. Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein..."

"Oh, das ist schön von Ihnen! Sie gönnen dem armen Tantalus endlich einige Abwechslung! Sie lassen ihn austauschweise einmal den berühmten Marmor wälzen! Das nenne ich wahre Herzensgüte. Aber wie ist es, Madame, es gehen geheimnisvolle Dinge mit Ihnen vor."[1 ]

Und Herr Settembrini fährt mit seinen Neckereien und Hetzereien fort...

Jedermann wird gleich sagen, daß Settembrini, zumal mit seiner Erklärung "Das nenne ich wahre Herzensgüte" ironisch gegen Frau Stöhr ist. Tatsächlich jedermann? Frau Stöhr selbst, wie aus dem weiteren Text des Romans zu ersehen ist, begreift es nicht so und reagiert erst auf die folgenden, ihren Gedanken und Gefühlen näheren und klareren Provokationen, die sich nicht mehr auf "Tantalus" und "seine Qualen" beziehen oder ihre Ausdrucksweise betreffen. Es wird damit gerechnet, daß der Leser die Settembrinische Ironie begreifen wird. Begreifen wird sie jedoch nur derjenige Leser, der ein Wissen über etwas besitzt, wovon nirgends im ganzen Roman die Rede war. Der Kontext des Ganzen des Romans reicht nicht hin, die Settembrinische Ironie zu verstehen. Der Leser nämlich, der auch selbst keinen Unterschied zwischen den Qualen des Tantalus und den vergeblichen Bemühungen des Sisyphus macht – und es ist zu befürchten, daß die Zahl solcher Leser nicht ganz belanglos ist –, kann den Sinn der Settembrinischen Aussage nicht begreifen, auch nicht den Sinn der ganzen Szene, was allerdings nicht bedeutet, daß ein solcher Leser diese Aussage und das Ganze dieser Szene überhaupt nicht verstehen wird. Da es ihm unmöglich ist, den ironischen Sinn dessen, was Settembrini sagt, zu begreifen, versteht er doch den buchstäblichen Sinn, im Zusammenhang mit welchem die ironische Abweichung und Verschiebung des Sinnes überhaupt erst möglich ist. Der Sinn der Settembrinischen Aussage bliebt nicht ohne jeden Effekt im Bewußtsein des Lesers, auch wenn dieser nicht imstande ist, jenen mittelbar anwesenden, echten ironischen Sinn "herauszulesen". Dieser bescheidenere Effekt ist auf eigene Art gerade in Übereinstimmung mit der Intention des Textes, er entspricht ihr sogar "zu sehr", insofern das Verstehen sich nur auf der Sinntrasse bewegt.

Den Leser, der aufmerksam liest, aber vom Sisyphus-Mythos nichts weiß, kann es wundern, weshalb Settembrini auf einmal erklärt, es handle sich im Fall von Frau Stöhr um "wahre Herzensgüte", und wie dies zu verstehen ist, wenn man doch weiß, was er sonst eigentlich über sie denkt und welche Einstellung er zu ihr hat. Wenn er vorher Fehler und Verwirrung beim Gebrauch von Idiomen in den Ausdrücken des "Verständnisses" dieser Patientin bemerkt, die sie für angebracht hält, Settembrini gegenüber zu äußern, weil er von ungenügend feinen und interessanten Leuten umkreist ist, wird der Leser in der Billigung und den Frau Stöhr entgegengebrachten Komplimenten des Italieners eine Nichtübereinstimmung empfinden, die ihn zwingt, schon diese Worte Settembrinis ironisch aufzufassen. Aber die Kenntnis des sprachlichen Codes, die es ermöglicht, diese Nichtübereinstimmung wahrzunehmen und die Ironie zu verstehen, genügt an und für sich nicht, um zu verstehen, worin die Ironie besteht, wenn das Gespräch auf Tantalus und seine Qualen übergeht, solange man nicht den entsprechenden mythologischen Inhalt vor Augen hat. Die Ironie des Settembrinischen Diskurses wird in diesem Fall im Verstehen unterbrochen, obwohl sie sich in der Entwicklung des Gesprächs de facto erweitert. Die Hilflosigkeit von Frau Stöhr, wenn es um die Idiome geht, ist ein besonderer und getrennter Grund, Settembrinis Worte ironisch aufzufassen, im Zusammenhang mit ihrer Hilflosigkeit in der Mythologie. Erst die Wahrnehmung dieses letzteren in ihrem Sprechen entwickelt die ironischen Möglichkeiten des Dialogs und den Sinn der Szene im Ganzen bis zu Ende, indem sie dem Leser zeigt, mit wem er es zu tun hat, und zwar nicht nur bei Frau Stöhr, sondern auch bei ihrem Gesprächspartner. Wie immer er die Formulierung über die "wahre Herzensgüte" deutet, wenn er die Ironie in dieser Formulierung nicht versteht, wird der Leser gezwungen sein, der Szene, die sich vor ihm abspielt, irgendeinen Sinn aufzudrängen, so daß er diese Worte als einen kleinen Fehler in der Motivierung des Autors der ganzen Szene, als eine Höflichkeit Settembrinis oder vielleicht als eine Unaufrichtigkeit verstehen wird; am wahrscheinlichsten ist jedoch, daß er dieser Aussage bei einem solchen Lesen keine größere Aufmerksamkeit schenken und, mitgerissen durch das Ganze des Dialogs und die Komik des Versuchs von Frau Stöhr, sich mit Settembrini in seiner ein bißchen affektierten Zurückweisung, das Niveau der ihn umgebenden Leute anzunehmen, zu solidarisieren, über die ungenügende Begründung des Kommentares Settembrinis hinweggehen wird. Freilich gibt erst das Verstehen der Ironie auch in diesen Kommentaren einen wahren Genuß beim Lesen – die Untergrabung des Sinnes der Aussage über das "Gönnen" und die "wahre Herzensgüte" verbindet sich mit der Untergrabung des Sinnes der Aussage "Ich sehe, hier weht ein anderer Wind" – "kein Zweifel, ich bin vor die wahre Schmiede gekommen", "wer so seine Worte zu setzen wüßte": eine Untergrabung verstärkt die andere.

Der Leser, der sich erst nachträglich über den Unterschied zwischen dem Tantalus- und dem Sisyphus-Mythos informiert oder der Kenntnisse darüber besitzt, die aber aus dem Vordergrund der Aufmerksamkeit beim Lesen zurückgedrängt sind (so daß dieser Unterschied, das Denken dieses Unterschiedes nicht spontan in das Verständnis eingeschaltet wird, sondern eventuell erst nachträglich erinnert beim Nachdenken darüber, um was es sich eigentlich in Anbetracht des Bedeutungsmaterials handelt), ein solcher Leser kann die Komik des Szene im Ganzen und die von einem gewissen heiteren Entgegenkommen begleitete Spottlust Settembrinis genauso wenig erleben, wie er die Stimmung, die solcherart durch das Gespräch in Castorps Anwesenheit herrscht, richtig einschätzen kann, während der Leser, der spontan die Ironie in den Worten des Humanisten und Pädagogen versteht, hierzu imstande sein wird.

Im Verstehen eines mythologisch ungebildeten oder eventuell assoziativ nicht aktiven, obwohl unterrichteten Lesers wird nicht bloß der Sinn des Textes verfehlt. Es wird der Sinn des Textes in dem ihm angemessenen Kontext verfehlt, und diesen Kontext bilden der Tantalus- und der SisyphusMythos. Es handelt sich also um einen Kontext, der dem Text des Romans nicht angehört. Der Leser, der die Ironie Settembrinis spontan versteht, verbindet den Sinn der Aussage von Frau Stöhr: "Ach, es sind Tantalusqualen. Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein..." mit diesem Kontext. In dieser Verbindung erscheint sogleich, als Druck des Kontextes, ein Faktor der Nichtübereinstimmung der erwähnten Aussage und der Kenntnis des Unterschiedes zwischen diesen beiden Mythen. Indem er sich in das Verständnis einschaltet, zeigt dieser Faktor, daß mit der Aussage von Frau Stöhr etwas nicht in Ordnung ist, und untergräbt den Sinn dieser Aussage, der beim buchstäblichen Verstehen gelten würde, sei es, weil das "Schieben" nach "oben" den Leser nicht zum Sisyphus-Mythos führt, oder weil er, wenn er diesen Teil des Romantextes liest, an den Unterschied zwischen diesen Mythen einfach nicht denkt.

Frau Stöhr will sich geistreich ausdrücken und ihre Kultur zeigen. Es ist kein Zufall, daß sie eine solche Bemühung gerade im Gespräch mit Settembrini zeigt, dessen breite Kultur allen bekannt ist: die Adressiertheit der Aussage ist, wie Bachtin mit Recht sagt, ein wesentliches Element ihres Sinnes. Aber anstatt auf die Vergeblichkeit des Verbleibens im Sanatorium, das keine Genesung bringt, oder wenigstens auf die Vergeblichkeit der Bestimmung der Fristen hinzuweisen, entscheidet sie sich, diesen "Gedanken" mittels der mythologischen Formel mitzuteilen, die der Vergeblichkeit einen allgemeineren Sinn geben und ihre Aussage an Bedeutung bereichern soll: das Verbleiben im Sanatorium und ein solches Heilverfahren, möchte sie sagen, ist eine Sisyphus-Arbeit. Damit kann jedoch ihr Artikulationswille nicht zurechtkommen. Das "Schieben" nach "oben" muß an und für sich nicht den Sisyphus-Mythos bedeuten. Aber Frau Stöhr sagt nicht nur "Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein...", sie nennt es vielmehr auch Tantalus-Qualen. Da auch das vergebliche Stein-Schieben des Sisyphus natürlich mit gewissen Qualen verbunden ist, nennt Frau Stöhr – da sie sich nun einmal in der Sphäre mythologischer Vergleiche befindet und nicht ganz damit zurechtkommt, was die eine oder die andere mythologische Erzählung enthält – diese Qualen Tantalus-Qualen und erzeugt sozusagen auf diese Weise durch ihre Aussage etwas wie den Stein des Tantalus. Die "Qualen" sind jener semantische Inhalt, der als spezifischer Berührungspunkt der Erzählung von Tantalus und der Erzählung von Sisyphus Frau Stöhr verwirrt und sie dazu verleitet, die Mythen zu verwechseln oder, mit anderen Worten, für ihren "Gedanken" ein nicht entsprechendes semantisches Material als Mittel zu gebrauchen. Diese Verwechslung darf aber nicht unbemerkt bleiben; der Text selbst verweist den Leser auf die mythologische Sphäre und gebietet ihm, daß er jedenfalls jenes "Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein..." als Hinweis auf den Sisyphus-Mythos, auf die Vergeblichkeit des Aufenthalts im Sanatorium, da dies eine Sisyphus-Arbeit ist usw., auffaßt. "Tantalus" ist hier ganz überflüssig, wenn man nur sagen will, daß das Heilverfahren vergeblich ist oder daß die Fristen unvorhersehbar sind und daß es vergeblich ist, daran zu glauben. Er ist jedoch unumgänglich, wenn man eine ironische Untergrabung der Existenz der "Tantalusqualen" aus der Aussage von Frau Stöhr – eine Untergrabung, zu der es wirklich kommt – wünscht, denn in diesem Sinne gibt es keine "Tantalus-Qualen", und es kann sie nicht geben in dem Kontext, in dem die Aussage von Frau Stöhr zu verstehen ist. "Tantalus" ist ebenfalls unumgänglich, wenn man eine ironische Untergrabung der Eigenschaft des Schiebens wünscht, also der Vergeblichkeit – ebenfalls anwesend in der Aussage von Frau Stöhr, denn auf diese Weise kann man über die Vergeblichkeit des Aufenthalts am Zauberberg wirklich nichts Ernsthaftes sagen. Schließlich wäre ohne Tantalus die ironische Untergrabung des Wertes, aber auch der bloßen Existenz der Bildung dieser Patientin und mittelbar des Wertes ihrer ganzen Persönlichkeit nicht möglich. Zwar werden die Ungebildetheit, Verwirrtheit und Dummheit von Frau Stöhr an weiteren Stellen und auf mehrere Weisen mitgeteilt. Aber die Untergrabung des Wertes ihrer geistigen Fähigkeiten durch Komplimente ihrer Ausdrucksweise, ihrer wahren Herzensgüte u.ä. ist auf besondere Weise im Verstehen wirksam: in der Objektivierung, die zur Wahrnehmung dieser Gestalt im Ganzen führt, und auch in der Wahrnehmung zusätzlicher Qualitäten der Beziehungen zwischen den Gestalten und der Eigenschaften der "Welt" auf dem "Berg". Würde ohne Ironie einfach gesagt, daß Frau Stöhr etwa ein Dummkopf ist, anstatt daß dies auf solch mittelbare Weise dem unterrichteten Leser zur Kenntnis gegeben wird, gäbe es diese zusätzlichen Qualitäten als Bedeutungsinhalt nicht und gewisse Aspekte der "Welt" des Werkes könnten nicht erscheinen. Die Ironie dient dieser zur Buchstäblichkeit des Textes hinzutretenden und in künstlerischer Hinsicht besonders erfolgreichen Darstellung der Formen und der Art der Manifestation der Gemeinheit und Dummheit von Frau Stöhr. Der Motivationslauf des Komplexes der Verbindung von Geist und Krankheit wird auf diese Weise durch eine Reihe von impliziten Bedeutungen, als durch eine Reihe interpretativer Möglichkeiten, bereichert.

Die mittelbare ironische Negation in den aufgezählten Untergrabungen der Elemente von Frau Stöhrs Aussagen kommt daher, daß ihr Tantalus, der Tantalus ihrer Aussage, entweder nicht Tantalus ist oder nichts nach oben schieben kann. Aus der im Text vorgenommenen Verbindung der Tantalus-Qualen mit dem vergeblichen Bemühen des Sisyphus, die in seinem Stein symbolisiert sind, kann kein "Stein des Tantalus" in der Bedeutungssphäre konstituiert werden; so etwas gibt es nicht, es sei denn auf der buchstäblichen Ebene der Aussage von Frau Stöhr, wo er sich doch, als logische Folge dieser Aussage, konstituiert. Es ist zu bemerken, daß der "Tantalus-Stein" als etwas, was aus den so aufgefaßten "Tantalus-Qualen" hervorgeht, nur in der "Bedeutungswelt", die diesem Abschnitt des Zauberbergs entspricht, möglich ist – nur dieser Abschnitt nämlich ist auch in dem Kontext, den die erwähnten Mythen bilden, zu verstehen, während das Ganze des Zauberbergs damit eigentlich nichts zu tun hat. Die intentionale Wirkung der Ironie in diesem Abschnitt – als ironischem Brennpunkt – wird eventuell in ein breiteres Ganzes nur vermittels der Gestalten Settembrini und Frau Stöhr übertragen, und zwar vor allem, wie gesagt, im Prozeß der Objektivierung, und dann als mögliches Element der Bedeutungsakkumulation im Laufe der Lektüre, in dem Sinne, wie diese Begriffe bei Ingarden bzw. Mukarovsky definiert sind.

Dieses "nicht", das im Bewußtsein des Lesers anwesend sein soll, obwohl es sich im Text des Romans nirgends befindet, das also im Verstehen des Textes aus der Unterscheidung, die die Bildung des Lesers ermöglicht und die der Roman selbst nicht bietet, hinzukommen soll, ist der dritte selbständige Faktor des Verstehens dieses Abschnitts, neben dem Verstehen desjenigen, was Frau Stöhr sagt und dem Verständnis der Erzählungen von Tantalus und Sisyphus, die ihre Aussage ins Bewußtsein ruft, bzw. mit dem gleichzeitigen Verstehen der Verschiedenheiten beider Erzählungen. Die ironische Untergrabung erstreckt sich auch auf die Aussage Settembrinis, denn der Humanist bestätigt und billigt die Nichtübereinstimmung in der Aussage von Frau Stöhr, geht über jenes "nicht", das das Nichtbestehen des "Tantalus-Steins" bedeutet, hinweg und pflichtet demjenigen, was sie spricht, als etwas Glaubwürdigem bei, indem er das unmögliche intentionale Gebilde seiner Gesprächspartnerin annimmt. Alles, was man aus dem Gesamtkontext des Romans über Settembrini weiß, läßt keinen Zweifel daran zu, ob er dies ernsthaft tut oder nicht, ob er auch selbst denkt, daß es sich um Tantalus-Qualen handelt oder nicht. "Oh, das ist schön von Ihnen", "Sie lassen ihn austauschweise einmal den berühmten Marmor wälzen", "das nenne ich wahre Herzensgüte" – der Sinn aller dieser Aussagen ist ironisch untergraben. Die Bestätigung der Nichtübereinstimmung der Aussage von Frau Stöhr mit dem Kontext, der durch diese Aussage ins Bewußtsein des Lesers gerufen wird – was in Settembrinis Aussage besonders durch jenes "austauschweise einmal" beim "Wälzen" besonders unterstrichen wird – ist selbst schon in Nichtübereinstimmung mit der Unterscheidung von Tantalus und Sisyphus, die der Leser im außertextuellen Kontext spontan macht. Der kontextuelle Druck, der hier mehr durch den Text provoziert ist als daß er sich selbst aufdrängt, ändert deshalb auch den buchstäblichen Sinn der von Settembrini an Frau Stöhr gerichteten Komplimente. Es ist jedoch klar, daß das Ironische seiner Aussagen nicht die Umstülpung ihres Sinnes bedeutet, in dem Stil rhetorischer Definitionen. Settembrinis Worte bedeuten nicht: "Oh, das ist gräßlich von Ihnen" oder "das nenne ich wahre Herzensbosheit". – Der Sinn seiner Worte ist schwankend geworden, aber nicht bloß negiert oder umgestülpt; er weicht von der durch die Buchstäblichkeit bezeichneten Trasse ab auf eine Bahn, auf der – im gegebenen Kontext und dank diesem und solchem Kontext – er vor allem die Angemessenheit und dadurch auch den Wert der ganzen Idee von Frau Stöhr in Zweifel bringt, sich durch mythologische Formeln "äußern" zu sollen, ihren ganzen Versuch also, den Charakter ihrer Krankenexistenz (in dieser Heilanstalt, die dank dem komplexen System der ironisch-parodistischen Untergrabungen und Umstülpungen im Ganzen des Romans eigentlich der Ort des Todes ist) durch den Inhalt der Kultur zu vermitteln. Ganz besonders deutlich ist dies nach jenem: "Fluchtartig haben Sie das Panier ergriffen", das in vollem Einklang mit ihrer Kenntnis der Mythologie steht, wie auch in vollem Mißklang mit einer guten Ausdrucksweise. In Settembrinis Worten gibt es Elemente von Tadel durch Lob, wovon die Rhetorik oft spricht, aber was ein solcher Tadel wirklich bedeutet, worauf er sich bezieht und wie er erreicht wird, darüber kann erst aufgrund der Einsicht in die Verhältnisse des Textes und des konkreten Kontextes, die sich im Verstehen verschränken, etwas gesagt werden. Die Unhaltbarkeit und Sinnlosigkeit der Verbindung von Tantalus und Sisyphus bzw. die Verwechslung ihrer "Qualen" erstreckt sich durch ihre Wirkung als destabilisierender Faktor auf Settembrinis Sätze. Als solcher ändert er deren Sinn, wenn sie im konkreten Kontext zu einer Aussage werden, die auf eine bestimmte Situation ausgerichtet und gleichzeitig durch gewisse, in diesem Fall mythologische, Inhalte außerhalb des Textes des Romans mitbestimmt ist. Indem er Frau Stöhr aufgrund ihres Irrtums und Unwissens "Großmut" gegen Tantalus zuschreibt und dies als "wahre Herzensgüte" deutet, verweist Settembrini mehr auf diesen Irrtum und das Unwissen, als daß er die Herzensgüte durch die Behauptung, daß sie besteht, negiert. Die Destabilisierung des Sinnes seiner Aussage hat zur Folge, daß der Leser auf der Bahn des Verstehens, auf die ihn die Unterscheidung der betreffenden Mythen lenkt, diese Aussage etwa im Sinne von "Es wäre besser für Sie, sich nicht in Dinge einzumischen, von denen Sie nichts wissen" und "Das ist nichts für Sie und Ihresgleichen" deutet, wobei es auch klar ist, daß der Wunsch von Frau Stöhr, Eindruck zu machen, indem sie sogar seine Verachtung und seinen Spott über die anderen billigt, durch keine "wahre Herzensgüte" angeregt ist. Das Bestehen der "Herzensgüte", festgestellt in der buchstäblich genommenen Aussage Settembrinis, ist schon dadurch untergraben, daß der Grund des Vorkommens dieser "Herzensgüte" in der Aussage, deren Inhalt sie wird, in völliger Nichtübereinstimmung mit der Einsicht des Lesers wie auch Settembrinis ist, daß Frau Stöhr alles verwechselt hat. Selbst dann, wenn es irgendwie "austauschweise" wirklich möglich wäre, die Qualen des Tantalus mit denen des Sisyphus (ernsthaft) zu verwechseln, ist es eine große Frage, die wiederum auch vom Kontext abhängig ist, wieviel darin – im Hinblick auf dieses "austauschweise" – "wahre Güte" wäre. In diesem Kontext jedoch erscheint das "Das nenne ich wahre Herzensgüte" mit dieser besonderen Betonung, im Zusammenklang mit den "Lauten", welche "mitteilen": "Diese Frau weiß nicht, was sie spricht" und "Settembrini weiß, daß sie nicht weiß, was sie spricht" – so daß also seine Aussage spöttisch ist.

Die Ironie ist durch ihre untergrabende Natur oft vom Spott begleitet. Welchen Zweck der Spott, welche Funktion die Ironie hat, ist jedoch nicht ohne weiteres klar. In der konkreten Situation, so wie sie der Roman angibt, kann Settembrinis Ironie die Funktion haben, eine geringschätzige und verächtliche, obzwar nicht auch böswillige Einstellung Settembrinis überhaupt gegen Frau Stöhr und ihr ähnliche Menschen auszudrücken. Die Funktion der analysierten Szene liegt auch darin, Settembrinis Gestalt vor den Augen des Lesers weiterzuentwickeln, und zwar als Gestalt eines geistreichen, in der Konversation gewandten und auf seine Art distinguierten Menschen, als Gestalt eines Gentleman, der sich, auch wenn er spottet, hütet, durch eine offene und überflüssige Grobheit die "Dame" zu beleidigen – also eines luziden aber auch heiteren Menschen...

Eine solche Konstituierung der Gestalt Settembrinis macht ihn dem Leser sympathisch und begründet, durch das Ganze der geschilderten Situation, auch die Sympathie, die für den Humanisten allmählich bei Castorp entsteht. Nicht nur seine Ideen, auch die Persönlichkeit Settembrinis selbst bewirkt, daß Castorp, zwar oft mit Widerständen, mit Brummen oder ungenügendem und falschem Verstehen, viel Wesentliches in seinem Bildungsprozeß gerade von Settembrini übernimmt.

Für einen hinreichend aufmerksamen und assoziativ lebhaften Leser wird die Ironie aus der angeführten Szene auch einige hundert Seiten später einen Bedeutungsanteil haben, wenn es – nach dem Auseinandergehen in der "Walpurgisnacht" und nachdem Settembrini seinen pädagogischen Zorn wegen der Hingebung Castorps an die erotische Magie der Frau Chauchat geäußert hat, worin der Erzieher eine Verletzung aller Grundsätze, an denen ihm gelegen war, gesehen hatte – wieder zu einer Annäherung zwischen dem Schüler und dem Lehrer kommt. Den ersten Schritt in dieser Wiederherstellung des Kontaktes macht Settembrini, indem er Castorp anspricht – "wenn auch nur im Vorüberstreifen und in Form mythologischer Anspielungen, zu deren Verständnis abendländische Bildung gehörte",[2] wie der Erzähler sagt. Bei dieser Gelegenheit versteht auch Castorp selbst nicht genau, was ihm Settembrini sagt, und bleibt einigermaßen verworren, aber auch erfreut, daß der humanistische Rhetor wieder freundlicher zu ihm tritt. Die ironische Relativierung – zu der es durch die Erinnerung an die abendländische Bildung von seiten des Erzählers kommt, die für das Verständnis der Settembrinischen tadelnd-versöhnlichen Bemerkung, die die Versöhnung bedeutet, nötig ist, bezieht sich nun, im Zusammenhang mit allen Motivationsgeflechten und ironischen Untergrabungen darin, auch auf Castorp, aber auch auf Settembrini selbst und seine Rolle in Castorps Leben, wobei sie die humoristische Perspektive vervollkommnet, in der sich zeigt, wie in Castorp Leidenschaft und Bildung, auf die Settembrini durch die Zurückdrängung der ersten und Förderung der zweiten zu wirken versucht, sich mischen, in Konflikt geraten und unterstützen.

 

2. Der petit bourgeois möchte leben

In einem Essay schreibt Eugène Ionesco:

''Lorsque j'écris, je ne me pose pas le problème de savoir si »je fais de l'avant-garde ou non«, si je suis ou non »un auteur d'avant-garde«. Je tâche de dire comment le monde m'apparaît, ce qu'il me semble être, le plus honnêtement possible, sons souci de propagande, sans intention de diriger les consciences des contemporains, je tâche d'être témoin objectif dans ma subjectivité. Puisque j'écris pour le théâtre je me préoccupe seulement de personnifier, d'incarner un sens comique et tragique, à la fois, de la réalité. D'ailleurs, cela ne constitue pas un difficile problème: la mise en scène demas êtres imaginaires – et que je tiens pour vrais, aussi vrais qu'imaginaires – s'effectue naturellement ou pas du tout. Vouloir être de l'avant-garde avant d'écrire, ne pas vouloir en être, refuser ou choisir une avant-garde c'est, pour un créateur, prendre les choses par le mauvais bout, c'est être de mauvaise foi. Je suis ce que je suis, c'est à prendre ou à laisser. Réussir à être soi-meme, c'est là la véritable prise de conscience. Et c'est en étant tout à fait soi-même que l'on a des chances d'être aussi les autres.

J'habitais, étant gosse, près du square de Vaugirard. Je me souviens, – il y a si longtemps! – de la rue mal éclairée, un soir d'automne ou d'hiver: ma mère me tenait par la main, j'avais peur, une de ces peurs d'enfant; nous faisions les courses pour le repas du soir. Sur les trottoirs, des silhouettes sombres s'agitaient, des gens qui se pressaient: ombres fantomatiques, hallusiantes. Quand cette image de la nie revit dans la mémoire, quand je pense que presque tous ces gens sont morts aujourd'hui, tout me paralit ombre, évanescence, en effect. Je suis pris de vertige, d'angoisse. C'est bien cela, le monde: un désert ou des ombres moribondes. Les révolutions peuvent-elles y changer quoi que ce soit? Les tyrans aussi bien que les illuminés qui se sont manifestés depuis, sont morts aussi. Le monde est autre chose encore; je n'avais pas dépassé l'âge de l'enfance lorsque, dès mon arrivée dans mon second pays, je pus voir un homme assez jeune, grand et fort, s'acharner sur un vieillard, à coups de pied et de poing. Ces deux-là aussi sont morts, depuis.

Je n'ai pas d'autres images du monde, en dehors de celles exprimament l'évanescence et la dureté, la vanité et la colère, le néant ou la haine hideuse, inutile. C'est ainsi que l'existence a continué de m'apparaître. Tout n'a fait que confirmer ce que j'avais vu, ce que j'avais compris dans mon enfance: fureurs vaines et sordides, cris soudan étouffés par la silence, ombre s'engloutissant, à jamais, dans la nuit. Qu'ai-je à dire d'autre?

C'est bien banal, évidemment. Cela a été dit des milliers de fois. Mais un enfant se l'était dit avant de l'avoir appris chez tant d'autres qui n'ont donc fait que confirmer la vision enfantine. Il m'importe peu de savoir si cette vision est ou n'est pas surréaliste, naturaliste, expressionniste, décadente, romantique ou socialiste. Il me suffit de penser qu'elle est on ne peut plus réaliste, c'est dans l'irréel que plongent les racines de la réalité. Est-ce que nous ne mourrons pas?

Cette vue du monde et de la mort est petite-bourgeoise, dira-t-on. Est-ce que les enfants sont déjâ petits-bourgeois? Peut-être. Cette vision du monde, je la retrouve chez une quantité de »petits-bourgois« de tous les siècles; chez le petit-bourgois Salomon, qui était roi, cependant, chez le petit-bourgeois Bouddha, qui était prince; chez le petit-bourgeois Shakespeare, le petit-bourgeois saint Jean de la Croix et chez beaucoup d'autres petits-bourgeois encore: saints, paysans, citadins, philosophes, croyants, athées, etc...''[3]

''Wenn ich schreibe, ist es mir gleichgültig, ob ich »avantgardistisch schreibe oder nicht«. Es ist mir gleichgültig, ob ich ein »Autor der Avantgarde« bin oder nicht. Ich versuche, möglichst ehrlich zu sagen, wie mir die Welt vorkommt. Was sie für mich zu sein scheint. Ich kümmere mich nicht um Propaganda. Ich will die Gewissen der Zeitgenossen nicht lenken. Ich versuche, in meiner Subjektivität ein objektiver Zeuge zu sein. Weil ich für das Theater schreibe, bin ich ausschließlich damit beschäftigt, eine zugleich komische und tragische Seite der Realität in Figuren umzusetzen und Gestalt werden zu lassen. Was im übrigen kein schwieriges Problem aufwirft: die Inszenierung meiner Phantasiegebilde, die ich für wahr halte, für ebenso wahr wie phantastisch, geschieht ganz selbstverständlich oder überhaupt nicht. Der Künstler, der, bevor er schreibt, zur Avantgarde oder nicht dazugehören will oder eine Avantgarde erwählt oder ablehnt, packt die Dinge von der falschen Seite her an. Er steht außerhalb der eigenen Wahrheit und damit dessen, worauf es ankommt. Er ist unaufrichtig. Ich bin, wie ich bin. Man soll mich akzeptieren oder in Ruhe lassen. Die Ehrlichkeit des Gewissens verlangt, daß jeder er selber ist. Wenn jeder ganz er selber ist, hat jeder die Möglichkeit, auch die anderen zu sein. Als Kind wohnte ich in der Nähe des Square de Vaugirard. Ich erinnere mich – wie lange ist das schon her! – an die schlecht beleuchtete Straße eines Herbst- oder Winterabends. Meine Mutter hielt mich an der Hand, ich hatte Furcht, wie ein Kind sich eben fürchtet. Wir kauften für das Abendessen ein. Auf den Fußwegen bewegten sich dunkle Silhouetten hin und her, Leute, die es eilig hatten, geisterhafte, gespenstische Schatten. Wenn dieses Bild von der Straße in der Erinnerung wieder lebendig wird, wenn ich mir vorstelle, daß diese Leute fast alle heute tot sind, dann scheint mir alles schattenhaft, eine dahinschwindende Welt. Mir wird schwindelig vor Angst. Das ist sie wohl, die Welt: eine Wüste oder todkranke Schatten. Können Revolutionen irgend etwas daran ändern? Auch die Tyrannen und Heilsbringer von damals sind gestorben. Die Welt ist noch etwas anderes. Ich hatte das Kindesalter noch nicht hinter mir, als ich, in meiner zweiten Heimat [Rumänien – D. S.] ankommend, einen recht jungen Mann sah, der mit Fußtritten und Faustschlägen auf einen Greis losging. Auch diese beiden sind längst gestorben.

Ich habe keine anderen Vorstellungen von der Welt als die, die das Schwinden und die Dauer, die Eitelkeit und die Wut, das Nichts oder den widerlichen, sinnlosen Haß zum Inhalt haben. Das Leben ist mir immer so vorgekommen. Alles ist nur eine Bestätigung dessen gewesen, was ich während meiner Kindheit gesehen und verstanden habe: sinnlose und gierige Raserei, Schreie, die im Schweigen ersticken, und Schatten, die für immer die Nacht schluckt. Was habe ich anderes zu sagen.

Sicher, recht banal und schon Tausende von Malen gesagt. Aber ein Kind hatte es entdeckt, noch bevor es dies von so vielen anderen, die dann nur den kindlichen Eindruck bestätigt haben, lernte. Mir ist es ziemlich unwichtig zu wissen, ob dieser Eindruck surrealistisch, naturalistisch, expressionistisch, dekadent, romantisch oder sozialistisch ist. Mir genügt die Vorstellung, daß er nicht realistischer sein kann. Die Realität wurzelt im Irrealen. Sterben wir nicht?

Diese Sicht der Welt und des Todes ist kleinbürgerlich, wird man sagen. Sind Kinder bereits Kleinbürger? Vielleicht. Man findet diesen Eindruck von der Welt bei vielen »Kleinbürgern« aus allen Zeiten. Beim Kleinbürger Salomon, der zugleich König war, beim Kleinbürger Buddha, der ein Prinz war, beim Kleinbürger Shakespeare, beim Kleinbürger Johannes vom Kreuz und bei noch vielen anderen Kleinbürgern: Heiligen, Bauern, Städtern, Philosophen, Gläubigen, Atheisten usw.''[4]

Wenn man die Tatsache vor Augen hat, daß der Sinn des Textes sich beim Verstehen als etwas Ganzes entfaltet und daß seine Deutung ebenfalls ein Ganzes sein soll, dann stellt sich die Frage, wie folgender Teil des Textes zu verstehen ist: "Sind Kinder bereits Kleinbürger? Vielleicht". Gestattet Ionesco tatsächlich diese Voraussetzung, oder hat sein "vielleicht" einen anderen Sinn? Soll dieses "vielleicht" zeigen, daß man wirklich mit dem Gedanken rechnet, "diese Sicht der Welt" sei "kleinbürgerlich", oder soll es einen solchen Gesichtspunkt entkräften und geringschätzen lassen? Klar ist, daß Ionesco, indem er eine solche Möglichkeit scheinbar gestattet, eigentlich wünscht, den Einwand zu untergraben, seine vorher entfaltete Vision, die bis in die Kindheit reicht, sei die Frucht einer kleinbürgerlichen Weltanschauung. Aber warum sagt er dann nicht "ein Kind kann kein Kleinbürger sein", "es ist Unsinn, schon ein Kind zu einem Kleinbürger zu erklären" oder etwas Ähnliches, aus dem logisch folgen würde, daß das Erlebnis der Welt und des Todes, das ein Kind hat, keiner Einteilung nach solchen Maßstäben unterliegt, so daß auch der Vorwurf der kleinbürgerlichen Natur seines Standpunktes unbegründet ist? Wenn Ionesco nichts dementsprechendes sagt, sondern erklärt, das Kind sei "vielleicht" ein Kleinbürger, dann tut er dies, um einen besonderen Bedeutungseffekt der Ironie zu erzeugen, der deshalb auftritt, weil man nicht mit dem buchstäblichen Verstehen dieser Aussage rechnet: richtiger, die Ironie erscheint auf der stillschweigenden und im ersten Augenblick durch nichts bestätigten Voraussetzung, daß eine solche Beurteilung des kindlichen Erlebnisses sinnlos ist. Anstatt klar und explizit, soll der Gedanke über den kleinbürgerlichen Charakter der düsteren Bilder der allgemeinen Vergänglichkeit und des Todes, die sich im Text reihen, durch dieses "vielleicht" mittelbar bekämpft und der Inhalt dieses Gedankens sowie der Wert der Denkweise jenes "Jemand", dem er erscheinen kann, in Frage gestellt werden. Die Aussagen, die einen solchen Gedanken direkt bestritten, hätten im Ganzen des Textes einen andersartigen Sinn als den der ironischen Bestreitung. Eben in diesem Unterschied sieht Ionesco den Vorzug der im Text angewandten Strategie, bzw. er wünscht den Leser diesen Vorzug spüren zu lassen.

Selbst wenn im Text nach dem "vielleicht" nichts folgte, was die Überzeugungskraft und die Ernsthaftigkeit des vorher Gesagten, also seine intentionale Verbindlichkeit, die auf der Trasse wirkt, weiter erschüttern würde, müßte der Leser trotzdem die Schwankung des Sinnes der Aussagen verstehen, durch die nachgiebig gestattet wird, daß all dies "sicher recht banal und schon Tausende von Malen gesagt" ist, "vielleicht" auch die kleinbürgerliche Anschauung der Welt und des Todes. Die Suggestionskraft der vorhergehenden Schilderung ist in gewisser Nichtübereinstimmung mit dieser Nachgiebigkeit, die der Autor gleich danach im Text selbst betont, so daß im Verstehen des Ganzen des bisher Gelesenen, im Verstehen, das auch selbst ein kontinuierlicher Prozeß ist, ein Bedenken auftaucht, wie dies im Hinblick auf die negative Besetzung des Begriffs "Kleinbürger" einerseits und auf die vorhergehenden düster intonierten prägnanten Worte über den Tod andrerseits, die sich im Verstehen mit diesem Begriff konfrontieren, aufzufassen ist. Die "Nachgiebigkeit", die es gestattet, daß letzten Endes auch das Kind vielleicht ein Kleinbürger sein kann, wird auch ohne zusätzliche Anregungen in dieser Richtung in einem solchen Kontext mit Vorbehalt verstanden.

Der Text entfaltet sich indes weiter, indem er noch weitere Anregungen der ironischen Schwankung bringt, Ionesco genügt die Nichtübereinstimmung, die schon in der angeführten Konfrontation spürbar ist, nicht. Er wünscht das Bedenken im Verstehen zu stärken und zu kräftigen, so daß sich an das "vielleicht", durch welches gestattet wird, daß auch die Kinder eventuell "bereits Kleinbürger" sind, eine andere Kategorie von Beispielen, die die kleinbürgerliche Weltanschauung illustrieren sollen, anknüpft. Diese Beispiele haben aber nicht mehr den Status und das Gewicht einer persönlichen Erfahrung, sie verweisen auf objektive, im Prinzip jedem zugängliche Inhalte der Kultur – Religion, Literatur, Mythologie, Geschichte – deren Übereinstimmung, sogar deren tiefste Sinngleichheit mit dem persönlichen Erlebnis Ionescos ohne eingehendere Analyse und Vergleich, ohne Beweise oder wechselseitige interpretative Verbindung vorausgesetzt wird. Salomon, Buddha, Shakespeare und Johannes vom Kreuz als Kleinbürger zu proklamieren, ist selbstverständlich ganz unhaltbar. Das unausgesprochene "nicht", das aus der Einsicht hervorgeht, daß die genannten Persönlichkeiten weder Kleinbürger sind noch sein können, verselbständigt sich als ein besonderer Faktor des Verstehens und untergräbt den buchstäblichen Sinn der Worte Ionescos. Sie müssen mit Ironie verstanden werden, und die Wirkungen dieser Ironie verbreiten sich, mit besonderem Effekt, auch auf die Aussagen über den Tod und auf das Ganze des Textes. Besonders bedeutend sind im Verstehen und Deuten die Verbindung dieser Wirkungen mit dem Sinn jener Teile des Textes, die über die engagierte Literatur und über die Revolution sprechen, also die Verbindung mit dem Sinn der Aussage: "Ich versuche, möglichst ehrlich zu sagen, wie mir die Welt vorkommt. Was sie für mich zu sein scheint. Ich kümmere mich nicht um Propaganda. Ich will die Gewissen der Zeitgenossen nicht lenken. Ich versuche, in meiner Subjektivität ein objektiver Zeuge zu sein" und "Können Revolutionen irgend etwas daran ändern? Auch die Tyrannen und Heilsbringer von damals sind gestorben". Auf der Bahn, auf der sich das Bewußtsein desjenigen, der diesen Text versteht, wirklich bewegt, verändert die Ironie, die mit den "Kleinbürgern" Buddha, Shakespeare usw. verbunden ist, auch den Sinn dieser Aussagen. Es ist zu fragen, wie unumgänglich es für Ionesco war, daß er, wenn er sagt "man findet diesen Eindruck von der Welt bei vielen »Kleinbürgern«, das Wort "Kleinbürger" selbst unter Anführungszeichen stellt. Dieses Signal, sich von der Bedeutung dieses Wortes zu distanzieren, ist in hohem Maße überflüssig, und die Ironie würde im Ganzen gesehen mehr Effekt haben, wenn dieses Unter-Anführungszeichen-Stellen dem Leser überlassen bliebe. Dagegen ist Ionescos Maßnahme, das Wort "Kleinbürger" vor jedem Namen zu wiederholen, sehr erfolgreich. Diese Wiederholung hat nicht die Funktion, die Bedeutung jeder der genannten Persönlichkeiten näher zu bestimmen, denn wäre nur dies ihr Zweck, würde ein solches Insistieren sowohl grammatisch als auch stilistisch überflüssig sein. Die Auffälligkeit dieser Wiederholung stärkt aber den untergrabenden Druck des ironischen Faktors der Destabilisierung des Sinnes, da mit jedem folgenden Namen auf diese Weise die Nichtübereinstimmung bzw. die intentionale Realisation der Nichtübereinstimmung der buchstäblichen Bedeutung des Gesagten und des wirklichen Sachverhaltes, auf den das Gesagte als auf seinen Kontext hinweist, im Verstehen erneuert wird. Dasselbe gilt auch für das Hinzufügen der eigentlich überflüssigen Erklärungen "der [...] König war" und "der ein Prinz war", da diese Erklärungen überflüssig sind für den Leser, der den Text auf der Trasse seines Sinnes versteht und weiß, auf wen die einzelnen Namen hinweisen, aber sozusagen als Erinnerung "für jeden Fall", wer von ihnen was war, stärken sie die Diskrepanz zu der Qualifizierung "Kleinbürger". Die Hinzufügung dieser "Erklärungen", zumal jenes "Kleinbürger [...], der zugleich König war", verhindert ebenso, daß die eventuelle Trägheit des Bewußtseins des Verstehenden die Wirkung der Nichtübereinstimmung als Faktor des Verstehens mildert oder annulliert, wenn dieser Inhalt beim lebendigen Denken des Textsinnes in manchen Momenten nicht präsent ist, obwohl der Leser eigentlich über ihn informiert ist und ihn assoziativ in sein lebendiges Denken beim Lesen einschließen könnte. Mit allen diesen zusätzlichen Anregungen ist es also fast unmöglich, die Ironie zu übersehen und den Text wortwörtlich aufzufassen.

Der Leser kann in Ionescos Worten die Ironie außer acht lassen, wenn er überhaupt nicht weiß, wer Salomon, Buddha und Johannes vom Kreuz gewesen sind. Einen solchen Leser ist es nicht unmöglich sich vorzustellen, nur verstünde er auch den Sinn des Textes selbst nicht, geschweige denn die Ironie in ihm, solange er nicht zusätzliche Belehrungen bekäme (etwa im regelmäßigen Schulunterricht, in abendlichen Kursen oder wenigstens aus einer Enzyklopädie). Einem solchen Leser verschließt sich nicht nur der Aspekt des ironisch-zweideutigen Spiels, sondern auch der wortwörtliche Aspekt des Textes, seine Trasse.

Etwas anders verhält es sich, wenn der Leser zwar mehr oder minder weiß, wer die erwähnten Leute waren, aber kontextuell nicht ausreichend informiert ist, um imstande zu sein, mit entsprechender Konkretheit und spontan die Übereinstimmung der Behauptung Ionescos, die Vision der Welt und des Todes, die er selbst gewonnen und dargelegt habe, sei auch bei allen anderen dieser "Kleinbürger" zu finden, mit dem, was sie wirklich vertreten, gepredigt und geschrieben haben, aufzufassen. Hätten Salomon, Buddha, Shakespeare und Johannes vom Kreuz eine heiter-idyllische, vom Optimismus inspirierte Vision des Lebens herbeigezaubert und vertreten, ohne sich um die Anwesenheit des Todes im Leben zu kümmern, wäre der Sinn von Ionescos Worten freilich ganz anders, als er ist. Man muß über entsprechendes, sei es auch ganz allgemeines Wissen über ihre Ansichten verfügen, um Ionescos Ironie und die mit dieser Ironie verbundene und durch sie bekräftigte Ähnlichkeit seiner kindlichen Vision, die sich im Laufe des Lebens entfaltet und bestätigt hat, mit den Visionen der erwähnten "Kleinbürger" zu verstehen. Das Wissen über sie muß wenigstens einigermaßen präsent sein, im Bewußtsein unmittelbar wirksam und in einem Maße konkret, das es demjenigen, der den Text versteht, ermöglicht, spontan zu reagieren. Andernfalls kann man die Ironie nicht verstehen. Es genügt also, daß der Leser, sei es auch nur in allgemeinen Zügen, weiß, daß die Ansichten Salomons, Buddhas, Shakespeares und des Johannes vom Kreuz, so verschieden untereinander sie sind, alle durch den Gedanken des Todes und das Erleben der Welt als Eitelkeit geprägt sind, um in dem sich an Ionescos Text anschließenden Kontext deren Übereinstimmung mit demjenigen, was dieser Autor mitteilt, ebenso wahrzunehmen wie ihre Kollision mit der wiederholten Bezeichnung dieser Menschen als Kleinbürger. Das Verstehen und Deuten von Ionescos Text ist also bestimmt und gelenkt durch die Sinnlosigkeit der auf der Trasse liegenden Ansicht, daß auch schon das Kind ein Kleinbürger ist, und durch die Unhaltbarkeit der im Text dargelegten Behauptung, die Menschen, deren Geistesschöpfungen das Fundament der Zivilisation und Kultur der Erdkugel bestimmen, seien Kleinbürger. Diese Sinnlosigkeit und diese Nichtübereinstimmung sind die Bedeutungsquellen der Ironie im Text.

Es ist von Bedeutung, die Wertung (richtiger: die Umwertung) einiger Textinhalte wahrzunehmen, auf die sich die Ironie im analysierten Abschnitt nur mittelbar bezieht, also jener Abschnitte des Textes, auf die sich die intentionale Wirkung des ironischen Faktors der Negation erst durch den Umstand ausweitet, daß der Text als ein und dieselbe Sinneinheit monolithisch ist. Die ironischen Untergrabungen und Umdeutungen, die daraus hervorgehen, beschränken sich nicht streng auf den ironischen Brennpunkt, auf den ein kontextueller Druck wirkt.

Anstatt sich der Ironie zu bedienen, hätte Ionesco in eine Debatte mit bestimmten konkreten Ansichten über die kleinbürgerliche Auffassung vom Tode eintreten können, er hätte diese Ansichten mit entsprechenden begleitenden ideologischen Standpunkten über Gesellschaft, Geschichte und die Rolle der Kunst verbinden können, woraus dann auch die Möglichkeit gefolgt wäre, den kleinbürgerlichen Charakter des eigenen Erlebnisses zu bestreiten, wie auch den Wert der Literatur, die "die Gewissen der Zeitgenossen lenken" will, also den Wert der sogenannten engagierten Literatur, für die sich sonst gerade eine große Anzahl von Denkern der sozialen Revolution einsetzte; deshalb erscheinen all diese Themen nicht zufällig in Ionescos Text zusammen.

In einer solchen Debatte müßte sich Ionesco der Argumente bedienen, die dem bestrittenen Standpunkt angemessen wären. So müßte z.B. eine Auseinandersetzung mit Georg Lukács als dem Autor der Bücher Die Zerstörung der Vernunft und Existentialismus oder Marxismus erfolgen, in denen er gegen die sogenannte existentialistische Philosophie wettert, gegen ihre Besessenheit vom Tod und gegen die kleinbürgerliche Konterrevolution bzw. das konterrevolutionäre Kleinbürgertum, die der Meinung dieses ungarischen Marxisten zufolge "letzten Endes" hinter einer solchen Philosophie stehen; diese Auseinandersetzung müßte sich also in vielem von der Auseinandersetzung z.B. mit den Ansichten G. V. Plechanows unterscheiden und eine in hohem Maße andersartige Argumentation als jene enthalten, die in einer eventuellen kritischen Analyse der Ansichten dieses Nachfolgers von Engels anzuwenden wäre. Die Konfrontation mit der Lukácsschen Kritik der spätkapitalistischen, faschistischen, überhaupt bürgerlichen Ideologie, die – dessen Meinung zufolge – nur mit dem Mäntelchen der Philosophie umhüllt ist, verlangt selbstverständlich ein andersartiges argumentatives Verfahren als die Konfrontation mit Plechanows Ansichten über den bürgerlichen Individualismus und Egoismus, die in der Polemik gegen die religiösen Denker Minski und Mereschkowsky ausgeführt sind. Dort sagt Plechanow, daß der extreme Individualismus dazu führe, daß der Mensch zu der Frage nach seiner persönlichen Unsterblichkeit als der Hauptfrage der Existenz greife. Hierin zeige sich das wahre Kleinbürgertum des bürgerlichen Individualisten, des "satten Bürgers". Dem überbetonten Individualismus und dem kleinbürgerlichen Egoismus entgegengesetzt stehe das Gefühl der Freiheit, das durch die Erkenntnis der Einheit und der Verwandtschaft von Mensch und Natur hervorgerufen und nicht im mindesten durch den Gedanken des Todes entkräftet sei, ein unermeßlich helles, freudiges Gefühl. – Ernst Bloch hat die verschiedenen Beziehungen zum individuellen Tod tiefer analysiert, wobei er sich der Schwierigkeiten bewußt war, die diese, wie er sie selbst nannte, "stärkste Nicht-Utopie" in seiner philosophischen Bestrebung hervorruft, die vor allem der Hoffnung gewidmet war. Auch er versucht indes, diesen Schwierigkeiten im Rahmen seiner Überlegungen über die soziale Revolution, über die Befreiung der Menschheit im Kommunismus, beizukommen, indem er nicht vergißt, was hierbei am Ende doch problematisch bleibt, wenn der Tod thematisiert wird. Jede eventuelle Auseinandersetzung mit seinen Ideen müßte ebenfalls ihre Besonderheiten haben. Diese Ideen sind in Blochs Erörterungen über den "roten Helden" enthalten, der "klar, kalt, bewußt in das Nichts" geht,[5] indem er sein individuelles Bewußtsein durch das Klassenbewußtsein[6] überwindet ohne die Hoffnung, irgendwie aufzuerstehen. "Keine Idee im Sinn abstrakten Glaubens, sondern konkrete Gemeinschaft des Klassenbewußtseins, die kommunistische Sache selber hält hier also aufrecht, ohne Delirium, aber mit Stärke".[7] Der rote Held opfert sich, sagt Bloch, "im Dienst der unnachlaßlichen Freiheitstendenz".[8] Sein Wesen stellt sich dabei "weder individualistisch noch aber auch kollektiv-allgemein" dar, es hat "auch hier die individuell-kollektive Einheit: Solidarität in sich",[9] die auch die Solidarität mit den Opfern der Vergangenheit und den Siegern der Zukunft bedeutet. Jenes "Untötbare des revolutionär-solidarischen Bewußtseins" bewahrt und erhält jenes "Unsterbliche in der Person als das Unsterbliche ihrer besten Intentionen und Inhalte".[10] Jedoch stellt sich, wenn das Werk der sozialen Befreiung endlich gelingt, Blochs Meinung nach die Frage des natürlichen Todes, "wie immer auch hinausgeschoben",[11] auf noch ausdrücklichere Weise, aber jetzt im Kontext einer "kommunistischen Kosmologie". "Die Vermittlung mit dem Subjekt der Gesellschaft ist in der klassenlosen gelungen, jedoch das hypothetische Subjekt der Natur, woraus der Tod kommt, liegt auf einem anderen Feld, auf einem weiteren als dem des geglückten sozialen Einklangs."[12] Es gibt, für diesen Philosophen der Hoffnung, noch keine endgültige Antwort, weder eine positive noch eine negative, auf die Frage, wie unser Schicksal auf dieser Grenze des durch die menschliche Arbeit "noch unvermittelten Natursein[s]"[13] aussehen wird. Die Natur, sagt Bloch, kann das gefundene menschliche Wesen als die beste Frucht der Geschichte "in sich einschreinen, ja sie kann diese Frucht selber werden und muß sie nicht vernichten".[14]

Eine Diskussion mit den angeführten wie auch mit anderen, nicht angeführten Ansichten könnte offensichtlich interessant und fruchtbar sein. Aber Ionesco führt keine Diskussion. Ihm ist nur daran gelegen, sein Erlebnis unabhängig von ideologischen Implikationen zu bekräftigen und zu bezeugen, obwohl er nicht ganz neutral gegen sie ist. Er streitet nicht, sondern er stellt nur fest, daß "auch die Tyrannen und Heilsbringer von damals" gestorben sind. Die Ironie, die aus den Aussagen spricht, daß vielleicht auch die Kinder Kleinbürger sind und daß es auch solche Kleinbürger gibt wie Salomon, Buddha, Shakespeare und Johannes vom Kreuz, zeigt, daß Ionesco weder logische Auseinandersetzungen mit den erwähnten oder anderen, mehr oder minder miteinander verwandten Ideen über die soziale Revolution und die engagierte Kunst führen, noch etwas unmittelbar und unzweideutig beweisen will, aber diese Ironie zeigt auch, daß er durch seinen Text ein Verhältnis zu dem Komplex der mit diesem Thema verbundenen Fragen herstellen will, und zwar ein Verhältnis, das auch eine bestimmte Werteinstellung voraussetzt. Der vorausgesetzte Einwand des Kleinbürgertums wird sozusagen indirekt verworfen. Auch die Einschaltung der eigenen kindlichen Vision in eine Reihe von Standpunkten oder Visionen, die in ihrer tiefsten Schicht verwandt sind, und die Hervorhebung des Wertes dieser Vision in der Mittelbarkeit des ironischen Textes, mittels der Mittelbarkeit der Ironie, dient vor allem, da es sich um das Erlebnis eines Kindes handelt, zur zusätzlichen spezifischen Bewahrheitung ihrer Universalität und Zeitlosigkeit, die sich also dadurch an die unbezweifelbare Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit anschließen. Dabei bestärkt die Verbindung der Universalität des Pessimismus in der Kunst (wovon der ganze Text Ionescos spricht) mit der Ursprünglichkeit des persönlichen Erlebnisses die Verbindung, an der auch die ironische Entwertung des Einwandes der kleinbürgerlichen Natur dieses Pessimismus teilhat, nicht einen Standpunkt wie: der-Kleinbürger-möchte-leben-und-fürchtet-den-Tod, der auch gar nicht erwähnt wird, aber in das Verständnis dadurch einbezogen werden kann, daß seine Negation und Kritik ironisch verworfen werden. Die ironische Negierung bedeutet noch nicht die Annahme eines solchen Standpunkts oder seine positive Wertung, wie es dem logischen Schema entsprechen würde. Für die Ironie ist gerade die Abwesenheit eines klaren logischen Schematismus charakteristisch.

Im Spiel der expliziten und impliziten Äußerung des Textes und durch den Text zeigt sich die Ironie als nützlicher und auf eigene Art wirksamer Faktor in der semantischen Ökonomie des Textes. Ohne Erweiterung des Textes durch eine logische Argumentation wird die nicht angenommene oder bezweifelte Position bestritten oder wenigstens in Frage gestellt, wobei die relative Allgemeinheit und Unbestimmtheit, wie auch die der Ironie immer eigene Mittelbarkeit nicht die Überzeugungskraft verringern müssen, sondern sie im Gegenteil auch vergrößern können. Zwar beruht die auf diese Weise durch die Ironie erreichte Überzeugungskraft nicht auf der logischen Unbestreitbarkeit, auf einer Wahrheit, von der man glaubt, daß sie erreicht, gezeigt oder formuliert ist, sondern auf den vorausgesetzen Werten, die durch Anspielung ins rezeptive Bewußtsein gerufen werden. Der Vorzug einer solchen Überzeugungskraft liegt vor allem in der Ökonomie des verwendeten semantischen Materials, das in einem assoziativ lebhaften Bewußtsein und mit dessen Hilfe bei der Aktivierung der schon bekannten Inhalte wirkt. Durch die Ironie wird das unveränderte semantische Material mit einem neuen, sonst nicht bestehenden Sinn versehen. Der Effekt im Verstehen entsteht durch den intentionalen Zustrom auch jenes Nichtgesagten, Nichtgeschriebenen; er gründet also auf dem Ganzen verschiedener Inhalte, das der Leser beim Verstehen sinnhaft beleben kann. Je allseitiger, verfeinerter und tiefer die Kenntnisse des Lesers über Shakespeare oder Buddha sind, desto besser werden auch seine evokativen Möglichkeiten beim Verstehen der Ironie Ionescos sein und desto konkreter und fruchtbarer die Grundlage seines Deutens des Textes. Dasselbe gilt auch für nur mögliche andere Standpunkte – "wird man sagen"... -, von denen hier einige – Lukács, Plechanow und Bloch – angeführt wurden, die in entsprechende semantische Berührung mit Ionescos Text kommen könnten, und die Ionesco freilich genauso wenig konkret vor Augen hätte haben müssen, wie er überhaupt von ihrer Existenz nichts hätte zu wissen brauchen. Wenn auch nicht gerade diese, trifft die Ironie Ionescos, indem sie sich von einem Brennpunkt auf das Ganze des Textes verbreitet, doch solche Standpunkte, wenn deren semantische Berührung mit dem Sinn der entsprechenden Aussagen des Textes verwirklicht wird. Die ironische Umwertung, die aus einer solchen semantischen Verbindung entstehen kann, hängt selbstverständlich in vielem von der Art und Weise ab, wie der Leser einen solchen Standpunkt deutet, und sie läßt im Verstehen den Faktor der ironischen den Sinn erschütternden Negation erscheinen.

Die Kenntnis und die Deutung dieser und solcher Standpunkte zum Tod seitens des Lesers sind nicht nur wichtig, um logisch zu beurteilen, wer recht hat oder welche der vorgelegten Visionen besser ist, sondern auch, um einen mit möglichst konkreten Inhalten erfüllten Kontext zu erhalten, in dem man die Ironie Ionescos bei aller Unvollendetheit, ja Unvollendbarkeit des Verstehens eines ironischen Textes verstehen wird.

 

3. Das Schwurgericht von dieser Welt

Das Finale des Romans Die Brüder Karamasow entwickelt sich im Gerichtssaal. Vor den Geschworenen streiten und kämpfen zwei Redner, zwei Willen, um ihre Sicht und Beurteilung der Situation und des Ereignisses zu artikulieren. Es konfrontieren sich zwei entgegengesetzte Schlüsse darüber, was sich überhaupt ereignet hatte, aber auch darüber, welchen Sinn die Ereignisse haben. Der Sinn der Tatsachen und der Umstände, die verläßlich festgestellt sind, ist genauso wenig unbestreitbar, wie ob gewissen Tatsachen und Taten überhaupt geschehen sind. Mit verschiedener Artikulation, abhängig von der Intention, mit der sie geführt wird, legen die streitenden Parteien der Situation und den mit dem Mord des Fjodor Pawlowitsch Karamasow verknüpften Ereignissen einen bestimmten Sinn bei oder drängen ihn sogar auf, wobei sie bemüht sind, davon zu überzeugen, daß sie ihn nur dem Ganzen der unwiderlegbaren Erkenntnis alles dessen, was sich abgespielt hat, entnehmen.

Der Wille zur Artikulation, als ein Wille zur Sinngebung und Beurteilung der Tatsachen und Geschehnisse, hat eine besondere mehrfache Ausrichtung in der "Welt" des Romans – die Befreiung Dimitrijs zu beeinflussen im einen, seine Verurteilung zu bewirken im anderen Fall, und sozusagen beiläufig die Vision der geschichtlichen Lage Rußlands näher zu bestimmen in beiden Fällen; außerdem im Erkennen und Deuten des Lesers dieser "Welt" ihren Sinn im Ganzen zu bestimmen und, zusammen mit den übrigen Faktoren, ihre ästhetische Wirkung zu ermöglichen. Die Reden des Staatsanwalts und des Verteidigers bieten auch dafür Gelegenheit, daß gewisse Themen, die sich durch das ganze Buch ziehen, noch einmal in dem neuen Kontext des Finales erscheinen und sich derart im entscheidenden Moment in ihren Bedeutungsmöglichkeiten endgültig zeigen, innerhalb der Grenzen, die der Roman setzt. Dies stellt dann auch die Abrundung der interpretativen Grundlage dar, von der in der Deutung auszugehen ist. Was das Ganze des Romans gerade als Ganzes hat und "mitteilen" oder andeuten kann, entsteht in dieser Debatte wie aus einem unumgänglichen, wesentlich bedeutsamen Bedeutungsfaktor, der nicht weniger wichtig ist als z.B. die "Legende vom Großinquisitor"; das Ganze bildet sich, mit anderen Worten, gerade in seinem Wesentlichen aus den Elementen, die der Streit zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger hervorbringt, und aufgrund der Kontraste, die dabei entstehen. In all dem ist auch von nicht geringerer Bedeutung, daß sowohl der Staatsanwalt als auch der Verteidiger nicht zur wirklichen Wahrheit über das Verbrechen gelangen, weder in juristischer noch zumal in existentieller Hinsicht. So ist nach der Meinung Dimitrij Karamasows der Verteidiger Fetjukowitsch selbst nichts anderes als "ein weicher Spitzbube, ein Mensch aus der Hauptstadt! Ein Bernard!"[15], der überhaupt nicht an die Unschuld seines Schützlings glaubt, und auch die aufrichtige Überzeugung des Staatsanwalts von der Schuld des Angeklagten trägt nicht zum Erkennen der wirklichen Wahrheit bei. Wesentlich ist jedoch der Effekt, der auf die Geschworenen ausgeübt wird; dem Teil der Wahrheit, der durch die Deutung des Staatsanwalts und des Verteidigers wirklich getroffen wird, kommt das Verstehen der Geschworenen entgegen, oder besser gesagt: es stößt damit zusammen. Die Schilderung des Erzählers gibt klar zu wissen, daß vieles der rhetorischen Kunst beider Redner falsch aufgefaßt wird oder überhaupt nicht bis zu diesen kleinen Beamten und Bauern, die "im besten Fall ihre Mußezeit irgendwo mit Kartenspiel vertrieben und natürlich niemals im Leben auch nur ein einziges Buch gelesen hatten",[16] gelangt. Zumal erweist sich die Strategie des Fetjukowitsch in diesem Sinne als falsch, da er, unabhängig von der Überzeugungskraft der Argumente an sich, den Adressaten nicht Rechnung trägt, an die das Plädoyer vor allem gerichtet ist. Fetjukowitsch rechnet mehr als mit den Geschworenen mit dem übrigen Publikum, besonders mit den "Damen", die in ihrer Bereitschaft, den Vatermord zu "verstehen" und zu verzeihen, karikiert erscheinen und die nicht begreifen können, daß Dimitrij nicht befreit ist. Jedoch besteht das Publikum nicht nur aus "Damen", sondern es gibt auch diejenigen, die den Standpunkt des Schwurgerichts billigen: "Ja, meine Lieben, unsere Bauern lassen sich nichts vormachen";[17] dies ist nicht nur die Stimme aus dem Publikum, vielmehr ist diese vox populi als Titel des Abschnitts, in dem Dimitrij schuldig gesprochen wird, hervorgehoben. Die Wertungen, die in den Titeln des ganzen Kapitels, "Ein Justizirrtum", und dieser Abteilung, "Die Bauern lassen sich nichts vormachen", enthalten sind, schaffen eine Spannung, aus der der tragische Konflikt der "Tatsachen" (und desjenigen, was aufgrund ihrer wahrscheinlich ist) und der Wahrheit entsteht. Strafrechtlich wird der Gedanke des Vatermordes nicht bestraft, aber Dimitrij hat viele Spuren eines solchen Gedankens hinterlassen, und auch die Reihe der Geschehnisse bekräftigt die Wahrscheinlichkeit, daß gerade er es war, der auch getan hat, worüber er gesprochen hat. Es kann jemand jedoch nur dann verurteilt werden, wenn wirklich bewiesen ist, daß er getötet hat, und nicht, wenn bloß wahrscheinlich ist, daß er getötet hat. In dubio pro reo. Die "Bernardsche" Logik ist, obwohl es vielleicht in der wirklichen Welt keine andere gibt, in diesem Fall völlig ungenügend.

Die Situation im Gerichtsverfahren selbst bestimmen die verschiedenen Redner-Zeugen, ihre Reihenfolge, sowie die Änderungen und Widersprüche in ihren Zeugenaussagen je nach der Entwicklung der Ereignisse im Gerichtssaal, etwa im Falle der Katerina Iwanowna. Hierbei spielen die von früher bekannten psychologischen Porträts der einzelnen Gestalten eine große Rolle, wobei sie sich in der Schilderung des Gerichtsverfahrens gerade durch die Darstellung der Zeugenaussagen ergänzen – bei Iwan Karamasow ist dies vielleicht am einleuchtendsten und ausdrücklichsten –, und auch die Kommentare des Erzählers zu bestimmten Phasen und Aspekten des Gerichtsverfahrens müssen in Betracht gezogen werden. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Abwechslung der Intentionen in den Reden des Staatsanwalts und des Verteidigers, ihre Modifizierung und Umrichtung im Laufe des Streits, um das gewünschte Resultat zu erreichen. Indem er sich dem schon früher Gesagten anpaßt und den eigenen Anregungen und Absichten folgt, schließt der Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch in einem Moment in seine Auslegung auch diese ironische Aussage ein: "Und ist der Verteidiger nicht allzu bescheiden, wenn er einzig den Freispruch des Angeklagten fordert? Warum sollte er nicht die Stiftung eines Stipendiums unter dem Namen des Vatermörders verlangen, zur Verewigung dieser Heldentat für die Nachkommenschaft und für die junge Generation?"[18 ] Warum ist diese Aussage ironisch? Was hindert, sie wortwörtlich aufzufassen, als Einsatz dafür, daß die vermutete Tat Dimitrijs ein Gegenstand des Lobes wird, als Vorbild hervorgehoben und auf eine besondere Weise, durch ein Stipendium, dauernd im Gedächtnis bewahrt wird? Es gibt keinen Leser, der diese Aussage wortwörtlich versteht. Selbst jene Leser, die sonst den Sinn des Ganzen dieses Romans kärglich oder überhaupt nicht begreifen, werden nicht denken, daß dem Staatsanwalt wirklich an der Stiftung eines solchen "Stipendiums unter dem Namen des Vatermörders" gelegen ist. Wenn sie die Sprache des Originals oder einer (genauen) Übersetzung verstehen, werden sie diesen Ausruf des Staatsanwalts Ippolit Kirillowitsch auf einer Sinnbahn verstehen, die von der durch einen solchen Gebrauch dieser Sprache gezogenen Sinntrasse bedeutend abweicht. Schon der Gedanke, daß man die Stiftung eines "Stipendiums unter dem Namen des Vatermörders" verlangen kann, ist unmöglich, und zwar deshalb, weil eine entsprechende Zensur des rezeptiven Feldes wirkt. Die religiösen, moralischen und juristischen Inhalte, die als Faktoren der Kultur und der Geschichte praktisch jedes Bewußtsein vom Moment der Entstehung der Brüder Karamasow bis heute allumfassend bestimmen, schließen jede Möglichkeit aus, den Vatermord als einen annehmbaren Akt oder sogar als etwas Lobenswertes, das auch eine Belohnung verdient, zu betrachten und zu bewerten. Selbst dann, wenn man gewisse Tiefenmatrizen des menschlichen Unterbewußtseins in Betracht zieht, die vielleicht in einigen Mythen geahnt werden, in denen der Vatermord in etwas anderem Licht erscheint, erlauben die Verbote und Normen, auf denen all unser Begreifen der Welt beruht, nicht, den wortwörtlichen Sinn des Ausrufs von Ippolit Kirillowitsch mit der Tat, derentwegen Dimitrij Karamasow angeklagt wurde, auf eine wertneutrale Weise oder sogar mit Billigung zu verbinden. Vielleicht soll man in dem unkontrollierten Ausruf des wahnsinnig gewordenen Iwan Karamasow bei der Zeugenaussage: "Wer wünschte nicht den Tod seines Vaters?..."[19] den Widerhall einer dieser Inhalte des Unterbewußtseins, denen der Zutritt in das Bewußtsein und ins bewußte Handeln verboten und unmöglich gemacht ist, hören und erkennen, durch deren Anwesenheit in den Gedanken und Handlungen Iwans es zu seiner Geistesstörung, zum Alptraum, in dem der "Teufel" erscheint, kommen muß, die sich danach im Gerichtsverfahren in ein Delirium verwandelt. Aber vom Standpunkt der "Welt" des Romans ebenso wie vom Standpunkt der wirklichen Welt, in der der Roman gelesen wird, muß der Vatermord als eine Tat, die der Verurteilung unterliegt, betrachtet werden. Dies ist selbstverständlich, die Zensur des rezeptiven Feldes wirkt automatisch. Die Wirkung der Inhalte und der Werte, die im Bewußtsein des Lesers schon vor dem Lesen gegenwärtig sind, ist im Verstehen zu stark, als daß auch nur ein neutrales, geschweige denn ein positives Verhältnis zum Vatermord möglich wäre. Je nachdem, ob ihn der Leser im Zusammenhang mit juristischen, moralischen oder religiösen Normen bewertet, er wird ihm immer als Verbrechen erscheinen, als eine grobe Herausforderung des Gewissens oder als große Sünde. Dabei ist es von großer Bedeutung, daß diese und eine solche Bewertung spontan ist; der negative Sinn des Vatermordes unterliegt keiner Reflexion.

Eine solche unerbittliche Selbstverständlichkeit erklärt – vor allem aus der religiösen, dann auch aus der moralischen Perspektive – Dimitrijs übrigens schwankende Entscheidung, doch den Weg des Leidens einzuschlagen, obwohl er, juristisch gesehen, kein Mörder ist. Auf diesem "Weg der Läuterung"[20] kann auch in ihm ein "neuer Mensch"[21] auferstehen, in diesen Erzgruben eine "unterirdische Hymne"[22] gesungen werden – Dmitrij wünscht die Strafe, weil er in seiner Wut ein Mörder hätte werden können. Auf dieselbe Weise erklärt sich auch Iwans Schuldgefühl: "Wenn nicht Dimitrij den Mord verübt hat, sondern Smerdjakow, dann bin ich natürlich mit diesem solidarisch, denn ich habe ihn angestiftet. Ob ich ihn angestiftet habe, das weiß ich noch nicht. Aber wenn er den Mord begangen hat und nicht Dimitrij, so bin natürlich auch ich ein Mörder."[23] – sagt Iwan zu Katerina Iwanowa nach dem zweiten Besuch bei Smerdjakow. Die Folgen sind in Iwans Fall andere als im Falle Dimitrijs, vor allem wegen seines andersartigen, stolzen Charakters. Der Umstand, daß Iwans Verhältnis zu Smerdjakow in dieser Sache durch Andeutungen und Nur-halb-Gesagtes bestimmt ist, ändert daran nichts; Iwan "enthüllt" sich selbst allmählich aber unerbittlich als Anstifter, und Smerdjakow bestätigt ihm dies im dritten Gespräch auf unzweideutige Weise. "Sie haben ihn ermordet; Sie sind der Hauptmörder, und ich war nur Ihr Helfershelfer, Ihr treuer Diener, und habe diese Tat nach Ihrer Weisung begangen."[24] Etwas später nennt Smerdjakow Iwan auch "nach dem Gesetz [...] der wahre Mörder".[25] – Weit davon entfernt, daß "alles gestattet" ist, wirkt die Enthüllung des wirklichen Sachverhalts auf Iwan vernichtend, ganz im Einklang mit der Zensur, von der die Rede war.

Da die Zensur des rezeptiven Feldes jeden Gedanken, daß der Vatermord gestattet oder gar wünschenswert wäre, beseitigt, ist der wortwörtliche Sinn der Aussage des Ippolit Kirillowitsch über das "Stipendium" einem starken kontextuellen Druck ausgesetzt, der aus dieser Zensur hervorgeht – die Aussage wird mit Ironie verstanden.

Die Norm, die das Leben eines Anderen überhaupt, irgendeines Anderen, schützt, ist es möglich unter bestimmten Umständen zu relativieren, auch in ihrem normativ Wesentlichen. Im Kampf für die Freiheit ist etwa das Töten einer gewissen Gruppe von Anderen sogar erwünscht und lobenswert, wobei das Problem der Kollision verschiedener Ordnungen von Normen, etwa religiöser und moralischer, das bei solchen Relativierungen vorkommt, hier beiseite gelassen werden kann. Die Gefährdung der Norm in ihrem gerade normativ Wesentlichen soll man selbstverständlich von ihrer Nichtbeachtung bzw. "Verletzung" in dem unaufhörlichen faktischen Töten Anderer unterscheiden. Die empirische Verletzung, sei sie auch unausrottbar, bedroht nicht die Normativität selbst, noch die Werte, welche die Norm schützt. Die Relativierung des Sinnes der Verletzung der Norm "Töte nicht!" ist jedoch im Falle des Vatermordes viel schwerer durchführbar. Der Vater unterscheidet sich von den übrigen Anderen. Den Sinn dieses Aktes in Abhängigkeit von Bedingungen und Umständen zu bringen und derart diese Norm selbst als solche zu relativieren, ist in der bestehenden kulturgeschichtlichen Konstellation eigentlich unmöglich. Man müßte von einer ganz andersartigen Kultur ausgehen mit einem Wertsystem, das völlig verschieden wäre von jenen Wertsystemen, die wir jetzt kennen und seit den letzten Jahrtausenden mehr oder minder als die eigenen empfinden, damit eine solche normative Relativierung denkbar wird. Wenn der Vatermord in seiner empirischen Faktizität in Abhängigkeit von Bedingungen und Umständen betrachtet wird, etwa in einem künstlerischen Werk, so erscheint er notwendig als Quelle einer tiefen Tragik. Es sind zwar Kulturen bekannt, in denen es ein Töten von Greisen gab, das nicht der Verurteilung als Mord unterlag, wie es sonst notwendigerweise folgt. Ohne uns hier auf die Funde der Ethnologie, der Anthropologie, der Psychoanalyse oder der Mythographie einzulassen, können wir uns auf dieser Spur, obwohl nicht ohne Mühe, auch eine solche Kultur vorstellen – irgendwo in archaischen Tiefen oder einfach im Prinzip –, in der der Vatermord unter bestimmten Umständen nicht der Verurteilung unterliegt. Mit noch größerer Mühe können wir versuchen, uns vorzustellen, daß dieser Akt unter gewissen, für uns wieder hypothetischen Umständen in einer solchen Kultur sogar ein Lob nach sich zieht. Gewiß ist indes, daß in einer solchen möglichen Kultur kein Geisteserzeugnis wie Die Brüder Karamasow entstehen kann. Dieser Roman von Dostojewskij konnte nur und ausschließlich in einer Welt der Werte, die die epochale Erfahrung des Christentums hinter sich hat, entstehen und aufgefaßt werden;[26] dieser Roman konzentriert sich gerade auf diese Erfahrung, indem er ihre Inhalte in ihrer Lebenskonkretheit beleuchtet, im Zusammenhang mit dem empirischen Vatermord, so wie es auf eine andere Weise auch der Roman Schuld und Sühne im Zusammenhang mit dem Mord überhaupt tut. Der Status des anderen als "Nächstem" und Gottes zugleich als Gott-Vater und Gott-Sohn spielt in dieser geschichtlichen Erfahrung eine entscheidende Rolle, indem er in hohem Maße die allgemeine Selbstverständlichkeit des Status' und der Werte einzelner damit verbundener moralischer, juristischer und religiöser Inhalte verursacht. In dem Fall, daß es zur Gefährdung oder Verletzung der Norm kommt, die den Anderen und den Vater als Anderen schützt, wird dies besonders klar und wahrnehmbar. In der Beurteilung der Instanz des Anderen besteht eine besondere Spontaneität und Nicht-Bewußtheit (d.h. ein Automatismus, der stärker ist als jedes Überlegen), unabhängig davon, um welchen Anderen es sich handelt; er bleibt – davon zeugt bei Dostojewski) eindeutig der Roman Schuld und Sühne – durch die Norm geschützt, sei er auch noch so verhaßt, wertlos, abstoßend, "unnötig"... Die Spontaneität und der Automatismus dieser Art werden aber noch viel ausdrücklicher, wenn es sich nicht einfach um den "Nächsten" handelt, sondern um den Vater, und zwar ganz unabhängig davon, ob die Instanz des Vaters als Quelle eines Konflikts, eines Druckes, der eine Empörung hervorruft oder Haß erweckt, empfunden wird, oder als Quelle der Liebe, des Gefühls der Beschütztheit, als Macht, in die man Vertrauen haben soll. In der Welt der Werte also, in der ein solches Sinnganzes, wie es Die Brüder Karamasow darstellen, entstehen kann, ist es möglich, sich einen Vatermord vorzustellen, ihn zu beschreiben und zu analysieren, aber es ist unmöglich, ihn sich anders vorzustellen denn als ein Verbrechen. Dies gestattet die Zensur nicht, die aus der automatischen Wirkung des Zusammenhangs bestimmter Kulturinhalte auf das Verstehen hervorgeht. Daher kann eine Aussage, durch die die Stiftung eines Stipendiums, welches die Erinnerung an eine Tat wie den Vatermord verewigen soll, verlangt wird, unter keinen Umständen das bedeuten, was sie an und für sich bedeutet. Die Zensur, hervorgegangen aus dem Ganzen einer Weltauffassung und der Verbindung ihrer Kulturinhalte, und zwar in epochalen Ausmaßen, vereitelt automatisch jedes Verständnis dieser Aussage außer demjenigen, nach dem sie eine extreme Zuspitzung der Nichtübereinstimmung des wirklich Gesagten mit irgend einem Kontext, in dem die betreffende Aussage aufgefaßt werden könnte, bedeutet. Daher muß der Ausruf des Ippolit Kirillowitsch ironisch aufgefaßt werden, unabhängig davon, wie der Leser sonst die Redekunst des Staatsanwalts und die Thesen, die er vertritt, Dimitrij selbst, oder letzten Endes die "Welt" des Romans und der Geschehnisse in ihm im Ganzen einschätzt.

Hier muß gleich eine bedeutende Schranke hinzugefügt werden: obwohl es stimmt, daß die Zensur des rezeptiven Feldes das Verstehen auf der Trasse der Rede des Staatsanwalts über das Stipendium ausschließt, stimmt es zugleich auch, daß gerade das Ganze des Romans selbst, als globaler textueller Kontext der Rede des Staatsanwalts und diese Aussage in ihr, diese Zensur im Deuten lockert, indem es Gründe gegen ihre Wirkung bietet. Die Zensur des rezeptiven Feldes ist als zusätzliche, "äußere" Regulierung des Textsinnes im Konflikt mit gewissen wesentlichen interpretativen Möglichkeiten, die der Text des Romans eigentlich bietet – und der Verteidiger Fetjukowitsch insistiert gerade auf diesen Möglichkeiten in der Analyse des Geschehens –, so daß das Nachdenken darüber, warum der Satz über das Stipendium ironisch aufgefaßt werden muß, in der Interpretation genau zum wesentlichen Problem führt: Dostojewskij thematisiert und beleuchtet aus verschiedenen Richtungen das Verhältnis des Normativ-Kulturellen und des Psychologisch-Existentiellen, der Werte und ihrer Realisierbarkeit, des selbstverständlich Normalen und des faktisch Realen (in Gedanken, Wunsch oder Tat), und zaubert die tragischen Nichtübereinstimmungen und Nichtvereinbarkeiten herbei, zu denen es in diesem Zusammenhang kommt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß vom Standpunkt seiner Lehre Sigmund Freud recht hat, wenn er sagt: "Es ist ja gleichgültig, wer die Tat wirklich ausgeführt hat, für die Psychologie kommt es nur darauf an, wer sie in seinem Gefühl gewollt, und als sie geschehen, willkommen geheißen hat, und deshalb sind bis auf die Kontrastfigur des Aljoscha alle Brüder gleich schuldig, der triebhafte Genußmensch, der skeptische Zyniker und der epileptische Verbrecher."[27] Zumindest kann man sagen, daß dieser Standpunkt Freuds einen Stützpunkt in den Motivationsganzheiten des Romans hat, aus denen die Deutung der Schuld und der Konzeption der Strafe gemäß dem Ganzen des Romans zu entfalten ist. Es ist indes wichtig zu betonen, daß die Zensur des rezeptiven Feldes, die dazu drängt, den Ausruf des Ippolit Kirillowitsch ironisch zu verstehen, nicht auf etwas Psychologischem beruht, daß sie nicht aus der Einsicht in die sogenannten verborgenen Tiefen des menschlichen Wesens hervorgeht. Sie beruht nicht auf der einen oder anderen, mehr oder weniger annehmbaren Interpretation des Romans, sondern auf demjenigen, was in der "Welt" des Romans wie in der wirklichen Welt des Lesers das vorausgesetzte Normale, das Normativ-Kulturelle, der Wert ist, der durch bestimmte geschichtliche Erfahrungen und geschichtliche Voraussetzungen bestimmt wird. Die Inhalte, die mit diesen Erfahrungen und diesen Voraussetzungen verbunden sind, können durch Aussagen definiert werden, deren Bedeutung objektiv feststellbar ist; eine derart feststellbare Intentionalität bestimmt in der Tat den Raum und die prohibitive Ausrichtung der Wirkung der Zensur des rezeptiven Feldes. Der Zusammenstoß dieser Wirkung mit jenem tiefen Existentiellen der einzelnen Helden in der "Welt" des Romans bildet jenen wesentlichen Inhalt, den das Werk ans Tageslicht bringt. Obwohl der Sinn, der sich nach gewissen, für das wachsame Lesen unumgänglichen interpretativen Richtungen entfaltet, die Zensur, die die spontane Verurteilung des Vatermordes bewirkt, lockern und schwächen soll, wirkt diese Zensur doch auf der semantischen Ebene des Lesens, also im Verstehen des Textes; die Aussage über das Stipendium muß ironisch verstanden werden, und die Betrachtung über die Funktion dieser Ironie verbleibt bei der Deutung.

Dieselbe Zensur wirkt auch, wenn es sich um die bittere Ironie Iwans in dem Abschnitt "Die Auflehnung" des Kapitels Pro und Contra handelt. Indem er Argumente für sein bekanntes "Zurückgeben der Eintrittskarte" darlegt, erwähnt Iwan Aljoscha gegenüber das Foltern der Kinder, und als er ein widerliches Beispiel der elterlichen Unmenschlichkeit gegen ihre siebenjährige Tochter anführt, verschafft er gerade durch die Ironie seiner tiefen Erbitterung, die sich mit Verzweiflung mischt, ein wenig Luft zum Atmen. (Sein "Zurückgeben der Eintrittskarte", das eher ein Resultat der deistischen Nüchternheit genannt werden sollte als skeptischer Zynismus wie bei Freud, ist in vielem gerade durch die Verbindung von Erbitterung und Verzweiflung motiviert, so daß etwas davon auch bei dem Selbstmord Smerdjakows Spuren hinterläßt, der ohne Bedauern und Reue wegen des begangenen Mordes und trotz der Tatsache, daß er auch nach alledem nicht an Gott zu glauben vermochte, verübt wurde.[28])

"Die Sache kommt durch irgendeinen verteufelten Zufall vor Gericht", erzählt Iwan Aljoscha über die grausamen Eltern. "Ein Anwalt wird genommen. Das russische Volk nennt schon seit langem den Advokaten ein »gedungenes Gewissen«. Der Anwalt verteidigt seinen Mandanten, er ruft: »Es handelt sich doch um eine ganz einfache, alltägliche Familienangelegenheit, der Vater hat seine Tochter ein bißchen verhauen, und nun ist das zur Schande unserer Zeit vor Gericht gekommen !« Den Geschworenen leuchtet das ein, sie ziehen sich zur Beratung zurück und sprechen ihn nicht schuldig. Das Publikum grölt, beglückt darüber, daß man den Peiniger freigesprochen hat. – Schade, daß ich nicht dort war, ich hätte mit lauter Stimme vorgeschlagen, zu Ehren des Folterknechts ein Stipendium zu stiften! ..."[29]

Wie immer er auch das Prügeln eines Kindes ansieht, der Leser muß Iwans Aussage über das Stipendium als Ironie auffassen. Dazu kommt es eines Teils infolge der Nichtübereinstimmung des Sinnes dieser Aussage mit dem Sinn des unmittelbaren textuellen Kontextes, aber wesentlicher ist die Wirkung der Zensur des rezeptiven Feldes auf das Verstehen. In diesem Fall ist die Hervorhebung einzelner Inhalte, deren Summe und Konstellation die Zensur ausmachen, etwas andersartig als bei der Forderung nach einer Stiftung des "Stipendiums unter dem Namen des Vatermörders", aber eigentlich handelt es sich um dieselbe Zensur; die unerschütterlich selbstverständliche Norm schützt nicht nur die Eltern sondern auch das Kind, jenes Göttliche ist nicht nur im Vater sondern auch im Sohn; eine Belohnung für die Gewalttätigkeiten gegen das Kind zu verlangen, ist nicht undenkbarer, als eine Belohnung für den Vatermörder zu verlangen. In der Sicht des Iwan Karamasow ist das Verbrechen gegen das Kind jedenfalls schwerwiegender. Im Gespräch mit Aljoscha sagt Iwan mit wehmütigem Pathos, daß die Kinder unter keinen Umständen mit ihren Leiden "die ewige Harmonie erkaufen" dürften[30] und daß die Solidarität in der Sünde und dann auch in der Vergeltung noch zu verstehen wäre, wenn es sich um Erwachsene handele, aber auf die Kinder keinesfalls erstreckt werden könne.[31] Auf der anderen Seite sagt derselbe Iwan im Gespräch mit Dimitrij im Gefängnis nach dem Gerichtsverfahren zum Beispiel auch so etwas: "Fjodor Pawlowitsch, unser Papa, war ein Ferkel, aber er dachte richtig",[32] wobei sich dies am ehesten auf die Ausschweifung und den Atheismus des Fjodor Pawlowitsch beziehen kann, auf seinen Egoismus, der daraus hervorging, auf seine völlige Hingabe an "diese Welt". Durch diese Aussage – die, beiläufig gesagt, der "Teufel" paraphrasieren wird, wenn er Iwan selbst anspricht – schaltet sich ihr Träger in jenes Motivationsnetz ein, durch welches sich die Zensur, die sonst die Aussage über das "Stipendium unter dem Namen des Vatermörders" trifft, lockert.

Das Schwurgericht – als Adressat des Plädoyers des Advokaten – verfährt in Iwans Erzählung genau demjenigen Schwurgericht entgegengesetzt, das über Dimitrij urteilt. Aber die eigenartige Entwertung des Gerichtsbescheids besteht in beiden Fällen; zur Gerechtigkeit, die auf die Wahrheit der menschlichen Seele gegründet wäre, kommt man im Gericht nicht. Schon in der Erzählung Iwans erklingt das entscheidende Wort über die Rechtsanwälte, die ein "gedungenes Gewissen" sind, und über das Schwurgericht, das in jedem Falle irrt – das Wort, das dann beim Gerichtsverfahren gegen Dimitrij künstlerisch meisterhaft in verschiedenen Aspekten entfaltet wird, indem es sich freilich in einem noch weiteren interpretativen Rahmen mit dem Thema des Verhältnisses zwischen dem kirchlichen und den staatlichen Gericht und der Rolle der Kirche und des Christus im Leben des Verbrechers und des Verurteilten verbindet, worüber schon am Anfang des Buches ein Gespräch beim "Staretz" Sosima geführt wird.

Dostojewskij bedient sich in beiden Fällen der Aussagen, durch die die "Stiftung eines Stipendiums" gefordert wird – vielleicht unabsichtlich, ohne sich zu erinnern, daß er schon einmal einen ironischen Effekt auf diese Weise erzielt hat. Vielleicht hat er dies auch geplant und mit einer bestimmten Absicht getan. Wie dem auch sei, das Gespräch zwischen Iwan und Aljoscha und das Auftreten des Ippolit Kirillowitsch stehen in keiner unmittelbaren Motivationsverbindung. Jedenfalls bringt die Wirkung derselben Zensur des rezeptiven Feldes die Themen, um die es sich in den gegebenen Fällen handelt, in Verbindung, und es kann der Deutung von Nutzen sein, wenn man dies vor Augen hat.

Eine ganz andere Grundlage hat die Ironie des Verteidigers, wenn er in einem Augenblick die Unsinnigkeit der Vermutungen des Staatsanwalts durch folgende Worte zeigt: "Was die Zeitberechnung – und zwar eine überaus genaue – betrifft, so wurde in der Voruntersuchung festgestellt und bewiesen, daß der Angeklagte, als er von den Mägden zu dem Beamten Perchotin eilte, nicht nach Hause und überhaupt nirgendhin sonst ging und dann die ganze Zeit unter Menschen war, folglich von den dreitausend unmöglich die Hälfte weggenommen und irgendwo in der Stadt versteckt haben konnte. Und gerade diese Erwägung war die Ursache für die Vermutung des Anklägers, daß das Geld irgendwo in einer Ritze im Dorf Mokroje versteckt sei. Aber warum denn nicht im Keller des Udolfischen Schlosses, meine Herren? Nun, ist diese Vermutung nicht phantastisch, ist sie nicht romanhaft?"[33] – Der Verteidiger hätte über die kaum glaubhafte Vermutung, Dimitrij habe gerade in einer solchen Nacht das Geld "in einer Ritze" versteckt, ganz überzeugend auch ohne jenes "Aber warum denn nicht im Keller des Udolfischen Schlosses, meine Herren?" sprechen können. Dieser Ausruf ist jedoch, wortwörtlich genommen, in völliger und gewissermaßen komischer Nichtübereinstimmung mit allem, was sich auf das Ambiente des Zechers Dimitrij im Dorf Mokroje bezieht, so daß die Ironie der Worte des Fetjukowitsch, die daraus hervorgeht, nur die Absurdität der Vermutung über die "Ritze" stärken und überzeugender machen soll. Dies verbindet sich zu einem besonders komischen Ganzen und soll im Verfahren der Objektivierung beim Lesen auf jeden Fall bemerkt werden, zusammengedacht mit demjenigen, was Dimitrij nach dem Gerichtsverfahren in einem sonst gar nicht komischen Kontext mitteilt: "Trifon Borisytsch, begann Mitja hastig, Trifon Borisytsch soll seinen ganzen Gasthof demolieren: er hebt die Bretterböden aus; er reißt die Verschalungen herunter; er hat, so heißt es, die ganze Galerie zu Spänen geschlagen – er sucht immerzu nach dem Schatz, nach eben jenem Gelde, nach den anderthalbtausend Rubel, die ich, wie der Staatsanwalt gesagt hat, dort versteckt haben soll. Man erzählt, daß er, sobald er heimkam, sofort mit dem Durchstöbern begann."[34] – Als hätte der Gastwirt Trifon Borisytsch, der sonst gegen Dimitrij aussagte, den Ausruf des Advokaten über das Udolfische Schloß überhört oder sich jedenfalls nicht besonders von ihm beeindrucken lassen. Die Ironie des Fetjukowitsch ist, als Ironie mit dem spezifischen Moment der Negation, bis zum habgierigen Trifon Borisytsch nicht durchgedrungen.

Die Brüder Karamasow können auch als Roman darüber gelesen werden, daß nichts die Zensur, die die Qualifikation des Vatermordes betrifft, lockern darf und kann, selbst dann nicht, wenn gute Gründe gegen den Vater sprechen, wenn sogenannte mildernde Umstände für den Mörder bestehen. Fjodor Pawlowitsch wurde nicht von Dimitrij ermordet, de facto auch nicht von Iwan, sondern von Smerdjakow. Smerdjakow denkt und wünscht es nicht nur, sondern er legt auch wahrhaftig Hand an den alten Karamasow, der wahrscheinlich auch sein Vater ist, und eines Teils ist es diesem nichtanerkannten, verstoßenen und gedemütigten, zu einem Diener gemachten Sohn vielleicht auch gerade deshalb möglich, einen solchen Akt zu verrichten. Er fühlt jedoch auch die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das, wenigstens von außen betrachtet, geziemender wäre, wenn es schon die Transzendenz, die ihm einen gewissen metaphysischen Wert verliehe, nicht gibt. Deshalb auch verachtet Smerdjakow die Menschen, deren Mängel und deren Charakter überhaupt er im Wesentlichen recht genau abschätzt, sowohl im Fall des Grigorij, als auch im Fall des Fjodor Pawlowitsch, aber auch im Fall des Iwan Karamasow selbst. Iwan zollt ihm, als der Augenblick der Wahrheit gekommen ist, im dritten Gespräch, in diesem Sinne Anerkennung. Deshalb auch sehnt sich Smerdjakow nach Moskau oder – wenn es möglich wäre noch eher nach Frankreich und verabscheut Rußland, worüber er übrigens vieles auch von Fjodor Pawlowitsch hören konnte.

Iwan Karamasow ist der höchsten Spekulation über Atheismus und Immoralismus fähig, aber als es um den konkreten Mord geht, ist das Höchste, was er kann, auch nur zu "denken" und zu "wünschen". Im Unterschied zu ihm hat Smerdjakow einen tadellosen Plan entworfen, völlig der "Bernardschen" Logik der Untersuchung angepaßt. Er sieht die möglichen Verfahren und die Art und Weise des Urteilens der Leute, die sich später damit befassen werden, voraus. – Warum tötet sich also Smerdjakow? Warum offenbart er überhaupt Iwan die Wahrheit, der den Irrtum in dieser Sache so nötig hat? Dahinter steht eine wichtigere Frage: warum ist es für Smerdjakow so unumgänglich, daß seine auf den Mord ausgerichtete Kalkulation wie auch das Verbrechen selbst durch einen anderen, von Seiten eines anderen, sei es auch des "Theoretikers" des Immoralismus und Atheismus Iwan Karamasow selbst, verifiziert wird, wenn schon "alles gestattet" ist und wenn der Mörder, wie er selbst sagt, wahrhaftig nach alledem nicht an Gott glaubt? Wenn er schon einen unanfechtbaren Plan erdenken kann und wenn er die Kraft hat zu töten, warum hat Smerdjakow nicht die Kraft, die Früchte des Mordes zu nutzen, sondern läßt, indem er die geraubten dreitausend Rubel aus Iwans Hand noch einmal zu sehen sucht und sie "etwa zehn Sekunden lang"[35] ansieht, von allem ab und verzichtet auf alles? Am Ende, enttäuscht, scheint er selbst Iwan zu verachten, der für ihn der Gründer der immoralistischen Idee, aber auch die Instanz, die sie zu bescheinigen hat, ist. In der psychischen Ökonomie Smerdjakows ist Iwan, wie es scheint, unumgänglich in dieser Rolle, und als der Mörder die "Schwäche" seines Vorbildes und "Theoretikers" einsieht, entsteht in seiner mörderischen psychischen Ökonomie eine völlige Verwirrung. Smerdjakow ist endlich nicht nur ein bloßes Werkzeug des Verbrechers wie z.B. Fedjka, der Zuchthäusler aus den Dämonen im Verhältnis zum "Teufel" Pjotr Werhowenskij und zum "Theoretiker" Stawrogin.[36] Smerdjakow analysiert die möglichen Varianten und schmiedet den Plan. Wesentlich indes ist, daß die Kalkulation dieses "treuen Dieners" des Iwan Karamasow nicht jenes "Geheimnis" einbezogen hat, im Zusammenhang mit dem die "Bernardsche" Wirkungskraft in der Welt machtlos ist, wenn gewisse Grenzen überschritten werden,[37] – das "Geheimnis", das in einem unweigerlichen und der Relativierung nicht unterliegenden Schutz bestimmter Werte und Inhalte besteht und sich derart zeigt, daß es Verzweiflung, obwohl ohne Reue, und Verachtung hervorruft, Ohnmacht und Bitterkeit zugleich, wenn das Verbot, die bestimmte Grenze zu überschreiten, verletzt wird. Der Vatermord ist zweifellos eine solche Grenze, und weder Smerdjakow noch Iwan können sie mit ihren parallelen, obwohl verschiedenen Willen ohne Folgen überschreiten. Die Zensur des rezeptiven Feldes ist durch diesen Schluß bekräftigt, aber auch auf spezifische Weise beschattet. Die äußere Regulation des Sinnes des Ausrufs von Ippolit Kirillowitsch über das Stipendium wird durch die Zensur des rezeptiven Feldes auf diese Weise mit der "inneren" Entwicklung des Sinnes des Romans in der Interpretation in Einklang gebracht. Allerdings wirkt auf der interpretativen Ebene vieles auch gegen diese Zensur. Kurzgefaßt kann dies als der Teil des Motivationsnetzes des Romans beschrieben werden, aus dem hervorgeht, daß Fjodor Pawlowitsch ein schlechter Vater ist und als Mensch überhaupt keine Achtung und kein Mitleid verdient. In der Darstellung des Gerichtsverfahrens wechselt Dostojewskij geschickt dasjenige, was Dimitrij demgemäß zugute kommen und "mildernde Umstände" darstellen kann, mit demjenigen ab, was die Ansicht bekräftigt, daß der Mord des Vaters, sei er noch so schlecht, einfach ein Greuel, ein Verbrechen ist, das ohne Rücksicht auf irgendwelche Umstände durch nichts gerechtfertigt werden kann. In einzelnen Augenblicken scheint sogar das erstere zu überwiegen, unterstützt auch durch entsprechende Erwartungen des "liberalen" Publikums – so etwa die erste Zeugenaussage der Katerina Iwanowna, des Doktors Herzenstube, die erfolgreiche Entlarvung der moralischen Gestalt Rakitins usw. Die "liberale" und "fortschrittliche" Einstellung des Publikums ist kontextuell aber dem Spott ausgesetzt. Nicht nur im Ausruf des Ippolit Kirillowitsch, sondern auch im Ganzen der Darstellung des Gerichtsverfahrens spürt man die Ironie, besonders gegen die "Damen". Eine besondere Rolle spielt dabei die Erzählung über die "kleingläubige Dame" Hochlakowa und ihre Auffassung des "Affekts" und der Schuld – nach ihrem Urteil ist übrigens der Diener Grigorij der Mörder.[38 ]

Auf der anderen Seite sind es die zweite Zeugenaussage der Katerina Iwanowna, der harmlose Glaube Aljoschas und das blinde Vertrauen Gruschenjkas, daß Dimitrij nicht der Mörder ist, was ihm in den Augen der Geschworenen mehr schadet als daß es ihm hilft; auch das Zusammentreffen der Umstände im Ganzen und die Wahrscheinlichkeit, die daraus hervorgeht, wirken hier mit.

Iwans "Zeugenaussage" bleibt dem Publikum und den Geschworenen unverständlich, sie ist im Delirium gegeben und kann nicht in Betracht gezogen werden. Daß sie auf eine gewisse Weise der Wahrheit am meisten nahekommt, ist nur ein Grund mehr, daß sie in der Welt des "Bernardschen" Schließens außer acht gelassen wird.

Der Streit zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger konzentriert sich im wichtigsten Teil der Argumentation auf die Frage: muß ein Vater ohne Berücksichtigung seines Wesens geliebt oder wenigstens geachtet werden? Auch der Staatsanwalt selbst spricht über die Mängel des Fjodor Pawlowitsch und scheut keine Worte der Beschuldigung bei der Schilderung des Streits zwischen Vater und Sohn um Gruschenjka. Aber der Staatsanwalt und der Verteidiger müssen an jenem Punkt auseinandergehen, wo der eine über den Vater spricht und der andere über Fjodor Pawlowitsch als Vater. Bei den Geschworenen wird freilich die erstere Sicht überwiegen, unterstützt von entsprechenden Ideen über Rußland, die – in diesem Zusammenhang – der Staatsanwalt entwickelt und worüber dann auch der Verteidiger seine Meinung vorbringen muß, die selbstverständlich anders ist als die des Staatsanwalts. Fetjukowitsch sagt mit Grund, daß Dimitrij nicht so sehr die Beschuldigung des Mordes trifft: "Aber hier liegt kein einfacher Mord vor, sondern ein Vatermord! Das imponiert, und zwar in einem solchen Grade, daß sogar die Bedeutungslosigkeit und mangelnde Beweiskraft der belastenden Tatsachen nicht mehr so bedeutungslos und nicht mehr so wenig beweiskräftig wird, und das selbst dem am allerwenigsten voreingenommenen Verstand."[39] Seine weiteren Ausführungen jedoch verfehlen das gewünschte Ziel. "Ein solcher Vater wie der ermordete alte Karamasow kann nicht Vater genannt werden und ist dessen unwürdig. Liebe zum Vater, wenn sie nicht durch den Vater gerechtfertigt wird, ist Albernheit, ist eine Unmöglichkeit.'[140 ]Indem er sich auf den Fortschritt beruft, sagt er auch: "Der Erzeuger ist noch nicht der Vater; Vater aber ist, der gezeugt und den Namen des Vaters verdient hat."[41] Dieser Richtung folgend macht Fetjukowitsch immer größere Fehler, wobei er die "Damen" gewinnt (die übrigens schon von vornherein die Befreiung von der Strafe wünschen, obwohl sie glauben, daß Dimitrij wirklich der Mörder ist), aber es ihm nicht gelingt, die Geschworenen zu gewinnen. "Ein solcher Totschlag ist auch kein Vatermord. Nein, die Tötung eines derartigen Vaters kann nicht Vatermord genannt werden! Ein solcher Totschlag kann nur aus Vorurteil als Vatermord gewertet werden!"[42] Die "progressive" Einstellung des Fedjukowitsch hindert ihn nicht, auch zu biblischen Maßstäben zu greifen: "das Evangelium schreibt das vor: mit dem Maße zu messen, mit dem auch uns gemessen wird. Wie kann man die Kinder beschuldigen, wenn sie uns mit unserem Maße messen?"[43] Wenn der Vater seinem Kind nicht beweisen kann, warum es ihn lieben muß, dann ist dies nach den Worten des Fetjukowitsch das Ende dieser Familie, und der Sohn bekommt die Freiheit, "seinen Vater in Zukunft als Fremden und sogar als seinen Feind zu betrachten".[44] Fetjukowitsch versichert freilich, es gäbe keinen Beweis, daß Dimitrij überhaupt getötet habe, aber gemäß seiner Strategie gestattet er dies in einem Moment wenigstens als eine Vermutung, wobei er sich auf die angeführte Argumentation verläßt, daß der Vater "zeugen und verdienen" muß, von der er glaubt, sie an sich reiche schon aus, damit sein Klient befreit wird. Auf diese Weise erleichtert Petjukowitsch dem Ippolit Kirillowitsch die Arbeit: "Wenn aber der Vatermord ein Vorurteil ist und wenn jedes Kind seinen Vater fragen wird: »Vater, warum muß ich dich lieben?« – was soll denn aus uns werden, was wird aus den Grundlagen der Gesellschaft, wohin kommt die Familie?"[45] Einen biblischen Grundsatz: mit dem Maß ihr messet, mit dem wird auch euch gemessen werden, bestreitet der Staatsanwalt mit einem anderen, der gebietet, auch die andere Wange hinzuhalten. Die Logik, nach der es in diesem Fall wichtiger ist, daß der Ermordete Vater ist, als daß dieser Vater der zuchtlose Greis Fjodor Pawlowitsch ist – triumphiert. Dimitrij ahnt richtig, worin der Fehler der Strategie des Fetjukowitsch liegt: "Dank sei auch dem Verteidiger; ich weinte, als ich ihn anhörte, aber es ist nicht wahr, daß ich den Vater getötet habe, und das darf man gar nicht vermuten!'[46]

Der so erkannte Gegenstand des Streits zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger kommt als Thema schon am Anfang des Romans vor, in einer ganz anderen "Tonlage". Dieses Thema kündigt Fjodor Pawlowitsch selbst an: "Hör mal, diesen Räuber Mitjka wollte ich eigentlich heute einsperren lassen, aber ich weiß jetzt noch nicht, wie ich mich entscheiden werde. Gewiß, in unserer modernen Zeit ist es üblich, die Achtung von Vater und Mutter für ein Vorurteil zu halten, aber nach dem Gesetz ist es, glaube ich, auch heutzutage nicht erlaubt, alte Väter an den Haaren zu ziehen und ihnen mit den Absätzen ins Gesicht zu treten, wenn sie am Boden liegen, in ihrem eigenen Hause, und damit zu prahlen, man werde kommen und sie ganz totschlagen – alles in Gegenwart von Zeugen."[47] Etwas früher, in dem Abschnitt "Bei einem Gläschen Kognak" ist im halbbetrunkenen Geschwätz des Fjodor Pawlowitsch noch ein Thema angedeutet, das im rhetorischen Wetteifern zwischen Ippolit Kirillowitsch und Fetjukowitsch eine große Rolle spielt: "Wir prügeln die Bauern nicht mehr, weil wir so gescheit sind, doch sie prügeln sich selber weiter. Mit welcherlei Maß ihr messet, wird man euch wiedermessen, oder wie heißt es doch? ... Kurzum. Maß für Maß. Rußland aber ist eine Schweinerei. Mein Freund, wenn du wüßtest, wie ich Rußland hasse... das heißt nicht Rußland, sondern all diese Laster... doch am Ende auch Rußland. Tout cela c'est de la cochonnerie."[48] – Aus dieser Perspektive bekommt auch der Streit zwischen dem Verteidiger und dem Staatsanwalt über Rußland einen neuen Aspekt. Rußland, bei Gogol personifiziert in der russischen Troika, wird nach der Meinung des Ippolit Kirillowitsch nirgendwohin gelangen, wenn sich nicht etwas Wesentliches ändert: "Aber einmal müssen auch wir unser Leben nüchtern und nachdenklich beginnen, auch wir müssen einmal einen Blick auf uns als Gesellschaft werfen, auch wir müssen wenigstens irgend etwas in unserem gesellschaftlichen Tun vernünftig gestalten oder wenigstens nur damit beginnen."[49] "Und wenn vorläufig noch die anderen Völker vor der wild dahinjagenden Troika zur Seite treten, geschieht das vielleicht ganz und gar nicht aus Hochachtung vor ihr, wie der Dichter es sehen wollte, sondern einfach vor Entsetzen – das merken sie sich wohl!"[50 ]Vor Ausschweifungen, besonders vor ausschweifenden Leidenschaften fürchtet sich Fetjukowitsch nicht. Er sieht das "russische Gericht" nicht als ein strafendes Gericht, sondern appelliert an es, ein Gericht zu sein, das "die Rettung eines verlorenen Menschen", "die Rettung der Verlorenen und ihre Wiedergeburt"[51] ermöglicht. "Nicht die rasende Troika, sondern der majestätische russische Triumphwagen wird feierlich und ruhig sein Ziel erreichen.''[52]

Weder Ippolit Kirillowitsch noch Fetjukowitsch können eine im Rahmen des Romans endgültige Wahrheit aussagen, sei es über die biblischen Grundsätze, sei es über den wahren Sinn des Mordes, über den sie streiten, sei es über Rußland und sein Verhältnis zu den anderen Völkern. Sie können dies nicht, weil sie über dem Leichnam des Fjodor Pawlowitsch streiten, für den all dies, wie der Leser unabhängig von ihren Tiraden weiß, "eine Schweinerei" war; während der Leser die Ausrufe des Staatsanwalts und des Verteidigers, vorgetragen mit falscher oder aufrichtiger Exaltation, verfolgt, muß er auch dieses betrunkene Geschwätz des alten Karamasow stets vor Augen haben, da sich erst mit ihm das Spektrum des Nachdenkens über Rußland vervollständigt. Dostojewskij wünschte keine unzweideutigen Antworten, er verschränkte vielmehr verschiedene Perspektiven. Aus dieser Verschränkung geht die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit vieler Aspekte im Roman hervor. Jedoch die Zensur, die die Instanz des Vaters schützt, bleibt trotz allem Lockernden in Kraft: "Die Bauern lassen sich nichts vormachen". Es ist aber wesentlich, die Kompliziertheit und den Motivationsreichtum wahrzunehmen, die aus dem Streit der intentionalen Wirkung dieser Zensur, der der Leser in jedem Fall unterliegt, und der Intentionalität des Motivationsnetzes, die ihr entgegengesetzt wirkt, hervorgehen. Die Interpretation bleibt kärglich, ja ganz steril ohne Einsicht in diesen Streit.

 

4. Die Lobe der Torheit

Daß den Moralisten und Skeptikern die Ironie vertraut ist, überrascht nicht. Für die einen wie für die anderen ist der Charme, der von ihrer Indirektheit herrührt, anziehend, aber auch ihre Wirksamkeit, die größer ist als jene, die eine ernste, ausschließlich auf den eigenen Gegenstand ausgerichtete Rede ermöglicht.

In dem Maße, in dem die Ironie der Untergrabung dient und in den Dienst der Satire und Kritik, des Spottes und der Rüge gestellt werden kann, wird sie zur Mahnung und Besserung gebraucht. Der Spott, der nicht zu stark oder kränkend ist, kann besser pädagogisch wirken als hehre Predigten und Ratschläge. Der Tadel durch Lob, wie auch scherzhaftes Lob durch Tadel, ist von jeher zu solchen und ähnlichen Zwecken gebraucht worden. Intelligentere Moralisten entbehrten des einen wie des anderen nie.

Die Skeptiker bedienen sich der Ironie, weil man damit auf unersetzliche Weise der wahren Unfaßbarkeit, Mehrseitigkeit und Ambivalenz dessen, worüber man spricht, gerecht werden kann, genauso wie der eigenen Unsicherheit, wie das, was man auszudrücken wünscht, wirklich zu verstehen ist. Das nicht zu Ende Ausgesagte der Ironie, also der Sinn, der durch ihren Effekt schwankend gemacht ist, ist dann der genaueste Ausdruck der Sache selbst.

Anders als bei dem gewöhnlichen Spott, dessen er sich seltener bediente, vermischte Erasmus in dem, worauf sein Spott gerichtet ist, eine entwertende Negierung mit einer verborgenen, nicht anerkannten Positivität, wobei er derart eine Mehrsinnigkeit erschließt, die in der Tiefe der Sache liegt, aber auch tiefliegende Möglichkeiten der Mehrsinnigkeit, die dann erscheint, wenn übliche Ideen und Wertschätzungen, anerkannt als etwas Selbstverständliches, angenagt werden. Mit der entblößten Lüge mischt sich da eine verschwiegene Wahrheit, mit dem Pomp der Vorderseite der Dinge der nicht weniger aufdringliche Pomp der Kehrseite, das offiziell Anerkannte mit dem inoffiziell Akzeptierten, die Kraft mit der Schwäche und die Überschüsse mit den Mängeln, wobei beide immer einer weiteren Überprüfung und Umwertung unterliegen. Der unannehmbaren Unordnung setzt sich die unannehmbare Ordnung entgegen; der Unzulänglichkeit – die Vollkommenheit, die unmöglich, wie auch leblos und matt ist; dem Ernst, der nicht einmal meint, es sei nötig, seine Rechte geltend zu machen – Leichtsinn und Leichtfertigkeit, die ebenfalls ohne jedes Recht auf jeden Fall ihren Platz unter der Sonne einnehmen. Die Würde der Narretei und Dummheit wird nicht nur durch selbstzufriedenen Stumpfsinn und törichten Dünkel, die den Leser zum Lachen reizen, in Schutz genommen, sondern auch durch ein schelmisches Lächeln, das die Weisheit desjenigen verbirgt und enthüllt, der die Narrheit nicht flieht, wenn sie ermöglicht, öffentlich, sei es auch unernst, jenes zu sagen, was ohne sie ernsthaft nicht gesagt werden kann. Die Pose des Hofnarren mischt sich mit der Stellung des Weisen, der Narrheiten treibt. Und was am wichtigsten ist: statt des üblichen ironischen Tadels durch Lob, der dadurch erreicht wird, daß der Leser mit der Unstimmigkeit der Lobaussagen über etwas und der offensichtlichen Wertlosigkeit bzw. dem geringen Wert dieser Sache konfrontiert wird, schreibt Erasmus in dieser Schrift, auf ihre abschließende Botschaft ausgerichtet, eine Reihe ironischer, über Umwege sich bewegender Lobe durch Lob, indem er fast unmerklich die Richtung der ursprünglichen Intention als Negation auf eine eigenartige Bejahung umlenkt. Diese Bejahung wird ebenso derart erreicht, daß man auf die Unstimmigkeit desjenigen, was ausgesagt wird, mit den Eigenschaften, dem Wert oder sogar dem Sein des Ausgesagten verweist; der Kontext, in diesem Fall auch jener weiteste Horizont des Verstehens miteingeschlossen, verweist aber nicht mehr darauf, daß diese Unstimmigkeit als Faktor der stillschweigenden Negation oder wenigstens Relativierung des Sinnes aufgefaßt wird. Ein solches Lob durch Lob wird vermittels und unter Mitarbeit des Sinnpotentials von etwas, was an sich zu tadeln ist, d.h. der Torheit, verrichtet, so daß der Sinn der Affirmation, zu der man derart kommt, andersartig ist, als wenn sie mit mehr oder minder starkem Pathos direkt ausgesagt wird. Eine solche Bejahung ist sinnhaft komplexer und affektiv reicher als die durch nichts vermittelte Affirmation. Sie enthält überholtes Wissen über die Unmöglichkeit und in eine fröhliche Heiterkeit umgeschmolzene Wehmut und Nüchternheit. Die bissige Grimasse und das aggressive Lachen der Kritik löst das Lächeln der Hoffnung ab. Der Satiriker und der Moralist in Erasmus, unzufrieden mit dem Zustand der Welt, tritt am Ende unmerklich, so daß der Leser kaum fühlt, daß eine Änderung eingetreten ist, dem Humanisten den Platz ab, der die "Torheit" des Christentums heraushebt und mit Christus und dem heiligen Paulus frei spielt. Dabei ändert er seine ursprüngliche Position durch den Umstand, daß die Torheit spricht, nicht.

Die Torheit wünscht freilich nicht, klug zu sein, sie schämt sich nicht, zuerst sich und dann auch ihre vielen "Begleiterinnen" zu loben, die von anderen sonst getadelt werden. Im Gegenteil, sie ist sowohl auf sich selbst stolz, als auch auf die Schmeichelei, die Faulheit, den Leichtsinn, die Ausschweifung... Aus diesem ihrem Selbstlob und dem Lobe dessen, was einen Tadel verdient, geht jedoch nicht ein klarer und zumal kein eindeutiger Tadel des zu Tadelnden hervor. Die Ironie des Erasmus dient, außer daß sie die Dinge humorvoll zu beleuchten weiß, auch dazu, ihre Ambivalenz auszudrücken oder einfach zu enthüllen, das Korn des Annehmbaren im Unannehmbaren zu zeigen, wie auch die immer vorhandenen Beeinträchtigungen desjenigen, was als das Beste gilt. Vieles in der Welt ist in einem traurigen und jammervollen Zustand, aber dies kann auch von der komischen Seite gesehen werden. Das Lachen des Erasmus ist fast nie bitter oder sarkastisch. Im Lob der Torheit verweist er, obwohl in sehr verschiedenen Tonlagen, immer auf eine höhere Möglichkeit des Menschen. Dort, wo das Lachen mit einer solchen Aufgabe das Pathos und das mürrische Dozieren ersetzt, halten sich die Menschen gern und lange auf. Deshalb verjährt diese Schrift überhaupt nicht. In ihr gibt es keine Schadenfreude, denn diese ist eigentlich dort, wo wahrer Witz ist, nicht möglich. Allerdings bedeutet das Vorhandensein einer guten Absicht und des Scherzes nicht, daß man die Schatten flieht, die sich in der Wahrheit des Sachverhaltes in der Welt enthüllen bzw. zeigen. Die Ironie schafft sie nicht, sondern potenziert sie nur manchmal; sie ist weder ihre Ursache, noch eine notwendige Folge, aber sie lebt von ihnen. Dort, wo alles Glanz ist, ohne jeden Schatten, und wo der Glaube an die makellose Vollkommenheit herrscht, gibt es keine Ironie, zumal wenn sie auf Spott und Hohn ausgerichtet ist, aber auch nicht jene milde, humorvolle. Das Lob der Torheit des Erasmus ist einzigartig dadurch, daß sich seine Ironie auch auf jenes verbreitet, das sowohl ihm selbst als auch dem allgemeinen Bewußtsein, an das er sich wendet, heilig war, und daß es doch keine Spur von Sakrileg in ihm gibt. Dies war deshalb möglich, weil der Tadel durch das auf die Welt gerichtete Lob in ein durch die Torheit getragenes, an das Christentum gerichtetes Lob übergegangen ist. Nicht alle Zeitgenossen des Erasmus faßten dies so auf, noch waren sie bereit, ein solches Spiel mit heiligen Inhalten hinzunehmen – das Sakrale und die Ironie gingen wahrlich nie Hand in Hand –, sodaß eine derartige Kritik vielleicht ein Grund dafür war, daß Erasmus später abschätzig (aber wirklich aufrichtig? vielleicht wahrhaftig auch aufrichtig?) über diese seine Schrift sprach oder sie verschwieg. Doch es gab derer viel mehr, derentwegen sie immer von neuem zu veröffentlichen war.

So, wie das Lob des zu Tadelnden von seiten der Torheit nicht automatisch ausschließlich als sein impliziter Tadel aufgefaßt werden kann, so kann auch der Tadel des Lobenswerten, den die Torheit ausspricht, nicht als sein implizites Lob verstanden werden. Was ist natürlicher, als daß die Torheit die Weisheit tadelt? Wenn wir lesen, was die Torheit des Erasmus über die Weisheit sagt, werden wir sowohl über die eine als auch über die andere nachdenklich werden. "Das Glück liebt nun einmal die Unvernünftigen, es liebt die Draufgänger und die Leute, die es mit dem Worte halten, »der Würfel sei gefallen !« Das Wissen dagegen macht schüchtern; darum seht ihr überall, daß jene Weisen aus Armut und Hungerleiderei und stickiger Luft nie herauskommen und im Leben nur Verachtung, Mißerfolg und Haß ernten; die Toren aber schwimmen im Gold, sie kriegen das Staatsruder in die Hand, kurzum, sie machen, wo sie wollen, das glänzendste Geschäft".[53] Die Torheit kann es sich erlauben, nicht Gott weiß wie konsequent und kohärent zu sein. Wozu brauchte sie dies? Indem sie die Weisheit zur Ursache der Feigheit erklärt, wird sie auch sagen, daß sie schwerlich überhaupt besteht: "Wer weiß nun nicht, wie verschwindend klein die Zahl der Weisen ist, sofern es überhaupt solche gibt? Aus soviel Jahrhunderten bringen die Griechen ganze sieben zusammen, und ich wette meinen Kopf: sieht man genauer zu, so findet man kaum einen Halb- oder Drittelweisen."[54] Ein kluger Mensch ist nicht weise – dieser Schluß ist der Torheit würdig. Und doch, man muß diesem heiteren und unverbindlichen Plappern gut zuhören: "denkt euch ein Muster von Weisheit [...]. Das wird ein Mann sein, der Kindheit und Jugend zerrinnen ließ ob dem Studium aller Wissenschaften und die köstlichste Lebenszeit mit ewigem Wachen und Grübeln und Arbeiten sich vergällte, aber auch später sein Leben lang nicht ein Schlückchen aus dem Freudenbecher sich gönnte, ein Mann, der allezeit sparsam, arm, vergrämt, verschlossen, gegen sich hart und streng, den Mitmenschen lästig und zuwider, bleich, abgezehrt, krank und halbblind, schon lange vor der Zeit gealtert und ergraut, vor der Zeit aus dem Leben sich davonmacht – was hat es auch zu sagen, wann einer stirbt, der niemals lebte? Das ist das Bild des Weisen!"[55] Der Erwerb der Weisheit erschöpft die vitalen Kräfte, das Lernen wirkt verderblich. Erasmus spottet da selbstverständlich vor allem über sich selbst. Aber außer der Selbstverspottung bedeutet dieser Spott auch einen einzigartigen vitalistischen Widerstand durch Lachen gegen jenes, was das Leben zwecks einiger in der Weisheit und durch die Weisheit synthetisierter "Werte" gefährdet. Dies wird ganz klar, wenn man die folgende Pointe, die ebenfalls die Torheit ausspricht, vor Augen hat. Indem sie auf die augustinische Beschreibung der Existenz anspielt, also das jammervolle Gebären, die mühsame Erziehung, die Gewalttaten, denen die Kindheit ausgesetzt ist, das schwere Arbeiten in der Jugend, die Greuel des Alters und die Grausamkeit des Todes, allerlei Krankheiten, alle Ungemache und Übel, die die Menschen einander antun, folgert die Torheit: "wer all das sähe und sich zu Herzen nähme, würde sich der nicht die milesischen Jungfrauen loben, obwohl sie so kläglich endeten [Anspielung auf den Bericht einer Selbstmordepidemie in Milet]? Welche Leute nun haben am häufigsten den Tod mit eigener Hand herbeigeholt, weil ihnen vor dem Leben ekelte? Waren es nicht die besten Freunde der Weisheit?"[56] Und hier zählt die Torheit "Diogenes, Xenokrates, Cato, Cassius, Brutus" auf. Wie sehr indes war Erasmus eigentlich an ihnen gelegen! Schienen ihm, seien sie auch ganz harmlos, solche Scherze später wirklich irgendwie unangebracht? Oder wurden durch sie nur einige Schatten auf der Wahrheit sichtbar, von denen einige auch sehr dunkel sind; die Schatten des Todes, den die Ironie verdrängt, oder den sie wenigstens hindert, sich als Wert zu etablieren? Wenn das Leben wichtiger ist als alles andere, dann diente ihm diese Ironie des Erasmus tatsächlich. Es bleibt freilich die Frage, ob für den echten Christen das Leben hienieden wirklich das wichtigste ist. Über die blinde Überzeugung, daß dem so sei, spottete Erasmus ebenfalls vom christlichen Standpunkt im Lob der Torheit: die großen und erleuchteten Theologen, sagt die Torheit, stellen auch solche Fragen: "Wird man nach der Auferstehung auch essen und trinken dürfen? – gälte es doch, beizeiten gegen Hunger und Durst sich vorzusehen."[57] Oder sie fragt sich, was von den Menschen zu halten ist, die verschiedenen frommen, aber auch habgierigen oder selbstgefälligen Betrügern vertrauen, die sich "Reichtum, Ehren, Freuden der Liebe und der Tafel, unverwüstliche Gesundheit, langes Leben, jugendfrisches Alter und am Ende im Himmel den nächsten Platz neben Christus [versprechen]; freilich wünschen sie den recht spät einzunehmen; erst wenn die Lust dieser Welt sich ihrer verzweifelten Umklammerung doch noch entwunden hat, dann sollten zum Ersatz jene himmlischen Wonnen beginnen."[58 ] Diese Bemerkungen über die Weisheit macht die Torheit im Lob des Erasmus nicht in der Reihenfolge, wie sie hier dargelegt sind. Aber für die Deutung der Torheit sollte dies keinen ernsteren Mangel darstellen. In dieser Deutung ist Folgendes das Wichtigste: Erasmus spottet unter anderem auch über die Gebundenheit an das diesseitige Leben, um dann sozusagen im gleichen Atem, in demselben Lob, das gänzlich aus unfaßbaren Nuancen und Zweideutigkeiten besteht, noch einiges zu sagen, an dem ihm sehr, ohne irgendwelche Distanz oder Relativiemng, gelegen war. Hier ist wenigstens eines zu unterstreichen: "Die meisten von ihnen tun sich soviel zugute auf ihre Zeremonien und überlieferten Regeln, die doch nur Menschensatzungen sind, daß sie meinen, ein Himmel allein bedeute zuwenig Lohn für solche Verdienste. Daran jedoch denken sie nicht, daß Christus dereinst über all das hinweggehen und nach der Erfüllung seines eigenen Gebotes fragen wird, nach der Liebe."[59] Ja, was zu unterstreichen war, ist unterstrichen. Es gibt keinen Kontext, in dem Erasmus nicht wünschte, daß dies anders aufgefaßt werde als wortwörtlich, so daß auch der Umstand, daß die Torheit es ausspricht, nichts daran ändert. Übrigens, wenn sich die Torheit rühmt "ich nenne wahre Verehrung, daß man mich im Herzen liebe, im Wandel bekenne, im Leben verkörpere; und so tun denn auch meine Leute alle",[60] was würde Erasmus anderes wünschen, als daß das Gleiche gerade vom Christentum gesagt werden könnte. Gerade das Christentum sollten die Menschen überall im Herzen lieben und die Person des Christus in ihrem Wandel bekennen. Ist es töricht zu glauben, daß die Lehre Christi den Platz der Torheit auf solche Weise annehmen wird, sei es auch am Ende der Zeiten? Das Christentum hat das nicht erreicht, was die Torheit, wie sie selbst sagt, geschafft hat. Erasmus führt uns zu seinem Schluß: nicht alle Gestalten der Torheit sind gleich. Es gibt eine, die dasjenige lobt, weswegen man sich schämen sollte, aber auch jene, die einen erhabenen Glauben an die Liebe als Grund aller Dinge erweckt und derart einen weisen Kern im Herzen der allzeit törichten Welt ausmacht. Erasmus tadelt jene ihre erste Gestalt durch sein Lob, aber zweideutig, wie auch ihr Tadel der Weisheit zweideutig ist; die zweite Gestalt bleibt erhaben – die Ironie steht da im Dienst der Verklärung und eines eigenartigen heiteren Ernstes. Das Ganze des Lobes ist dann der Ausdruck eines Bewußtseins, das alles weiß, aber ohne Groll und Verbitterung geblieben ist, – das trotz allem Gründe und Möglichkeiten gefunden hat, so zu bleiben. Was anderes konnte noch in der Zeit des Erasmus erreicht werden, und was könnte man heute mehr erreichen?

l Thomas Mann, Der Zauberberg, GW III, Frankfurt/Main 1974, S. 211 f.

2 ebd., S. 493.

Eugène Ionesco, Notes et contre-notes, Éditions Gallimard 1962, S. 131 ff.

4 Eugène Ionesco, Argumente und Argumente, Werke XI, München 1985, S. 168 ff.

5 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, III, S. 1378.

6 ebd., S. 1380.

7 ebd.

8 ebd., S. 1381.

9 ebd.

10 ebd.

11 ebd.

12 ebd., S. 1381 f.

13 ebd., S. 1383.

14 ebd., S. 1384.

15 Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, München 1980, S. 787.

16 ebd., S. 874.

17 ebd., S. 1000.

18 ebd., S. 994.

19 ebd., S. 908.

20 ebd., S. 790.

21 ebd., S. 784.

22 ebd., S. 790.

23 ebd., S. 818.

24 ebd., S. 825.

25 ebd., S. 830.

26 s. Dragan Stojanović, "Metaphysik und Die Brüder Karamasow", in: Krisis der Metaphysik, hrsg. von G. Abel und J. Salaquada, Berlin – New York 1989, S. 81 ff.

27 Sigmund Freud, Gesammelte Werke XIV, Aus den Jahren 1925-1931, London 1955, S. 413.

28 Die Brüder Karamasow, S. 838.

29 ebd., S. 325.

30 ebd., S. 329.

31 ebd., S. 330.

32 ebd., S. 787.

33 ebd., S. 969 f.

34 ebd., S. 1008.

35 ebd., S. 839.

36 s. Dragan Stojanović, Dostojewski und Thomas Mann lesen, Bern – Frankfurt/M New York 1987.

37 In diesem Kontext ist interessant, was der Erzähler am Anfang des Romans über Fjodor Pawlowitsch sagt: "Er wußte noch nicht recht, was er tun werde, doch er wußte, daß er sich nicht mehr in der Gewalt hatte und beim geringsten Anstoß sofort bis zur äußersten Grenze, bis zu irgendeiner Abscheulichkeit, keineswegs jedoch bis zu einem Verbrechen oder einer verrückten Tat, für die ihn das Gericht bestrafen könnte. Dicht vor dieser Grenze wußte er immer an sich zu halten, und das setzte manchmal sogar ihn selber in Erstaunen." (S. 121).

38 ebd., S. 766.

39 ebd., S. 984.

40 ebd., S. 987.

41 ebd., S. 988.

42 ebd., S. 991.

43 ebd., S. 987.

44 ebd., S. 989.

45 ebd., S. 994.

46 ebd., S. 996; Hervorhebung D. S.

47 ebd., S. 237 f.

48 ebd., S. 185.

49 ebd., S. 920.

50 ebd., S. 958.

51 ebd., S. 992.

52 ebd.

53 Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit (Encomium Moriae, Sive Laus Stultitiae). Studienausgabe Lateinisch und Deutsch, hrsg. von Werner Welzig, Bd. 2, Darmstadt 1975, S. 175.

54 ebd., S. 109.

55 ebd., S. 85.

56 ebd., S. 69.

57 ebd., S. 133.

58 ebd., S. 95.

59 ebd., S. 147. Hervorhebung von mir – D. S.

60 ebd., S. 111.

 


Ironie und Fanatismus

Geht man von dem Standpunkt aus, daß die Deutung des Textes durch die Selbstdeutung desjenigen, der den Text versteht, fortgesetzt wird, daß die Auffassung des sprachlich vermittelten Sinnes in der "Produktion" und Entfaltung eines eigenen Sinnes des verstehenden Subjekts im Ganzen seiner Existenz umgewandelt wird; daß, sagen wir es auch so, jedes Verstehen stets auch ein Weg zum Selbstverstehen ist, – dann ist man berechtigt zu fragen, ob es in dieser Hinsicht etwas Spezifisches gibt, wenn es sich um einen ironischen Text handelt. Und weiter: kann eine allgemeine Bestimmung des spezifischen Beitrags gefunden werden, durch welchen das Verstehen eines ironischen Textes am Selbstverstehen des Lesers teilhat und dieses Selbstverstehen beeinflußt, da die Texte selbst, wie auch die zahlreichen, unvorhersehbaren Kontexte, in denen diese ironisch "erklingen" können, sehr verschieden und die Funktionen der Ironie ebenfalls sehr verschiedenartig sind? Diese Fragen sind im Zusammenhang gewisser grundsätzlicher Probleme zu erwägen, die in Verbindung mit der Ironie in der "Welt der Bedeutung" auftauchen.

Der untergrabende Druck des Kontextes im Verstehen, den das Erscheinen der Ironie voraussetzt und von dessen Vorhandensein sie zeugt, kann als Folge des Zusammentreffens von wirklichem semantischen Material betrachtet werden. Wenn man eine nähere Bestimmung des Zwecks der Ironie erstrebt, muß die Betrachtung sogar auf einzelne Texte in der vollen Konkretheit ihrer kontextuellen Beziehungen und auf die Umstände von Verstehen und Deuten überhaupt gerichtet werden.

Der Blick kann indes auch auf die bloße Möglichkeit der ironischen kontextuellen Untergrabung gerichtet werden. Hier interessiert uns gerade diese Möglichkeit als solche. Nach der durchgeführten Analyse des realen Bedeutungsphänomens fragen wir uns also, welche Folgen der Umstand hat, daß ein solches Bedeutungsphänomen wie die Ironie überhaupt möglich ist. Die Möglichkeit des Erscheinens von Ironie weist darauf hin, daß der Sinn eines jeden Textes fraglich ist, wenn bestimmte Bedingungen des Kontextes und des kontextuellen Informationsgrades desjenigen, der den Text versteht, zusammentreffen. Im Prinzip ist es also immer möglich, daß als mitkonstitutiver Faktor des Textsinnes auch seine – ironische – Suspension erscheint: zur grammatischen und logischen Organisation des verwendeten semantischen Materials tritt in einem solchen Fall der Faktor der "phantomhaft" anwesenden, unausgesprochenen Negation hinzu, die im Verstehen und Deuten das Zurückdrängen des Sinnes bewirkt, manchmal bis zu dessen Umstülpung. Man könnte es auch so sagen: der Sinn des Textes ist auch ohne Verneinung auf der grammatischen oder logischen Ebene in jedem Fall dem potentiellen Druck der Kontexte bzw. dem Druck der potentiellen Kontexte, die ihn ironisch destabilisieren können, ausgesetzt, da gerade der Umstand, daß er in den entsprechenden Kontext geraten kann, seine Untergrabung ermöglicht. Die Möglichkeit von Ironie bedeutet daher, daß in der "Welt der Bedeutung" kein Inhalt sicher ist. Sicherung und Festigung des Sinnes sind nie absolut.

Die Ironie verstehen zu können, heißt, auf die Verbindbarkeit des semantischen Materials von Text und Kontext reagieren zu können, fähig und bereit zu sein, die semantischen Berührungen dieses Materials intentional zu realisieren. Das wiederum bedeutet, das semantische Material des Kontextes zusammen mit dem semantischen Material des Textes spontan umfassen zu können, worunter ein intensives Bewegen des rezeptiven Bewußtseins in verschiedene assoziative Richtungen zu verstehen ist, jedoch nicht derart, daß die assoziative Tätigkeit den erfaßten Sinn schlechthin bereichern würde, sondern so, daß obwohl eine explizite Negation nicht besteht, das Subjekt den Sinn in seinem Zurückweichen auffaßt, in der durch semantische Berührungen beleuchteten Unfähigkeit, sich in seiner Wortwörtlichkeit intentional zu realisieren. Die Möglichkeit der Ironie setzt es als unmöglich voraus, daß sich ein Textsinn dem rezeptiven Bewußtsein endgültig und gegen jede Bedrohung gesichert aufdrängen kann. Die Aufgeschlossenheit für diese Möglichkeit ist auch Aufgeschlossenheit für diese Unmöglichkeit.

Diese Aufgeschlossenheit bedeutet das Bestehen einer spezifischen Fähigkeit und zugleich einer spezifischen Bereitwilligkeit des verstehenden Subjekts. Es handelt sich um die Fähigkeit, sich durch eine Leere zu bewegen, die für das rezeptive Bewußtsein beim Verstehen der Ironie erscheint, um ein Sichzurechtfinden in dieser Leere, in der der erfaßte Sinn schwankt zwischen dem Sein und dem Nichtsein dessen, worauf der Text hinweist bzw. was durch seine Intentionalität gestiftet wird. Die dabei notwendige Bereitwilligkeit des Subjekts ist die Bereitwilligkeit, den schwankenden Sinn gerade als solchen wirklich zu akzeptieren, ohne Rücksicht darauf, ob auf diese Weise Existenz, Wert oder irgendeine Eigenschaft des Textinhalts getroffen wird und was für ein Verhältnis es als Leser zu diesem oder einem solchen Inhalt sonst hat.

Aus dem Gesagten folgt nicht, daß der Sinn eines jeden Textes immer und in jedem Fall instabil und unfaßbar ist. Der daraus zu ziehende Schluß besagt vielmehr: es besteht eine größere oder geringere Wahrscheinlichkeit, daß der Sinn eines Textes untergraben, mit Ironie aufgefaßt wird. An diesem Punkt zeigt sich die Beziehung zwischen Ironie und Zeit oder Ironie und Geschichte.

Ein kontextuell uninformierter oder nicht adäquat informierter Leser ist von keinem Interesse bei der Betrachtung des Verstehens der Ironie, denn der der Ironie eigentümliche Bedeutungseffekt kann in seinem rezeptiven Bewußtsein überhaupt nicht realisiert werden. (Übrigens ist im kontextuellen Informationsgrad stets eine Änderung möglich: bei seiner entsprechenden Steigerung kann sich die Nichtübereinstimmung des neuerkannten oder auf neue Weise erkannten semantischen Materials des Kontextes mit dem Sinn des Textes und die damit verbundene Ironie zeigen.) Wenn jedoch der Leser kontextuell ausreichend informiert und sein rezeptives Bewußtsein ausreichend lebhaft ist, und wenn die Ironie im Verstehen trotzdem nicht erscheint, dann bedeutet dies, daß die für die Ironie unumgängliche Nichtübereinstimmung des semantischen Materials nicht besteht. Aber der Text dauert in der Zeit, so daß man sich im Prinzip immer das Hinzukommen neuer Kontexte vorstellen kann, deren Verstehen gemeinsam und simultan mit dem Verstehen des Textes zu dieser Nichtübereinstimmung führt. Das ironische Ins-Schwanken-Bringen des Textsinnes wie auch die interpretative Richtungsänderung des ironisch schon schwankend gemachten Sinnes betreffen einen identischen Text und dasjenige, was durch diese Identität in ihm semantisch stabil ist.

Das Dauern eines identischen Textes kann auch als sein Eingebettetsein in das Weltgeschehen angesehen werden. Änderungen in diesem Geschehen führen früher oder später zu einem andersartigen Verstehen und Deuten, was von einer möglichen Lockerung oder vom Verschwinden einer Zensur des rezeptiven Feldes bzw. einer Verschärfung oder dem Erscheinen einer anderen beträchtlich beeinflußt wird. Vom Standpunkt der Untersuchung der Ironie indes sind die Änderungen in der Wertschätzung einzelner Texte besonders wichtig. Weder der Wert noch die damit verbundene Autorität eines Textes sind etwas ein für allemal Gegebenes. Bachtin erwähnt den Scherz, der besagt, daß "die alten Griechen von sich selber das Wichtigste nicht gewußt haben: sie wußten nicht, daß sie die alten Griechen sind, und nannten sich selber nie so", und er sagt weiter: "Und tatsächlich hatte diese zeitliche Distanz, welche die Griechen in alte Griechen verwandelt hat, eine ungeheure Transformationsbedeutung: sie enthüllt immer wieder neue Sinnwerte, deren die Griechen nicht bewußt waren, obwohl sie sie selbst geschaffen hatten."! – Die Historizität des Verstehens und Deutens hat nicht nur den Charakter eines Weiterwachsens des Sinnes, sondern auch den Charakter einer Umwertung, in der sich gerade, weil sich die Werte ändern, auch der Sinn selbst ändert. Die zugänglichen Texten der "alten" Griechen wurden von einzelnen Lesern und Deutern im Mittelalter und in der Renaissance unterschiedlich behandelt, und zwar vor allem hinsichtlich der Einschätzung des Ansehens, der Bedeutung und der Autorität der Texte, so daß dann auch Unterschiede in ihren Sinnmöglichkeiten und in der Brauchbarkeit für die Deutung dessen, was diese Möglichkeiten enthüllten, auftraten. Freilich wird das heutige Verstehen und Deuten ebenso wie das unmittelbare Lesen eines antiken Textes in vielem von unserer Behandlung dessen, wie das Mittelalter und die Renaissance mit den Texten der "Alten" umgegangen sind, beeinflußt, sowie von unserer Einstellung zu ihrer Wertschätzung der Antike. Der ironischen Untergrabung sind die Werte des Bedeutungsmaterials am stärksten ausgesetzt; daher wird das Erscheinen der im Verstehen der Ironie stattfindenden intentionalen Brechung gerade durch diese Ändemngen in der Auffassung von Wert und Autorität einzelner Texte besonders beeinflußt.

Die Zeiten ändern sich, und auch die Deutungen ändern sich; andrerseits ändern sich die Zeiten manchmal unter anderem auch deshalb ganz wesentlich, weil sich die Deutungen bestimmter Texte ändern. Mit der Zeit werden einige Texte uninteressant für die Rezeption, so daß sie als "toter Buchstabe" von keiner Änderung des Kontextes beeinflußt werden. Obwohl im Prinzip kein Text ein für allemal dazu verurteilt werden kann, ein "toter Buchstabe" zu bleiben, außerhalb jeglicher Rezeption, hat eine ungeheure Anzahl von Texten, ob sie nun einst mit oder ohne Ironie aufgefaßt wurden, niemandem mehr einen Sinn anzubieten. Das Weltgeschehen kann jedoch auch eine "Auferstehung", die Rückkehr in die Rezeption, bringen, und zwar nicht selten aus ganz anderen Gründen als jenen, aus denen der Text früher gelesen wurde, wobei dann aber die Entdeckung neuer Aspekte seines Sinnes umso wahrscheinlicher ist. Dies kann jedoch eine bloße Möglichkeit bleiben, ohne jemals realisiert zu werden oder zumindest ohne voraussichtliche Realisation. Jedenfalls ist es klar, daß die Beziehungen, durch welche die intentionale Wirkung des Kontextes auf den Text realisiert wird, und seine ironische semantische Latenz, die von diesen Beziehungen abhängt, sich in der Funktion der Ändemngen befinden, die das Weltgeschehen, dem der Text seinen Sinn anbietet, mit sich bringt.

Wie kann der Sinn vor Ironie geschützt werden? Um dies zu erreichen, muß in höchstem Maße die Wahrscheinlichkeit herabgesetzt werden, daß ein bestimmter Text in den Kontexten gelesen und aufgefaßt wird, die im gegebenen Moment seine Inhalte untergraben könnten. Die Reduktion dieser Wahrscheinlichkeit auf den Nullpunkt ist nur theoretisch möglich, trotz aller Mittel zur Sicherung des Textsinnes. Und doch bedeutet dies nicht, daß nicht viel getan werden könnte, um diese oder jene Texte sozusagen widerstandsfähig gegen die Ironie zu machen, so daß sie dann, potentiellem ironischen kontextuellen Dmck widerstehend, lange überdauern. Solch eine Resistenz hängt jedoch nur teilweise von der Art der Formulierung des Textes ab, obgleich diese freilich eine bedeutende Rolle für einen solchen Schutz hat. Der Zweck und der Status des Textes spielen dabei ebenfalls ihre Rolle. Wesentlich indes ist, auf entsprechende Weise die Art des Lesens und Aufnehmens des Textsinnes zu beeinflussen. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Umstand vor Augen hat, daß der Gegenstand eines solchen "Schutzes" meistens die im und durch den Text gegründeten Werte sind, die ironisch untergraben werden könnten. Die ironische Untergrabung der Werte äußert sich auf verschiedene Weisen, als Spott, Hohn oder Lästerung, oft auch kombiniert mit "milderen", humoristischen oder parodistischen Effekten. Wenn man aus welchem Grunde auch immer wünscht, die Verspottung eines Wertes, die Entthronisierung seines Trägers, eine beleidigende Vulgarisierung oder spöttelnde Trivialisierung – und durch Ironie kann all dies und manches mehr erreicht werden, mit verschiedenen Bedeutungsnuancen – nicht zu gestatten, dann muß man auf den möglichen Leser eines bestimmten Textes oder einer bestimmten Art oder Gruppe von Texten einwirken. Hierbei ist nicht an die empirisch häufigen, aber von semantischen und hermeneutischen Standpunkten eigentlich irrelevanten Fälle von Gewalt zu denken, durch welche das Verständnis unmöglich gemacht oder verhindert wird, und auch nicht an die ansonsten interessanten und einer Analyse werten Fälle geplanter und organisierter Verminderung, Verfälschung oder Vereitelung der kontextuellen Kenntnisse, an verschiedene Arten von Vernebelung und Zurückdrängung der für die Ironie relevanten Kontexte. Es handelt sich im Gegenteil um den Schutz, durch welchen die Fähigkeit des Lesers, mögliche semantische Berührungen des Textes mit einem für die ironische Untergrabung geeigneten Kontext intentional zu realisieren, und die Bereitwilligkeit des Lesers, den ironisch schwankenden Text im Verstehen als einen solchen zu akzeptieren, zumal wenn es sich um die Untergrabung eines Wertes handelt, gänzlich vermindert oder – in extremen Fällen – völlig aufgehoben werden. Der Schutz, der hier gemeint ist, besteht in einer spezifischen apriorischen Wertung der Inhalte einzelner Texte. Theoretisch betrachtet, kann eine völlige Resistenz des Textes gegen die Ironie allein durch den völligen Erfolg bei der Aufdrängung dieses apriorischen Wertungsergebnisses erreicht werden. Aber ein solcher Erfolg kann – fügen wir es gleich hinzu –, sogar wenn er in einem Moment erreicht wird, nicht von Dauer sein; über kurz oder lang muß er schon dadurch, daß der Text in der Zeit dauert und in das Weltgeschehen eingebettet ist, in Frage gestellt werden.

Durch die apriorische Wertung gewisser Inhalte kann der Blick des Lesers leicht von den eventuellen kontextuellen Beziehungen, durch welche die ironische Untergrabung geschieht, abgelenkt werden, wenn der Text sich auf die durch diese Wertung geschützten Inhalte bezieht. Sich von solchen Wertungen einnehmen zu lassen, bedeutet durch ein isoliertes Gebiet auf Kosten aller anderen, geringgeschätzten Gebiete geblendet oder sogar völlig verblendet zu sein. Das axiologische Pathos, von dem dies begleitet ist, verhindert innerhalb der "Welt der Bedeutung" die Vereinigung von Text und Kontext im Verstehen, obgleich diese Vereinigung sonst möglich und manchmal sogar wegen der semantischen Berührungen, die de facto bestehen, nötig ist. Auf diese Weise wird das entsprechende assoziative Bewegen des rezeptiven Bewußtseins verhindert und die Auffassung des "eigentlichen", ironischen Textsinnes vereitelt, und zwar so lange, wie der Leser sich unter der Herrschaft solcher apriorischer Wertungen befindet und sich ohne Bedenken, unwiderruflich und das bedeutet in hohem Maße irrational auf die Apriorität der Wertung als unproblematisches Prinzip stützt. Ein Leser, der von diesem axiologischen Pathos des Apriorismus, der apriorischen Wertung, durchdrungen ist, entbehrt sowohl der Fähigkeit als auch der Bereitwilligkeit, die Ironie zu verstehen. Er ignoriert spontan das Bestehen des für das Erscheinen der Ironie nötigen Kontextes, oder er lehnt sogar auch dann ab, die Bedeutungsfolgen des Drucks dieses Kontextes zu akzeptieren, wenn der Text außerhalb dieses Kontextes seinen Zweck oder Sinn verliert; ein solcher Leser ist ein Fanatiker.

Es sei gleich betont: das Erscheinen eines solchen Lesers ist oft der Tatsache zu verdanken, daß die Zensur des rezeptiven Feldes dergestalt entstellt wird, daß sie als Mittel zur Sicherung des Textsinnes gegen willkürliche oder böswillige Deutung umfunktioniert wird zu einem Mittel der Aufdrängung eines gewissen, hinsichtlich des Textes apriorischen Kontextes als dem einzigen, sogar auch gegen eine feststellbare Intention des Textes selbst. Die lange und völlige Undurchdringbarkeit einer derart entstellten Zensur führt zum Fanatismus. Der Fanatismus hat indes auch ein bedeutendes psychologisches Moment, während die hier bestimmte Zensur des rezeptiven Feldes keinen psychologischen, sondern einen objektiv-semantischen Charakter hat. Daher ist die Zensur, mag sie noch so streng sein, selbst nicht zureichend für die Erscheinung des Fanatismus; vielmehr ist es unumgänglich, daß ihre prohibitive Wirkung, und zwar in ihrem entstellten Aspekt, mit der entsprechenden Einwilligung des verstehenden Subjekts in die Unwiderruflichkeit der apriorischen Wertung verbunden wird. Obwohl derselben Zensur ausgesetzt, sind verschiedene Menschen nicht auf dieselbe Weise und in gleichem Maße zu einer solchen Einwilligung bereit, da diese zugleich den Verzicht auf jede Überprüfung des Inhalts in jenen Richtungen bedeutet, die die Zensur des rezeptiven Feldes sonst offen läßt. Eine solche Einwilligung ist die Wurzel der Nichtbereitschaft und Unfähigkeit, im Verstehen die ironische Untergrabung des geschützten Inhalts zu akzeptieren.

Die Zensur des rezeptiven Feldes bedeutet immer die Versperrung des Weges gewisser Assoziationen, die im Verstehen eines Textes erscheinen können. Je enger diese Zensur mit den irrationalen Fixierungen des Lesers auf Werte, von denen er glaubt, daß sie durch nichts und niemals bezweifelt werden können oder dürfen, verbunden wird, desto näher ist sie dem Fanatismus; je mehr die Inhalte (ihre Konstellation einbezogen), welche diese Zensur ermöglichen, einer kritischen Überprüfung in von der Zensur nicht betroffenen Richtungen unterliegen, in desto höherem Maß ist sie ein nützliches und nötiges Mittel für die Regelung und Sicherung des Sinnes.

Die apriorische Wertung, die zu den Grundlagen des Fanatismus gehört, kann als Sakralisierung gewisser Inhalte näher bestimmt werden, als Tabuisierung oder als Kanonisierung ihrer Beschreibung durch Dogmen, deren Wahrheit und Unantastbarkeit nicht bezweifelt werden dürfen, und zwar nicht nur im jetzigen Moment, sondern für "alle Zeiten". Daher stammt auch die völlige Übermacht der irrationalen Momente über die rationalen in der Fixierung des Subjekts, das einen Text auffassen und deuten soll, auf die apriorisch akzeptierten und adoptierten Werte.

Eine Erklärung des menschlichen Bedürfnisses nach Sakralisierung oder Tabuisierung einzelner Inhalte als deren spezifische Wertung und zur Sicherung mancher "Wahrheiten" durch ein Dogma kann auf verschiedenen Seiten gesucht werden. Allem Anschein nach findet sie sich in hohem Maße in einer beständigen und vielleicht unausrottbaren Sehnsucht des Menschen (vielleicht sollte man eher sagen: seinem Bedürfnis) nach einer endgültigen Erklärung des Geschehens, des Lebens in der Zeit, des geschichtlichen Seins – wobei diese Erklärung überhaupt nicht auch "logisch" zu sein braucht (wovon praktisch alle religiösen von Paradoxien wimmernden Antworten auf die "letzten Fragen" zeugen). Ein besonderes Licht auf die Gründe der erwähnten Aspekte der apriorischen Wertung würde die Prüfung ihrer kulturhistorischen und zivilisatorischen Rolle werfen, sowie ihrer verschiedenen Folgen für das soziale und persönliche Leben in einzelnen Zeitaltern und Gesellschaften.

Die irrationalen Fixierungen, auf denen der Fanatismus beruht und durch die er genährt wird, sind oft an ein Eschaton gebunden, mit Bezug auf das man jene mit einer durch nichts getrübten und definitiven Gewißheit geschmückte Erklärung gibt – oder zu geben glaubt. Daher kommt es in eschatologischer Perspektive leicht zur Nichtbeachtung und zu dem verächtlichen Ignorieren der immer bevorstehenden Zukunft, die jedoch gerade auf die Zeitlichkeit hinweist oder richtiger: selbst reine Zeitlichkeit ist.

Die Sakralisierung einzelner Inhalte hat meistens religiösen Charakter, was sich von selbst versteht, jedoch nicht notwendig ist. Als "heilig" werden in gewissen Fällen auch Werte kanonisiert, die nicht im geringsten einen transzendentalen Status haben. Freilich sind in einem solchen Fall diese Werte funktional und nicht ontologisch sakralisiert; im Verstehen übernehmen sie die Rolle und den Namen des Heiligen, anstatt heilig zu sein, aber für den Prozeß des Verstehens und die Beziehung des rezeptiven Bewußtseins zu den einzelnen Kontexten ist diese Unterscheidung von Funktionalem und Ontologischem solange von nebensächlicher Bedeutung, bis eine kritische Reflexion bzw. Selbstreflexion auftritt. Wenn jedoch eine solche Reflexion einsetzt oder auch nur möglich ist, dann gibt es sowieso schon keinen Fanatismus im genannten Sinne. Ein selbstkritischer Fanatiker ist eine contradictio in adjecto. Indem er zu einem solchen wird, hört er auf, dieses zu sein. Die Sakralisierung, die nur die Funktion des Schutzes einiger Werte als heilige und daher unantastbare und ewige beim Verstehen haben soll, erscheint verhältnismäßig oft als Sakralisierung ideologischer Inhalte, die sonst weit entfernt von allem Jenseitigen sind und mit dessen Idee sogar in Konflikt stehen, wobei eine solche "Sakralisierung" manchmal auch gewisser karikaturistischer Eigenschaften nicht entbehrt. Die Sakralisierung im eigentlichen Sinne betont die metaphysische Dimension des betreffenden Textes. Die Problematisierung des Sakralen bedeutet indes nicht automatisch auch die Problematisierung der metaphysischen Dimension. Sie erscheint im Gegenteil häufiger als Häresie denn als Gleichgültigkeit gegen das Meta-physische und als kaltes Räsonieren außerhalb seines Rahmens.

Tabuisierung bedeutet Wertung oder Sicherstellung eines vorausgesetzten Wertes durch kanonisiertes und dauerndes Verschweigen alles dessen, was diesen Wert in Frage stellen könnte. Das Schweigen als Form der Erhaltung der Unberührbarkeit eines Inhalts, als Art von Zurückdrängung eines Durchbrechens dieser Unberührbarkeit durch sinnvolle Artikulation oder Reflexion, muß nicht immer Folge einer Zensur des rezeptiven Feldes sein. Es kann auch "greifbarere" Aspekte haben als organisiertes und auferlegtes Schweigen (das manchmal mit der Zeit unbewußt selbstauferlegt wird), mit dem Zweck, eine unbegründete und unbegründbare Beachtung eines Inhalts zu sichern und zu bewahren, der dann dadurch für irrationale Fixierungen geeignet wird. Solch eine Organisierung und Auferlegung ist meistens an Machtinstitutionen gebunden, welche diese oder jene Interessen vertreten, erhalten oder verteidigen. Dasselbe gilt auch für die Dogmatisierung der Beschreibung einzelner Inhalte, aus der, als endgültig erkannter Wahrheit, auf einen entsprechenden Wert zu schließen ist. In einem solchen Fall besteht eine gegenseitige Verbindung zwischen der Macht der durch sie geschützten Interessen und einer organisierten apriorischen Wertung alles dessen, worauf diese Macht und diese Interessen selbst beruhen und wovon sie abhängen. Durch diese Verbindung wird der spezifische notwendige Konservativismus der Machtinstitutionen erklärt, da diese, indem sie nach einer apriorischen Wertung und Kanonisierung ihrer Resultate trachten und diese Resultate aufzwingen, sich selber reproduzieren und sich reproduzierend nach der weiteren Erhaltung dieser Wertung streben. Dabei schaffen sie stets die Möglichkeit der Erscheinung des Fanatikers, der, bevor er die Institutionen, die Macht, die Organisation und die Gewalt sieht, den geschützten Wert im Auge hat und diesen nicht als Resultat des Wirkens der Institution und seiner organisierten Kanonisierung, sondern als deren Ursache und Grundlage versteht. Diese Verwechslung erklärt auch, warum für die Betrachtung des Verstehens eines Fanatikers die Analyse der Institutionen von Macht und Gewalt im Hintergrund stehen, während sich im Vordergrund die apriorische Wertung befindet, die den Fanatiker inspiriert. In einer kritischen Analyse die Beziehung zwischen Machtinstitution, Interessen und kanonisierten Werten aufzuzeigen und mit dieser Analyse einen Fanatiker zu überzeugen, ist nicht möglich, solange er das bleibt, was er ist.

In den Funktionsrahmen einzelner Machtinstitutionen besteht ein gewisser Spielraum für das Wirken eines kritischen, überprüfenden Geistes, dem zwar an einem feststellbaren Sinn einzelner textueller und nichttextueller Inhalte und deren Erhaltung gelegen ist, der jedoch an kein Heiligtum, Tabu oder Dogma gebunden ist. In einem solchen Fall lassen die Machtinstitutionen eine Möglichkeit für das Wirken des kritischen Geistes offen, um selbst möglichst effektvoll, lang andauernd oder sicher zu wirken. Freilich gilt der Maßstab der Zweckmäßigkeit in diesem Sinne nicht immer, so daß es vorkommt, daß die kritische Tätigkeit zurückgedrängt wird, auch wenn dies für die Machtinstitutionen schädlich ist, oder daß sie im Gegenteil zugelassen, vielleicht sogar gefördert wird, auch wenn sie diese gefährdet, und die apriorische Wertung mit ihren möglichen irrationalen Folgen kann hier bei der zweckmäßigen Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Wert eine bedeutende Rolle spielen. Jedenfalls wird dort, wo der Spielraum für die Bewegung des kritischen Geistes größer ist, die Möglichkeit für das Erscheinen des Fanatismus kleiner sein. In beschränkten Gemeinschaften mit einer geringen Anzahl kultureller Formen und Werten sind die Machtinstitutionen weniger geneigt, in ihren Aktivitäten die praktische Wirkung des kritischen Geistes vorauszusehen und zu ermöglichen, sogar unabhängig von dem Schaden, den sie eventuell selbst dabei erleiden. Daher ist der Fanatismus eher und leichter in solchen beschränkten Gemeinschaften möglich, in denen alles immer klar und einfach ist, und zwar umso einfacher und klarer, je ausgeprägter die Gleichförmigkeit ist und je stärker und unmittelbarer die kulturellen Formeln und Werte an die Machtinstitutionen gebunden sind.

Was bedeutet in diesem Kontext die Möglichkeit des Vorhandenseins des Phänomens Ironie?

Die Erkenntnis, daß das Phänomen der Ironie möglich ist, ist zugleich die Erkenntnis, daß sich der Fanatismus nicht ewig im Zeitgeschehen erhalten kann, obwohl er sich gerade von der Ewigkeitsidee, manchmal einer ganz vulgarisierten, nährt. Die Möglichkeit der Ironie impliziert die Historizität des Textsinnes, aber diese besteht in jedem Fall, auch ohne Ironie; die Möglichkeit der Ironie weist indes auch auf die Historizität prohibitiver Hindernisse für das assoziative Bewegen des rezeptiven Bewußtseins hin, durch welches im Verstehen die ironisch untergrabenden Kontexte einbeschlossen werden. Sie beweist sogar diese Historizität. Mit anderen Worten: sobald Ironie möglich ist, werden Fanatismus und Dogmatismus prinzipiell unhaltbar, obwohl sie häufig faktisch erhalten bleiben. Wie aus allem Gesagten folgt, bleiben sie dadurch erhalten, daß dem rezeptiven Bewußtsein durch gesicherte Zensur des rezeptiven Feldes bzw. irgendeines Aspekts der apriorischen Wertung seines Sinninhalts der Weg in die assoziative Richtung der Kontexte versperrt wird, in denen dank des Faktors der Nichtübereinstimmung des semantischen Materials sichtbar wird, daß der Textsinn zumindest nicht allein im Einklang mit seiner Wortwörtlichkeit aufgefaßt werden muß. Wenn die Ironie möglich, denkbar ist, dann bedeutet dies, daß auch das Bewegen des rezeptiven Bewußtseins in solchen Kontexten möglich, denkbar ist.

In diesem Sinne geht die Möglichkeit der Ironie der Möglichkeit einer kritischen Überprüfung bestimmter Inhalte voraus. Diese Möglichkeit, die einen Spielraum für die Kritik eröffnet, befreit von den Fesseln der irrationalen Fixierungen auf diese Inhalte als heilige, ewige, unantastbare, absolute oder absolut gültige... Ein Wert, über den z.B. ironisch zu spötteln möglich ist, kann nicht absolut sein. Allerdings bleibt er "absolut" für einen Fanatiker, der nicht imstande ist, den Spott und seine wirkliche Bedeutung zu spüren und ihn in dieser wirklichen Bedeutung zu akzeptieren. Eine Sache ist es freilich, den ironischen Spott zu verstehen und doch bei dem Wert, auf den er gerichtet ist, zu verbleiben, oder auf die Ironie negativ zu reagieren, also eventuell auch mit der Verteidigung des Wertes, an dem man festhält, zu erwidern, und eine ganz andere, überhaupt nicht bereit zu sein, den ironischen Sinn als ironischen aufzufassen, ihn adäquat intentional zu realisieren.

Es ist wichtig zu erwähnen, daß die Ironie nicht durch logische Ausführung, Beweisbeschaffung oder ausdrückliche und begründete, mit klaren Prämissen fundierte Widerlegung negiert. Die Ironie ist in ihrer untergrabenden und bestreitenden Wirkung immer mittelbar, oft unbestimmt; indem sie aus etwas Unausgesprochenem hervorgeht, realisiert sie sich im Verstehen als etwas nicht zu Ende Gesagtes. Daß durch sie gerade deshalb unter bestimmten Umständen beim Überzeugen des Lesers von demjenigen, was das Ziel der Strategie des Textes ist, bessere Resultate erreicht werden als durch eine begründete Beweisführung, verbessert weder, noch verschlechtert es etwas an ihrer Natur. Als Möglichkeit indes bedeutet die Ironie, daß eine Kritik, die sich der Logik, der Beweise, der Analyse bedient, ebenso wohl möglich ist, daß die irrationalen Fixierungen durch logische Argumentation "durchbrochen" werden können, da sie schon durch die kontextuelle Untergrabung angegriffen sind. Das, was nicht ironisiert werden kann, entzieht sich der Analyse und drängt sich ohne Beweise oder begreifbare Gründe auf, wobei es sogar als eigenen Vorteil hervorhebt, daß Beweise, Gründe (oder vielleicht sogar Rechtfertigungen) überhaupt nicht nötig seien. Der Wert wird a priori anerkannt, aber auch aufgedrängt. Die Verblendung durch einen absoluten Wert, Heiligkeit, Wahrheit, durch die selbstverständliche Unantastbarkeit, die in eine unantastbare Selbstverständlichkeit übergeht, verlangt und gibt keine Gründe oder Beweise, noch beruht sie darauf. Damit eine kritische Analyse möglich wird, muß diese Verblendung nachlassen. Ein sicheres Zeichen, daß dies geschehen ist, daß es sie vielleicht überhaupt nicht mehr gibt, ist die Möglichkeit, dasjenige zu ironisieren, was sie hervorruft, und die Ironie so, eben als Ironie, auch aufzufassen. Für denjenigen, der imstande ist, die Ironie zu verstehen, sind die Horizonte einer kritischen Betrachtung der von der Ironie betroffenen Inhalte offen, unabhängig davon, ob er eine solche Betrachtung vielleicht nie durchführen oder ihr bei jemand anderem verstehend folgen wird. Die Ironie ist dem axiologischen Pathos der apriorischen Wertung entgegengesetzt. Sogar wenn es sich um das Erhabenste handelt, stellt sie eine Möglichkeit dar, die Grenzen zu erweitem und den Weg zu öffnen zu der Idee jenes destruktiven Korns, aus dem die Komik keimt, und jener Dinge, die eine Negation bedeuten oder hervorrufen können, wobei sich eine solche Idee nicht in eine klare Behauptung kristallisiert, durch welche die Negation ausgedrückt würde. Die Ironie besteht aus verschiedenen Formen einer unbekümmerten Bestreitung, einer Bestreitung, die nicht bis zu Ende geführt wird. Es ist eine "Bestreitung", wenn man auf die Negation verzichtet, aber auch auf diesen Verzicht.

Dem Ironiker ist nicht so sehr an den klaren Rechnungen der Logik gelegen als vielmehr an einer Verzweigung der assoziativen Wege des rezeptiven Bewußtseins, an der Weite und Fülle verschiedener Kontexte in der "Welt der Bedeutung". Lebhaftigkeit und nicht Exaktheit im Verstehen, das ist die Devise, unter der sich der ironische Sinn entfaltet.

Für eine allgemeine Bestimmung des spezifischen Beitrags, den das Verstehen eines ironischen Textes zur Selbstdeutung des Lesers gibt, muß an die Struktur des Verstehens überhaupt erinnert werden. Das Subjekt steht in einem doppelten Verhältnis zum Text: das Lesen ist einerseits ein Verstehen-Erkennen des durch den Text fixierten Sinnes und andrerseits ein Verstehen-Erweitern des Textsinnes[2], das vom eigenen Wissen und der Erfahrung des Lesers geführt und beeinflußt wird. Dieses zweite Moment ist, sagen wir es so, die Schwelle, von der man sich in die Deutung begibt. Die Leistung, dem Wortlaut des Textes zu folgen, verbindet sich mit dem selbständigen Willen bzw. dem Eigenwillen des Lesers. Ohne jenes erstere gibt es kein Verstehen, keine intersubjektive Kommunikation und keine Deutung. Die Grenzen der Besonderheit einer bestimmten Lesart sind weder ganz fest noch klar bestimmbar, prinzipiell jedoch kann man sagen, daß das Moment des Herauslesens und Erkennens das Moment des Hineinlesens und Erweiterns überwiegen müßte und also auch der Deutung Richtung und Ton geben sollte. Dies gilt freilich unter der Voraussetzung, daß man das Bedürfnis gelten läßt, den Text wirklich zu verstehen, so daß der Leser sich seinem Sinn öffnet und das Lesen ein Herantreten des Lesers an den Sinn darstellt (was nicht auch ein Akzeptieren und Billigen bedeuten muß).

Der Fanatiker ist völlig und bedingungslos für den Textsinn aufgeschlossen, der durch die apriorische Wertung seines Inhalts geschützt ist. Er gibt sich diesem Sinn hin, überläßt sich ihm, identifiziert sich mit ihm, er erkennt unweigerlich die Herrschaft dieses Sinnes über sich an und deutet sich selbst als dessen Träger, Vertreter, Beschützer, als dessen Verkörperung in der Welt außerhalb der "Welt der Bedeutung". Beim Lesen geheiligter Texte entdeckt er immer von neuem sich selbst als ein durch sie ebenfalls geheiligtes Wesen, gleichviel ob es sich um Trunkenheit durch die Wahrheit, um ein Heiligtum, ein utopisches Projekt oder vielleicht um die überlieferte Tradition handelt. Eine solche Hingabe und Ergebenheit an den Sinn ist von der strengen Beachtung der Wortwörtlichkeit des Textes zu unterscheiden. Ein strenges Verbleiben auf der Trasse der Buchstäblichkeit muß nicht von irrationalen Fixierungen begleitet sein, die ihren Ursprung in der apriorischen Wertung haben und deren Äußerungsweise das Gefangensein in der Nichtfragwürdigkeit ist. Von irrationalen Fixierungen kann erst gesprochen werden, wenn man um jeden Preis die ironische kontextuelle Untergrabung verwirft und wenn die Wortwörtlichkeit durch das Ignorieren aller möglichen potentiell untergrabenden Kontexte unantastbar wird.

Der Fanatiker kann sich auch selbst der Ironie bedienen, aber nicht, wenn es sich um Inhalte handelt, an die er durch die apriorische Wertung irrational gebunden ist.

Ein fanatischer Dogmatiker engagiert sich im Kontakt mit dem geschützten Text mehr im Erkennen des Sinnes als in dessen "Erweitern". Das Erweitern kann als Schwelle der Interpretation immer auch die Schwelle der freien Interpretation sein, ein Ausdruck der Freiheit des Lesers und seines selbständigen, im Verstehen vom Text verhältnismäßig freien Willen zum Sinn. Dies besagt, daß in der Sphäre der Auslegung verschiedener Deutungen immer die Gefahr der Häresie, des Revisionismus, eines unkontrollierten oder der Kontrolle nicht unterliegenden "Freigeistes" drohen kann, ja sogar solcher Auffassungen des Textes, die man als Wahnsinn wird erklären müssen und entsprechend zu behandeln hat.

Im Verstehen der Ironie ist im Gegenteil, der Natur der Sache nach, immer auch der Kontext intentional wirksam, seine Evokation, seine Einbeziehung durch Allusion, das destruierende "Erweitern". Der Leser muß dem Sinn eines ironischen Textes zurückhaltend begegnen, sein Herantreten an den Sinn eines solchen Textes ist immer zugleich ein Fortgehen zu einem anderen Sinn, der mittelbar – denn er ist mittelbar anwesend – die Wortwörtlichkeit des im rezeptiven Bewußtsein unmittelbar Gegenwärtigen in Frage stellt.

Wenn der Weg des Subjekts zu sich selbst ein Umweg ist, der über die Sinngebilde führt, in denen die Existenz sich selbst als eine irgendwie bestimmte Existenz findet, dann wird im Fall des Fanatismus an den Sinn herangetreten, um sich mit ihm zu identifizieren; an den ironischen Sinn jedoch wird gerade herangetreten, um von ihm distanziert zu bleiben; das Verstehen der Ironie ist die Erhaltung dieser Distanz. Derjenige, der sich selbst vermittels des gefundenen, begriffenen Sinnes versteht, verzichtet auf die eigene Verwurzelung in diesem Sinn, wenn er zugleich gegeben und vorenthalten wird, wie es gerade bei dem ironischen Sinn der Fall ist. Die Selbstdeutung des Menschen hängt freilich nicht ausschließlich von dem Sinn ab, an den er herantritt, oder von den Texten, die er vorfindet und versteht, sei es, daß sie ihm irgendwie aufgedrängt wurden, sei es, daß er sie selbst wählt, zufällig trifft oder sogar selbst schafft; seine Selbstdeutung hängt vom Ganzen seiner Praxis ab. In dem Maße indes, in dem der Mensch ein lesendes Wesen ist und als solches ein erkennendes Wesen, ist die Rolle der Texte, die verstanden und gedeutet werden, bei seiner davon herrührenden Selbstdeutung entscheidend.

Ohne Rücksicht auf den Zweck der Ironie in einem konkreten Fall ist die allgemeine Bestimmung des Beitrags, mit dem das Verstehen eines ironischen Textes an einer solchen Selbstdeutung teilhat, die Ablenkung von der Verwurzelung in dem Sinn eines solchen Textes und von der Fixierung auf diesen sich entziehend-gegenwärtigen Sinn. Der Fanatiker ist völlig stabil in dem Sinn, der ihm eingeprägt ist oder den er selbst aus dem Text, dessen Werte für ihn keinem Zweifel unterliegen, herausgelesen hat, und zwar deshalb, weil er in diesem Sinn verwurzelt ist. Er lebt mit diesem Sinn, indem er von ihm lebt, so daß ein Untergraben des Sinnes oft das Untergraben des Lebens selbst bedeutet. In Kontakt mit dem Sinn verbleiben, indem man die Ironie versteht, heißt, eine Orientierung in der "Welt der Bedeutung" zu behalten, heißt jedoch nicht, auch bei der Selbstdeutung in einem derart aufgefaßten Sinn verbleiben zu wollen. Wenn das Ich erkennt und während es erkennt, bildet es sich in der Selbstdeutung zuversichtlich als ein Wesen in der Zeit dank der Klarheit des Textes, der klaren Bestimmtheit der Intention. Gerade diese Bestimmtheit macht eine solche Tätigkeit des Ich möglich. Die ironische Schwankung des Sinnes verleitet nicht zu der Entscheidung, auf der Wortwörtlichkeit des Gelesenen zu beharren, und sie beseitigt völlig die Idee einer radikalen existentiellen Fixierung auf dessen Inhalt. Freilich verleitet sie auch nicht – das ist für das Verstehen der Ironie wesentlich – zur Hinwendung zu dem dem wortwörtlichen Sinn Entgegengesetzten: die Wirksamkeit des bestreitenden Elements der Ironie steht nicht endgültig im Dienst der Negation oder der Negation der Negation, sogar auch dann nicht, wenn der Zweck der Ironie klar erkennbar ist, etwa Hohn, Ausdruck der Verachtung oder ähnliches. Die Lebhaftigkeit im Verstehen der Ironie sichert nicht eine Stabilität, wie es die Logik tut, noch weniger sichert sie die für den Fanatismus charakteristische Verwurzelung; sie bietet keinen Anhaltspunkt für einen speziellen und priviligierten Inhalt, noch unterstützt sie irgendwelche definitiven Garantien. Daher ist die Ironie so häufig mit Heiterkeit verbunden, die ihrer Aufgeschlossenheit und Unsicherheit entstammt, der Aufgeschlossenheit für die Unsicherheit... Daher kommt andrerseits die Düsterkeit des Fanatismus, die seiner Verschlossenheit in der erworbenen Gewißheit und der Verwerfung der Ungewißheit entstammt, der Unnachgiebigkeit gegenüber Änderungen und der Wächter-Strenge, die den Wert schützt... Indem die Ironie den Sinn untergräbt, macht sie ihn morsch. Neben der Ablenkung von der Verwurzelung des Lesers in dem ironischen Sinn ist vielleicht ihre zweite wesentliche Wirkung, daß sie die Erfahrung der Morschheit des Sinnes überhaupt ermöglicht, die allmählich kommt, mittelbar und unmerklich, die der Fanatiker mit Haß ablehnt, die jedoch einen wichtigen Bestandteil der in der Zeit erreichbaren Weisheit darstellt.

l Michail Bachtin, Estetika slovensnogo tvorčestva, Moskva 1979, S. 333. (Meine Übersetzung – D. S.).

2 Hierzu analog wird bei Ingarden über "Rekonstruktion" und "Konkretisadon" gesprochen. Siehe die Analyse der damit verbundenen Probleme auf der hermeneutischen Ebene in: Eric Donald Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972.

Belgrad, 1984

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